Depressive Erkrankungen im Alter

Die Prävalenz von Depressionen bei älteren Menschen liegt mit 9,8% für die Minor-Depression und 1,8% bei der Major-Depression sehr hoch, wobei ältere Frauen wesentlich häufiger betroffen sind. Die klassischen „-losigkeitssymptome“ wie Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Verlust von Interessen und Antriebslosigkeit spielen beim älteren Patienten eine eher untergeordnete Rolle, 75% der schweren Depressionen haben nicht die typischen Symptome.
In 60% der Fälle besteht zusätzlich eine Angststörung, umgekehrt kann sich hinter einer Angststörung auch eine Depression verbergen.
Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen somatischen Komorbiditäten und Depressionen. So leiden bis zu zwei Drittel der KHK-Patienten unter depressiven Verstimmungen. Nach einem Herzinfarkt tritt im Fall einer unbehandelten Depression eine vierfach erhöhte, nach Schlaganfall sogar eine siebenfach erhöhte Mortalität auf.
Bei Diabetes mellitus kommt es bei zusätzlich depressiven Symptomen neben einer vermehrten Non-Compliance auch zu einer erhöhten Komplikationsrate.
Bis zu 40% der Parkinson-Patienten leiden während ihrer Erkrankung an einer Depression.

Diagnostik

Das Erkennen depressiver Störungen bei älteren und hochbetagten Menschen gestaltet sich daher schwierig, da die Symptome oft nicht so typisch erscheinen. Dies führt dazu, dass oft depressive Erkrankungen unerkannt bleiben und nicht behandelt werden.
In der Diagnostik orientiert man sich prinzipiell jedoch auch bei älteren Patienten zunächst an den Kriterien des ICD-10 (Tab. 1).
Da es oft zu einer Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten in der Depression kommt, kann es zu einer Verwechslung mit einer demenziellen Entwicklung kommen, es wurde auch der umstrittene Begriff der „Pseudodemenz“ geprägt. In diesem Fall ist die therapeutische Empfehlung eindeutig, es muss zuerst die Depression adäquat behandelt werden, dann darf erst eine Überprüfung der kognitiven Leistungsfähigkeit stattfinden.
Umgekehrt kommt es vor, dass depressive Symptome als erste Hinweise für eine beginnende demenzielle Erkrankung auftauchen.
Diese Symptome können im Rahmen eines Verarbeitungsprozesses verstanden werden auf wahrgenommen Defizite und Einschränkungen, aber auch als erste Zeichen einer organische Schädigung des Gehirns.
In einer Untersuchung ist auch aufgefallen, dass Menschen mit häufig auftretenden schweren depressiven Episoden im Laufe ihres Lebens häufiger demenziellen Erkrankungen entwickeln.
Bei zahlreichen Erkrankungen, die vor allem auch im Alter auftreten, zeigen sich häufig komorbid depressive Störungen, z.B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebserkrankungen, chronischen Nierenerkrankungen, M. Parkinson und Schmerzen.
Auch regulär verabreichte Medikamente können als Nebenwirkungen depressive Symptome zeigen, z.B. Analgetika (z.B. Opiate, nichtsteroidale A.), Antihypertensiva (Reserpin, Clonidin, Diuretika, Betablocker), Antikonvulsiva, Antiparkinsonmittel (Amantadin, L-Dopa, Bromocriptin), Cholinesterasehemmer, Benzodiazepine, Kortikosteroide, Cimetidin, Ranitidin, Tuberkulostatika, Chemotherapeutika (z.B. Cisplatin, Vincristine).

 

 

Therapieresistente oderkomplexe Depression

Der Begriff der „therapieresistenten“ Depression ist in der Psychiatrie sehr unscharf definiert und wird durch die Verwendung von auch unklaren Synonymen wie chronifizierte, therapierefraktäre oder komplexe Depression nicht besser verständlich.
Aufgrund von psychischen und somatischen Komorbiditäten beim alten Menschen bekommen diese Begriffe jedoch noch eine zusätzliche Relevanz. Es ist oft nicht klar, ob das Nichtansprechen einer antidepressiven Therapie im engeren Sinn noch etwas über die Depression und deren Behandlung aussagt oder die Komorbidität das Hindernis darstellt.
In einer Studie wurden mögliche Umstände und Behandlungsfehler untersucht, welche vermeintlich zu der Diagnose einer komplexen oder therapieresistenten Depression führen:

  1. Nicht-Compliance des Patienten.
  2. Pseudoresistenz (darunter versteht man einen mangelnden Behandlungserfolg aufgrund ungenügender Dosierung und/oder nicht ausreichender Behandlungsdauer).
  3. Bipolare Erkrankung wurde nicht erkannt.
  4. Psychotische und melancholische Symptome, die zusätzlich bestehen, wurden nicht diagnostiziert.
  5. Ungenügendes Erkennen psychiatrischer Komorbiditäten und deren Behandlung, vor allem bei Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen.
  6. Zusätzliche organische Faktoren, bei 10% wurden klinisch relevante somatische Erkrankungen wie Demenz oder Schlaganfall nicht erkannt.

 

 

Medikamentöse Behandlung

Die medikamentöse Behandlung mit SSRI (Serotonin-Reuptake-Inhibitoren, wie Escitalopram, Sertralin und Citalopram) zugunsten von Trizyklika (wie Clomipramin) mit erheblichen Nebenwirkungen hat sich breit durchgesetzt. Trizyklische Antidepressiva und SSRI zur Behandlung der Depression bei älteren Patienten sind zwar gleich effektiv, die anticholinergen Nebenwirkungen der Trizyklika wie Harnretention bei Prostatahyperplasie, Glaukom, Verwirrtheitszustände und kognitive Beeinträchtigungen können jedoch die Folge sein.
In der Behandlung der Depression haben sich auch dual wirksame SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren), zu denen Venlafaxin, Milnacipran und Duloxetin zählen, sowie Mirtazapin und Trazodon gut bewährt.
Bei Funktionseinschränkungen der Leber und der Niere sind einige Anpassungen auch bei den bevorzugten Substanzen erforderlich (Tab. 3).
Die häufigsten Nebenwirkungen der SSRI bei älteren Menschen sind Übelkeit, innere Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und sexuelle Funktionsstörungen.
Besonders zu beachten sind Syndrome, die die SSRI alleine oder in Kombination mit anderen Medikamenten verursachen, wie das serotonerge Syndrom, eine Hyponatriämie sowie das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion.
Wichtige Interaktionen mit anderen Medikamenten entstehen über den Abbau am Cytochrom-P450-Enzymsystem, z.B. eine Spiegelerhöhung von Amitriptylin, Betablockern, Phenytoin, Carbamazepin und Cumarin bei der Verwendung von Paroxetin und Fluoxetin (CYP2D6-Inhibitor), weshalb wir in der Alterspsychiatrie diese Substanzen nur sehr zurückhaltend einsetzen. Es gibt auch Spiegelerhöhung von Theophyllin bei Fluvoxamin (CYP1A2-Inhibitor).
Auf ein erhöhtes Blutungsrisiko bei über 80-Jährigen oder auch vorbestehenden Ulkus ist hinzuweisen, vor allem in der Kombination SSRI mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) über Beeinflussung der Plättchenfunktion.
In der Behandlung der Depression im Alter sollte immer eine Kombinationstherapie aus Medikamenten und Psychotherapie angestrebt werden.

 

 

Psychotherapeutische Behandlung

In der Depression ist allgemein nicht nur die Zukunft undenkbar, die Patienten sind häufig auch von der Vergangenheit wie abgeschnitten. Schuldgefühle sind im Alter eher selten, meist treten wahnhafte Ängste auf zu verarmen.
Symptome der Pseudodemenz treten vor allem bei sehr symbiotischen Partnerbeziehungen auf.
Die körperlichen Beschwerden gestalten das depressive Erleben, und körperliche Einschränkungen verändern das Therapiebündnis und das Setting.
Das therapeutische Ziel ist, von der Depression zur Trauer zu gelangen, durch eine verlässliche Beziehungserfahrung und durch die Entfaltung der Ich-Autonomie und Identität.
Das Ende des Lebens wird bewusster erlebt und die Beendigung einer Therapie ist somit oft nicht möglich und kann in eine lebensbegleitende Betreuung übergehen.
Eine Reihe von psychosozialen Aufgaben muss der Ältere und Hochbetagte bewältigen und kann dazu von professioneller Hilfe profitieren, um präventiv einer depressiven Episode vorzubeugen:

  • Reagieren auf den sich verändernden Körper
  • Umgehen mit den eigenen libidinösen, aggressiven und narzisstischen Strebungen
  • Gestalten der intragenerativen und intergenerativen Beziehungen
  • neue Stabilisierung durch Verlust des Berufs und von Interessen
  • Erhalten der sozialen Sicherheit/Versorgung
  • Erhalten der eigenen Identität
  • Einstellen auf veränderte Zeitperspektive sowie auf Verluste, Sterben und Tod

Allgemeine Ziele der Psychotherapie sind das seelisches Leiden zu lindern und Kompetenzen und Fähigkeiten zu stützen, zu erhalten und zu fördern.
Speziell beim älteren und alten Menschen steht der lindernde Anspruch vor dem heilenden.
Psychotherapie kann im Einzel-, Paar-, Familien- oder auch Gruppensetting durchgeführt werden.

Botschaft

  • Die Diagnose einer depressiven Erkrankung im Alter ist eine besondere Herausforderung.
  • Die Symptome sind oft nicht so typisch, komorbide Erkrankungen und regulär verabreichte Medikamente verschleiern die Symptomatik.
  • Behandlung der Depression im Alter sollte neben der medikamentösen Therapie in Kombination mit Psychotherapie erfolgen.
  • Die Therapieresistenz ist ein häufiges Phänomen, Behandlungsempfehlungen geben eine Orientierung.