Bessere Versorgung im Hausarztsystem

Während in Österreich seit Jahren die Spitalslastigkeit des Gesundheitswesen, unnötige Kosten durch im System ungeleitet herum irrende Patienten und Defizite in der Primärversorgung beklagt werden, sieht die Situation im deutschen Bundesland Baden-Württemberg mit der „Hausarztzentrierten Versorgung“ (HZV) anders aus. Eine wissenschaftliche Studie des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann-Goethe-Universität (Frankfurt) und der Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung an der Universitätsklinik Heidelberg hat ergeben, dass in Baden-Württemberg pro Jahr 4.500 weniger Spitalseinweisungen, 250 weniger Hüftgelenksfrakturen und um 100 Euro geringere Arzneimittelkosten bei HZV-Patienten als bei nicht in dem System eingetragenen AOK-Versicherten entstehen.
Der Hintergrund: Mit 1. 10. 2008 trat in dem Bundesland der Vertrag zwischen der AOK Baden-Württemberg und der „Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft“ (Mediverbund AG) in Kraft. 1,25 Millionen Patienten haben sich bisher freiwillig einschreiben lassen. 3.800 Hausärzte inklusive 230 Kinderärzte nehmen daran teil. Die AOK wendet für das System pro Jahr rund 300 Millionen Euro zusätzlich auf. Die Abrechnung erfolgt zum größten Teil über Pauschale: 65 Euro pro HZV-Patient und Jahr, zusätzlich pro Quartal bei Arztkontakt 40 Euro, 25 Euro Zuschlag bei chronischen Patienten pro Quartal und gewisse Einzelleistungen (Prävention, Zusatzqualifikationen, Ergebnisqualität, speziell geschulte Versorgungsassistentinnen/VERAH).
Die Patienten binden sich mindestens zwölf Monate an den gewählten Hausarzt. Sie verpflichten sich, Fachärzte nur nach Überweisung zu konsultieren (ausgenommen Augenärzte, Gynäkologen und Notfallsdienste). Dafür gibt es verbesserte Vorsorge- und Früherkennungs-Check-ups, auch für Kinder und Jugendliche, Zuzahlungsfreiheit bei vielen Arzneimitteln etc.
Die Ärzte wiederum können viel einfacher abrechnen, sind als Hausärzte Mittelpunkt der Patientenversorgung. Auf der anderen Seite müssen sie eine apparative Mindestausstattung aufweisen, an den Disease-Management-Programmen teilnehmen können (EDV) und bestimmte Ausbildungsqualifikationen haben: psychosomatische Grundversorgung, mindestens vier Qualitätszirkelsitzungen pro Jahr in Pharmakotherapie, zwei Fortbildungen pro Jahr für hausarzttypische Behandlungsprobleme etc. Eine Abendordination (bis 20.00 Uhr pro Woche) sowie bei Terminvergabe die Begrenzung der Wartezeit auf 30 Minuten (so möglich).
Dazu Dr. Reinhold Glehr, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Familien- und Allgemeinmedizin (ÖGAM): „Wir sind zu dem System in Baden-Württemberg sehr positiv eingestellt. Das ist ein gutes Konzept einer abgestuften Versorgung, die den Patienten nützt und auch eine finanzielle Wertschätzung für die Hausärzte ausdrückt.“
Positiv sei, dass man auch Fachärzte einbinde. „Das Patienteninteresse für das System ist in Baden-Wüttemberg sehr groß und funktioniert noch dazu auf freiwilliger Basis.“

„Besser wird’s – ob’s billiger wird?“

„Solche hausarztzentrierten Systeme finden bei den Kollegen Anklang. Vieles spricht für ein solches System. Für die Patienten wird die Versorgung besser. Ob’s auch ‚billiger‘ wird, wird sich erst herausstellen“, sagte der stellvertretende Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der Oberösterreichischen Ärztekammer, Dr. Wolfgang Ziegler. Was man an Krankenhauseinweisungen und weniger Medikamenten spare, werde man wohl in die „Zuwendung“ investieren müssen. Für den oberösterrreichischen Allgemeinmediziner ist das angebliche Prinzip der „freien Arztwahl“, auf das die österreichische Gesundheitspolitik pocht, eher eine Ausrede: „Man bindet sich in einem Hausarztsystem ja nur für eine gewisse Zeit. Die freie Arztwahl ist ja im Spital auch nicht immer gegeben.“
Blieb die Frage, ob das System auch etwas bringt. Genau das hat ein Autorenteam unter Prof. Dr. Joachim Szecsenyi (Heidelberg) und Prof. Dr. Ferdinand Gerlach (Frankfurt) für die Jahre 2011 und 2012 untersucht. Hier die Ergebnisse, besonders positiv für chronisch Kranke:

  • Die Hausarztkontakte waren bei Patienten, die an dem System teilnehmen und deren Daten analysiert wurden (611.000 Personen), um 16,6% (plus 3,75 Kontakte pro Jahr) im Vergleich zu Nicht-HZV-Patienten (577.000) intensiver.
  • HZV-Patienten wiesen eine um 39,3% geringere Häufigkeit an Facharztüberweisungen auf.
  • Die Häufigkeit von Facharztkonsultationen ohne Zuweisung vom Hausarzt sank um 20,5%.
  • Die Hospitalisierungsrate reduzierte sich um 2,95%.
  • Vermeidbare Krankenhauseinweisungen gingen um 5,34% zurück.
  • Die durchschnittlichen Medikamentenkosten im niedergelassenen Bereich pro Versicherten in Bruttopreisen war bei den HZV-Teilnehmern um 8,38% geringer (1.411 vs. 1.361 Euro pro Jahr).
  • Besonders deutlich war die geringere Pharmaquote bei den jüngeren Versicherten. Der Unterschied bei den Kosten betrug bei den 20- bis 29-Jährigen rund 260 Euro (2012), bei den 70- bis 79-Jährigen aber auch rund 130 Euro im Jahr.

Rundum zufrieden

„Die HZV setzt in der ärztlichen Versorgung auf den Teamgedanken und hat den Tanker Gesundheitswesen langsam, aber sicher auf einen neuen, vielversprechenden Kurs gebracht“, so die beiden Leiter der Studie, Gerlach und Szecsenyi.
„Dieses Ergebnis ist nicht zufällig“, so Szecsenyi, „es ist die Folge der viel intensiveren Beziehung zwischen HZV-Arzt und Patient. Die Pharmatherapiekosten im ambulanten Bereich waren für die HZV-Versicherten pro Jahr und Patient schon ohne Rabattberücksichtigung über 100 Euro geringer als in der Regelversorgung.“

Von Patienten geschätzt –Keine Selektion „Gesunder“

Für Gerlach ist die Zufriedenheit der Patienten in dem HZV-System mindestens genauso ausschlaggebend: „Eine stabile, kontinuierliche, auf eine langfristige Arzt-Patienten-Beziehung angelegte hausärztliche Versorgung der Versicherten wird nachweislich gestärkt. Die HZV-Patienten nehmen diese Veränderungen positiv wahr und schätzen es, dass auch die Informationen aus Facharztbehandlungen beim Hausarzt zusammenlaufen. HZV-Praxen betreiben ein konsequentes Patientencoaching und entwickeln sich so zur Teampraxis.“
Dabei wirkt sich in dem hausarztbasierten System in Baden-Württemberg die intensivere Betreuung der Teilnehmer durch den Hausarzt insgesamt aus. Szecsenyi: „Die HZV-Ärzte selektieren nicht junge und gesunde Versicherte, sondern betreuen einen überdurchschnittlich hohen Anteil von chronisch Kranken und Älteren. Sowohl die Morbidität der Patienten ist in der HZV höher als auch das durchschnittliche Alter.“
In Österreich gibt es eine anhaltende Vorsorge- und Disease-Management-Misere, hingegen zeigte sich in Baden-Wüttemberg seit 2008 eine deutlich höhere Frequenz bei vergleichbaren Aktivitäten. „Die Teilnahmequote bei chronisch kranken HZV-Patienten liegt für die wichtigen Programme für chronisch Kranke (DMP) Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit und COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung) ein Vielfaches über der Regelversorgung: Unter den älteren Patienten mit Diabetes werden in der HZV beispielsweise 74% eingeschrieben, in der Kontrollgruppe lediglich 50%“, stellte Prof. Gerlach fest.
Und ein Beispiel aus der Arzneimittelverschreibung: Für ältere HZV-Patienten werden um 20% weniger Neuroleptika außerhalb der zugelassenen Indikationen verschrieben. Des Weiteren werden für diese HZV-Patienten auch um ein Viertel weniger häufig Sedativa länger als sechs Wochen rezeptiert.

Auch Krankenkasse zufrieden

„Die AOK investierte allein 2013 insgesamt über 300 Millionen Euro in den Hausarztvertrag, weil wir wissen, dass das insbesondere unseren Versicherten zugute kommt“, so der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Dr. Christopher Hermann. Die AOK Baden-Württemberg sehe sich bestätigt.
Hermann weiter: „Dass überflüssige Kosten vermieden und Falschversorgung abgebaut wird, ist das eine.“ Hier werde auch der Beweis geliefert, „dass bessere Patientenversorgung und Wirtschaftlichkeit – richtig gemacht – zwei Seiten einer Medaille sind.“ In Österreich wird hingegen die freie Arztwahl als „Heilige Kuh“ von der Gesundheitspolitik hochgehalten. „Wird damit eine schlechtere Patientenbetreuung riskiert?“, darf wohl gefragt werden.