Blutbild im Blick

Blutbildveränderungen – häufig gesehen, oft unterschätzt

In der allgemeinmedizinischen Praxis zählt die Kontrolle des Blutbildes zu den Routinen, die täglich über Diagnosen entscheiden – oder darüber hinwegtäuschen. Während manche Veränderungen unkritisch und reversibel erscheinen, verstecken sich hinter auffälligen Werten nicht selten systemische Erkrankungen oder maligne Prozesse. Der erste Blick auf Hämoglobin, Erythrozyten, Leukozyten oder Thrombozytenzahlen mag auf einen harmlosen Eisenmangel oder eine bakterielle Infektion, Reize durch Noxen wie Tabak oder allgemeine pathologische Lebenssituationen wie Adipositas hinweisen, doch nicht selten beginnt dort auch der Weg der Patient:innen in die Hämatologie.

In Wien leben aktuell rund 160.000 Menschen mit Veränderungen des Blutbildes. Bei der überwiegenden Mehrheit – etwa 150.000 Patient:innen – beruht die Ursache in der Regel nicht auf dem Vorliegen einer hämatologischen Grunderkrankung, sondern auf allgemeinen internistischen, entzündlichen oder funktionellen Störungen. Nur etwa 10.000 Betroffene leiden an spezifischen hämatologischen Neoplasien oder chronischen Bluterkrankungen. Gerade für diese vergleichsweise kleine, aber vulnerable Gruppe ist die Abklärung in einem Fachzentrum äußerst sinnvoll.

Häufig lösen Auffälligkeiten im Blutbild Verunsicherung aus, die einer raschen und effizienten Abklärung bedürfen. Traditionsgemäß werden Menschen mit Auffälligkeiten im Blut vom niedergelassenen Bereich zur weiteren Abklärung direkt zu hämatologischen Zentren geschickt. Diese Zuweisung sollte jedoch gezielt erfolgen, um unnötige Budgetkosten zu vermeiden. Ein Großteil der aus dem niedergelassenen Bereich zugewiesenen Patient:innen wird zur die Abklärung von Anämien, auffälligen Leukozytenkonstellationen, reaktiven Thrombozytenveränderungen sowie vergrößerten Lymphknoten vorgestellt. Gerade deshalb kommt den hämatologischen Spezialambulanzen im extramuralen Bereich eine zentrale Schnittstellenfunktion zu: Sie entlasten nicht nur die hochspezialisierten stationären Zentren, sondern ermöglichen auch niederschwellig eine rasche, strukturierte Abklärung – im Interesse der Patient:innen, aber auch als Garant für eine effizient arbeitende Versorgungslandschaft.

Unsere Erfahrung zeigt, dass bei Fällen, die vom niedergelassenen Bereich nicht rasch an geschulte Hämatolog:innen zugewiesen werden, häufig unnötige Untersuchungen durchgeführt werden, die letzten Endes kostspielig und belastend sein können. Der Bogen spannt sich von FACS-Analysen bei Patient:innen mit raucherbedingter Leukozytose bis hin zu Gastroskopien bei Patient:innen mit einer klassischen Eisenmangelanämie. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Blutbild in der Allgemeinmedizin zu Recht als Spiegelbild der Inneren Medizin verstanden werden kann und Hämatolog:innen somit häufig als Sherlock Holmes in der Inneren Medizin fungieren sollten.

Der Hämatologieverbund Wien

Nur etwa 1 von 20 Patient:innen mit Blutbildveränderungen weist letztlich eine spezifische hämatologische Erkrankung auf. Um diese Menschen bestmöglich zu versorgen, existiert seit 2013 in Wien der Hämatologieverbund der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), der eine strukturierte intra- und extramurale Versorgung aus einer Hand für hämatologische Patient:innen gewährleistet. Ausgehend vom Hanusch-Krankenhaus wurde ein Netzwerk aufgebaut, das heute mehr als 10.000 hämatologische Patient:innen pro Jahr betreut – mit Fokus auf differenzierte Diagnostik, effiziente Versorgung und enge Zusammenarbeit mit niedergelassenen Allgemeinmediziner:innen. Der Verbund umfasst mehrere Spezialambulanzen in den Gesundheitszentren der ÖGK (Landstraße, Mariahilf, Floridsdorf und Favoriten) sowie die stationäre Einheit im Hanusch-Krankenhaus (HKH). Wichtig ist die abgestufte Versorgungslogik: Während Anämien, reaktive Blutbildveränderungen und chronische hämatologische Erkrankungen gut extramural in den Gesundheitszentren betreut und gegebenenfalls an die zuweisenden Ärzt:innen rücküberwiesen werden können, liegt die Versorgung akuter Leukämien oder aggressiver Lymphome zentral im stationären Bereich des HKH. Durch die enge Anbindung der Spezialambulanzen an das HKH entsteht ein durchlässiges System, das eine kontinuierliche, individuelle Patientenführung erlaubt. Für die Allgemeinmediziner:innen bedeutet das: klare Ansprechpartner:innen, kurze Wege und diagnostische Sicherheit.

Störungen der Eisenhomöostase – Differenzialdiagnostik

Die Anämie zählt zu den häufigsten Blutbildveränderungen weltweit – in Wien betrifft sie etwa 110.000 Menschen. Doch Anämie ist nicht gleich Anämie: Die klassische Eisenmangelanämie beruht auf einem verminderten Eisenspeicher im Körper („Konto leer“), beispielsweise durch unzureichende Zufuhr, Blutverlust oder erhöhten Bedarf. Demgegenüber steht die Anemia of chronic Disease (ACD), die besonders häufig bei chronisch entzündlichen Erkrankungen, Tumoren oder Infektionen auftritt. Anders als beim absoluten Eisenmangel ist das Eisen im Körper vorhanden, aber biochemisch nicht verfügbar, sodass man von einem funktionellen Eisenmangel spricht („Konto voll, Karte gesperrt“). Die ACD zeigt initial oft ein normozytäres, normochromes Bild. Ferritin ist häufig normal oder erhöht, die Transferrinsättigung vermindert, CRP deutlich pathologisch (Tab.).

Tab.: Differenzialdiagnostik der Eisenmangelanämie

Therapeutisch stehen hier nicht Eisenpräparate, sondern die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund. Weitere Formen der Anämie können und sollen durchaus in den hämatologischen Zentren abgeklärt werden und sind in diesem Artikel nicht erwähnt.

Reaktive Blutbilder

Neben Anämien zählen reaktive Blutbildveränderungen zu den häufigsten Zuweisungsgründen: Leukozytosen durch Infekte, Rauchen oder chronische Inflammation; Thrombozytosen infolge von Blutverlust, Splenektomie oder Eisenmangel; Leukopenien bei Virusinfekten, Autoimmunprozessen oder Medikamentenwirkungen. Bei Thrombopenien sind häufige Ursachen Virusinfekte, Lebererkrankungen oder Autoimmunphänomene. Die Herausforderung besteht darin, aus der Vielzahl gutartiger Ursachen die wenigen gefährlichen, malignen Entwicklungen herauszufiltern.

Die Rolle der Allgemeinmedizin ist hierbei zentral – nicht nur als erste Anlaufstelle für Patient:innen, sondern auch als Filter und Navigator im System. Ein differenziertes Blutbild zu interpretieren bedeutet mehr als Referenzwerte zu prüfen: Es verlangt klinischen Spürsinn, ein Verständnis für Pathophysiologie und ein Bewusstsein für Risikokonstellationen. Daher ist es von immenser Bedeutung, bei vermeintlich banalen Befunden nicht vorschnell zu beruhigen, sondern systematisch zu differenzieren. Gerade im niedergelassenen Bereich fehlt es häufig an der Zeit, doch ein konsequentes diagnostisches Denken schützt vor späteren Eskalationen.

Red Flags – wann muss eine Überweisung sofort erfolgen?

Im Gegensatz zur Eisenmangelanämie oder leichten Raucherleukozytose kann hier bereits eine Verzögerung von einem Tag für die betroffenen Patient:innen tödlich sein. Bei Anämie als Leitsymptom + mindestens einem der folgenden Kofaktoren besteht ein begründeter Verdacht auf eine hämatologische Systemerkrankung bzw. einen hämatologischen Notfall, der eine sofortige Zuweisung möglichst am selben Tag und weitere Abklärung erfordert:

  • Zytopenie (Thrombopenie/Leukopenie) oder Leukozytose
  • erhöhte LDH
  • Fragmentozyten im Ausstrich
  • Organomegalie (Splenomegalie, Lymphadenopathie)
  • stark erhöhtes Ferritin
  • erhöhtes Kreatinin

Insbesondere bei Patient:innen mit unspezifischen Allgemeinsymptomen und gleichzeitig auffälligem Blutbild ist Wachsamkeit gefragt. Ein häufiger Irrtum ist die Annahme, dass normale oder nur leicht veränderte Laborwerte eine ernsthafte Erkrankung ausschließen. Doch in der Frühphase vieler hämatologischer Neoplasien können die Veränderungen subtil sein – umso wichtiger ist das Zusammenspiel von Labor, Klinik und Intuition.

Darüber hinaus ist bei folgenden Faktoren eine zeitnahe weitere Abklärung notwendig:

  • persistierende Anämie ohne offensichtliche Ursache
  • Organomegalie (z. B. Splenomegalie), verdächtige Sonografiebefunde
  • systemische Symptome wie Nachtschweiß, Fieber oder ungewollter Gewichtsverlust

Für die weitere Abklärung auffälliger Befunde steht Allgemeinmediziner:innen die Expertise des Hämatologieverbundes Wien offen. Die Versorgung erfolgt standardisiert, leitliniengerecht und patientenzentriert. Es besteht kein Zweifel: Ohne funktionierende hausärztliche Triage wäre diese Form der spezialisierten Betreuung nicht möglich. Umso mehr verdienen Allgemeinmediziner:innen Unterstützung – durch klare Kommunikationswege, transparente Zuweisungskriterien und wissenschaftlich fundierte Rückmeldung.

Fazit

Das Blutbild ist mehr als eine Momentaufnahme. Es ist ein Frühwarnsystem. Wer es zu lesen versteht, kann Leben retten – oft lange, bevor Symptome auftreten. Die Integration des Hämatologieverbundes in die hausärztliche Diagnostik ist ein gelungenes Modell für sektorübergreifende Versorgung. Es zeigt, wie Differenzialdiagnostik nicht nur präziser, sondern auch menschlicher gelingen kann – nah am Menschen, nah an der Praxis.