Das soziale Umfeld beachten!

Die niedergelassenen Ärzte wissen, wie es ihren Patienten wirklich geht. Das genau ist das Umfeld, in dem es gilt, die Gesundheit der Menschen insgesamt zu verbessern, meint Sir Michael Marmot, britischer Professor für Epidemiologie und Public Health am University College London, der nunmehr für zwei Jahre Präsident des Dachverbandes der Ärzteorganisationen weltweit ist.
„Ja, wir können diese ‚Schlucht‘ zwischen dem Gesundheitszustand der Reicheren und der Ärmeren schließen“, sagte Marmot im Gespräch mit der Ärzte Krone. Dazu bedürfe es aber einer Anstrengung der Beteiligten im Gesundheitswesen, im Sozialwesen, der Ärzteschaft und über alle Berufsgruppen in dem Bereich hinaus.
Der Epidemiologe hat erst im August dieses Jahres bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen – erneut, da auch schon vor zwei Jahren dort vertreten – für Aufsehen gesorgt.
„Es ist nicht ein Mangel an Gesundheitswesen, der krank macht. Es ist nicht ein Versorgungsengpass an Aspirin, der Kopfweh verursacht. Der Grund für Krankheit liegt hauptsächlich in den sozialen Unterschieden“, sagte er.
Der Konnex von Armut und Krankheit ist gemäß den Ergebnissen der wissenschaftlichen Arbeiten des neuen WMA-Präsidenten ein Kontinuum von Arm zu Reich. Unterscheidungen nach Gruppen sind künstlich gezogen und verschleiern die Realität. So hat Marmut für jeden britischen Bezirk den sozialen Status der Einwohner mit der Lebenserwartung insgesamt und der Lebenserwartung in Gesundheit in Beziehung gesetzt: Die sozial am schlechtesten gestellten Menschen haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 72 Jahren, die reichsten eine von 82 Jahren. Die Ärmsten leben durchschnittlich 52 Jahre in Gesundheit und ohne Behinderung, die Reichsten um die 70 Jahre.
„Das ist kein Phänomen von ‚uns‘ und den ‚Anderen‘, den Armen. Das ist ein Gradient, der uns alle betrifft. Die etwas weniger Reichen haben schon eine geringere Lebenserwartung als die ganz Reichen. Die ganz Armen haben eine geringere Lebenserwartung als die etwas weniger Armen. Ich kann in London mit dem Rad binnen einer halben Stunde von den reichsten Teilen zu den ärmeren Gebieten fahren. Es gibt einen Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung von 20 Jahren“, sagte Marmot.

„Soziale“ Ausbildung, Chancen für Ärzte und Gesundheitsberufe, Kooperation

Natürlich gehe es in der Medizin um Krankheiten, die zu behandeln sind. Doch allen Beteiligten sollte es auch um mehr gehen, meinte Marmot im Gespräch mit der Ärzte Krone: „Wir haben es in Großbritannien gerade in einem in ein paar Punkten zusammengefasst, wie wir insgesamt den Gesundheitszustand der Menschen verbessern können. Das sind: Ausbildung der Ärzte zu den sozialen Faktoren von Gesundheit, das Sehen der Patienten in ihrer sozialen Umgebung, was speziell die Allgemeinmediziner und ihr Personal betrifft. Dazu kommen gute Arbeitsbedingungen für alle im Gesundheitswesen und das Arbeiten in Partnerschaften.“
Und schließlich: „Wir müssen die Patienten vertreten. Ärzte sind dafür sehr gut geeignet. Die Patienten benötigen aber auch ihre eigenen Vertreter.“

Keine Finanzkrisen-Ausreden

Vehement sprach sich der neue WMA-Präsident, Chef des Instituts für gleiche Chancen im Gesundheitswesen am University College London, gegen Ökonomisierung und Sparprogramme als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise aus: „Das sollte nicht als Argument für Einsparungen verwendete werden. Wir wissen ganz genau, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise auch gesundheitliche Auswirkungen hat.“
Auch die von vielen Staaten gerade deshalb „verordneten“ Sparprogramme würden ihre Konsequenzen im Gesundheitsbereich haben: „Es gibt da ganz verheerende Auswirkungen der Austerity-Programme in Europa.“ Dies hätte alles seinen Preis, der sich speziell im Gesundheitswesen auswirke. An der Notwendigkeit, eine Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau zu garantieren, gehe nichts vorbei.
Für Marmot gibt es einen „Roten Faden“, der von der Kindheit bis zum Tod in sozialer Hinsicht das gesundheitliche Schicksal vieler Menschen bestimmt. „Der soziale Gradient eines Kindes, sein Potenzial zu erfüllen, hat einen enormen Effekt auf die Möglichkeiten dieses Menschen, für die weitere Entwicklung. Wir sehen einen sozialen Gradienten bei der Schulbildung und bei der Gesundheit im Jugendalter. Das zeigt sich bei den Arbeitslosenraten und in der Ausbildung bei den 20-Jährigen.“
Das gehe weiter – diese kausale Relation bringe viele Menschen in stressreiche Arbeitsverhältnisse, welche „die psychische und physische Gesundheit angreifen“, betonte Marmot auch bei seinem ersten Statement nach seiner Wahl zum WMA-Präsidenten. Und, das zieht sich durch bis ins hohe Alter. „Es existiert eine ursächliche soziale Korrelation von den frühen Lebensabschnitten über das Erwachsenalter bis zu den Senioren, was die Ungleichheit in Sachen Gesundheit angeht.“ An sich müsse man von Anbeginn eingreifen, aber eine Intervention zu jedem Lebensabschnitt sei positiv zu bewerten.
Nur ein Beispiel, das Marmot in diesem Zusammenhang nennt – abseits aller Ökonomisierung des Gesundheitswesens in den westlichen Industriestaaten, die ehemals als Pioniere des solidarischen Gesundheits-und Sozialwesens agiert haben: „Was haben die folgenden Personengruppen gemeinsam: 48 Millionen Menschen in Tansania, die sieben Millionen Einwohner von Paraguay, zwei Millionen Letten oder die 25 Spitzenmanager von Hedge-Fonds? Sie hatten im Jahr 2013 alle ein Gesamteinkommen zwischen 21 und 28 Milliarden Dollar.“ Und wenn die Hedge-Fonds-Manager nur ein Jahr lang auf ihr Geld verzichteten, wäre das eine Verdopplung des BIP in Tansania.
„Der Weltverband der Ärzte (World Medical Association) garantiert die höchsten ethischen Standards in der Medizin. Er spricht furchtlos, wenn es um die Rechte der Ärzte geht und ihre höchsten Verpflichtungen gefährdet sind. Ich will, dass die WMA genau dieselbe Klarheit vertritt, wenn es um Aktivitäten zur Bekämpfung der Ursachen von Krankheit geht – und was ich als den Urgrund von Krankheit sehe – die sozialen Determinanten von Gesundheit.“