Diagnose Demenz − wann, wie übermitteln?

Unter dem Begriff Demenz versteht man nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme Version 10, 201 (ICD-10-Code: F00-F03) ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht beeinträchtigt. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation die kognitiven Beeinträchtigungen.
Demenz ist zunächst eine klinische, beschreibende Syndromdiagnose, die zu einer weiteren gewissenhaften und genauen ätiologischen Abklärung unter Einsatz von bildgebender Verfahren und Laboruntersuchungen verpflichtet. Sekundäre Demenzformen müssen, da ihre Ursachen behandelbar und reversibel sein können (z. B. metabolische, endokrine, kardiovaskuläre und paraneoplastische Erkrankungen, entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems, Normaldruckhydrozephalus und raumfordernde Prozesse, Pseudodemenz im Rahmen einer Depression), von den primären, neurodegenerativen und unheilbaren Demenzformen (Alzheimer-Demenz, frontotemporale Demenz, Lewy-Körperchen Demenz, Demenz bei Parkinsonscher Krankheit) unbedingt differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden.
Im Folgenden soll auf die Probleme, die mit der Eröffnung der Diagnose neurodegenerativer Demenzformen einhergeht, näher eingegangen werden. Sie sind progredient verlaufende und unheilbare Erkrankungen, die zu einem irreversiblen Verlust der persönlichen Autonomie sowie zu einem fortschreitenden geistigen und körperlichen Verfall führen. Es ist daher verständlich, dass die Vorstellung, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken, in der Bevölkerung mit einer größeren Furcht verbunden ist, als dies bei anderen lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs oder Schlaganfall der Fall ist. Schwierigkeiten mit der Übermittlung einer schlechten Nachricht sowie Überlegungen, den Betroffenen durch eine frühe Mitteilung der Diagnose einer unheilbaren und für sein weiteres Leben desaströsen Erkrankung schweren psychischen Belastungen auszusetzen und dadurch zu schaden, haben dazu geführt, dass bisweilen Information zur Erkrankung nicht oder nur mangelhaft erfolgt und Begriffe wie Demenz oder Alzheimer nur umschrieben oder überhaupt nicht erwähnt werden. Dieses Verhalten wird auch durch die im Anfangsstadium der Erkrankung manchmal vorhandene diagnostische Unsicherheit unterstützt.
Der Wunsch der Mehrzahl naher Angehöriger von Demenzkranken, die Diagnose diesen nicht mitzuteilen, steht im Widerspruch zu deren Wunsch, die Diagnose zu erfahren, sollten sie selbst an einer Demenz erkranken. Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass der Wunsch nach einer Diagnosemitteilung auch bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit Demenz besteht. Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften befürworten durchwegs eine Diagnosemitteilung und umfassende Aufklärung von Patienten mit neurodegenerativen Demenzformen.

Nutzen und möglicher Schadender Diagnosevermittlung

Die Verpflichtung zu einer klaren Diagnosemitteilung basiert auf dem Respekt vor der Autonomie des Patienten, die allerdings mit dem Fortschreiten der Krankheit eingeschränkt wird und letztendlich verloren geht. Daher soll die Diagnoseübermittlung möglichst in einem frühen Krankheitsstadium erfolgen. Aus einer frühen Aufklärung über die Diagnose ergibt sich eine Reihe von Aspekten, die für den Betroffenen von Nutzen sein können.
Patient und Angehörige gewinnen mehr Zeit zur Krankheitsbewältigung und zur Anpassung an die zu erwartenden Einschränkungen. Sie wissen nun über die Ursache von Persönlichkeitsveränderungen und Defiziten Bescheid und können sich mit der Diagnose auseinandersetzen. Milde kognitive Defizite können, wenn sie nicht erkannt werden, zu intrafamiliären und Partnerkonflikten, Kränkungen, Mobbing am Arbeitsplatz und Überforderung führen. Viele dieser belastenden Situationen können durch eine frühe Diagnoseübermittlung, die zu einem besseren Verständnis des Verhaltens der Betroffenen führt, vermieden werden.
Erfolgt die Aufklärung rechtzeitig, können berufliche und finanzielle Entscheidungen sowie Fragen zur Zukunft (Testament, Pflege und Vorsorgevollmacht, Patientenverfügungen etc.) autonom getroffen werden. Auch wenn bei der Alzheimer-Demenz keine Heilungsmöglichkeit besteht, so können Medikamente und nicht-pharmakologische Maßnahmen doch eine Verzögerung im Auftreten von Krankheitssymptomen bewirken. Sie sind vor allem in der frühen Krankheitsphase wirksam. Auch müssen Aufklärung und Einverständnis therapeutischen Maßnahmen vorangehen. Therapieplanung und Krankheitsbewältigung sind ohne diagnostische Aufklärung kaum durchführbar.
Die meisten Vorteile der Diagnoseübermittlung sind somit vor allem im frühen Krankheitsstadium gegeben. Die für das Verständnis der Diagnose erforderliche mentale Kapazität und Krankheitseinsicht sind im fortgeschrittenen Krankheitsstadium oft nicht mehr vorhanden. Eine Diagnoseübermittlung wird dann sinnlos, da der Betroffene mit der Diagnose nichts anfangen kann und sie sofort wieder vergisst.
Dem Nutzen einer Aufklärung steht die Sorge gegenüber, Kranke, für die es keine kurative Therapie gibt, unnötigen emotionalen Belastungen auszusetzen und zusätzliches Leid, Hoffnungslosigkeit bis hin zur schweren reaktiven Depression und Suizid hervorzurufen. Mehrere Studien zeigten, dass nach der Diagnoseübermittlung, abgesehen von einer kurzen Schockphase, keine Zunahme längerfristiger Depressionen und Suizide beobachtet wurde. Diese Ansicht wird auch in vielen Leitlinien vertreten. Andere Autoren hingegen fanden eine erhöhte Suizidrate in den ersten Monaten nach der Diagnosestellung oder in der frühen Krankheitsphase. Ein Nocebo-Effekt, der mit dem Wissen um die Diagnose Demenz verbunden ist und dem in der frühen Krankheitsphase eine Bedeutung zukommen könnte, ist ebenfalls in Betracht zu ziehen. Ältere Probanden, die über ihren positiven ApoE-4-Genotyp, der mit einem höheren Alzheimer-Risiko verbunden ist, informiert wurden, beurteilten ihre Gedächtnisleistung viel negativer und schnitten auch in kognitiven Tests schlechter ab, als eine Vergleichsgruppe mit einem ebenfalls positiven ApoE-4-Genotyp, die jedoch uninformiert blieb.
Es herrscht generell Übereinstimmung, dass die Eröffnung der Diagnose für den Patienten mit einem größeren Nutzen als Schaden verbunden ist. Eines der Hauptargumente für eine offene Diagnosemitteilung ist der hohe Stellenwert, der in der westlichen Welt der Patientenautonomie zukommt. Dass dies in anderen Kulturkreisen nicht immer der Fall ist, muss berücksichtigt werden. Auch bestehen kulturelle Unterschiede im Umgang mit der Information, an einem unheilbaren Leiden erkrankt zu sein. Neben dem Recht um das Wissen der Diagnose, gibt es auch ein Recht auf das „Nicht-Wissen-Wollen“, das die Unbeschwertheit des Betroffenen in einer Krankheitsphase bewahrt, in der noch keine deutliche Beeinträchtigung besteht. Die Diagnoseübermittlung und Aufklärung darf nicht um jeden Preis erfolgen. Ob eine Diagnoseübermittlung stattfindet oder ob sie unterlassen wird, bleibt trotz der generellen Empfehlung der Leitlinien zur Mitteilung immer eine Einzelfallentscheidung. Diese wird von den Prinzipien des ethischen Handelns in der Medizin geleitet, nämlich Autonomie des Patienten, Schadensvermeidung, Patientenwohl und soziale Gerechtigkeit.

Diagnosemitteilung

Erkrankte haben das Recht, die Diagnose ihrer Erkrankung zu erfahren und aufgeklärt zu werden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen soll der Patient seine Diagnose erfahren und über seine Erkrankung informiert werden. Der Arzt ist bei der Diagnoseübermittlung zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. Das bedeutet aber nicht, dass alles, was wahr ist, auch ausgesprochen werden muss. Aufrichtigkeit darf nicht mit brutaler Offenheit verwechselt werden. Trotz der Empfehlungen vieler Leitlinien, Patienten über die Diagnose Demenz aufzuklären, gibt es nur wenige Publikationen, die sich mit dem „Wie“ beschäftigen. Die Diagnosemitteilung ist nicht als einmaliges Ereignis, sondern als ein mehrstufiger Prozess zu sehen, der fast immer in mehreren Gesprächen ablaufen wird. In einer Vorbereitungsphase wird der aufklärende Arzt bemüht sein, eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten und seinen Angehörigen aufzubauen. Er wird sich ein Bild über den aktuellen Wissensstand, den Informationswunsch und Informationsbedarf sowie über das „Wissen-Wollen“ des Patienten machen. Dies kann zwanglos bereits während der diagnostischen Abklärung des Verdachtes auf eine Demenz erfolgen. Der Patient und seine Angehörigen können so auf die mögliche Diagnose einer Demenz vorbereitet werden. Eine schrittweise Diagnosevermittlung kann es leichter machen, den Patienten und seinen Angehörigen die schlechte Nachricht beizubringen. Es ist daher anzustreben, dass die Aufklärung über die Diagnose durch diejenige Person erfolgt, die die medizinische Abklärung geleitet hat. Angehörige oder dem Patienten nahestehende Bezugspersonen sollen früh miteinbezogen werden, wozu allerdings das Einverständnis des Patienten erforderlich ist. Fehlt dieses zunächst, sollte man darauf drängen, Angehörige rasch in weiteren Gesprächen einzubeziehen. Angehörige sind wichtige Informanten, Vermittler und Unterstützer. Darüber hinaus sind für Familienangehörige massive zukünftige Belastungen und einschneidende Veränderungen ihrer Lebensgestaltung zu erwarten, über die sie rechtzeitig informiert werden sollten.

Einfühlsame und anteilnehmende Information

Nach der Vorbereitungsphase und dem Abschluss der diagnostischen Untersuchungen wird ein formelles Diagnosegespräch erfolgen, in dem der Patient, wenn möglich im Beisein einer Vertrauensperson, über das Resultat der Untersuchungen und die sich daraus ergebende Diagnose einfühlsam und anteilnehmend informiert wird. Die Wortwahl soll verständlich und möglichst frei von medizinischen Fachausdrücken sein. Ein Arztbrief zur schriftlichen Zusammenfassung des Besprochenen, der nach dem Gespräch nochmals gelesen werden kann, ist hilfreich. Es ist nicht sinnvoll, bei der Diagnoseeröffnung eine Fülle von Informationen zu vermitteln, die von den Betroffenen in einer emotional belastenden Situation nur teilweise oder überhaupt nicht erfasst werden können. Dies trifft vor allem dann zu, wenn diese Diagnose nicht erwartet wird. So haben die Mehrzahl der betroffenen Patienten (73%) und auch eine signifikante Minderheit ihrer Angehörigen (16%) nach der Diagnoseeröffnung die Diagnose nicht verstanden.
Für das Diagnosegespräch muss genügend Zeit verfügbar sein. Es soll patientenzentriert ablaufen, und dem Betroffenen muss genügend Raum gegeben werden, seine Gefühle und Emotionen auszudrücken. Bedürfnisse, Ängste und Vorstellungen des Patienten und seiner Angehörigen werden dabei in den Mittelpunkt des Gespräches gerückt. Es muss ausreichend Gelegenheit für Fragen vorhanden sein. Der Respekt vor dem Patienten gebietet, dass bei Anwesenheit von Vertrauenspersonen in erster Linie mit dem Patienten und nicht über den Patienten gesprochen wird. Auch wenn die Informationen über die Diagnose wahrheitsgetreu und ohne Beschönigung vermittelt werden sollen, darf der Patient nicht im Zustand der Hoffnungslosigkeit zurückgelassen werden. So kann auf das erst frühe Stadium der beginnenden Demenz und die entsprechenden Adaptionsmöglichkeiten hingewiesen werden, auf diejenigen Hirnleistungen, die in den neuropsychologischen Testuntersuchungen nicht betroffen waren, auf die Bedeutung der kognitiven Reservekapazität, auf die unterschiedlichen und nicht vorhersehbaren Krankheitsverläufe, auf medikamentöse und nichtmedikamentöse Maßnahmen, durch die eine Verzögerung des Krankheitsverlaufes erreicht werden kann und schließlich auf Fortschritte in der Demenzforschung. Dem Patienten und seinen Angehörigen soll vermittelt werden, dass sie mit ihren Ängsten und Befürchtungen nicht allein gelassen werden, dass sie auch im weiteren Krankheitsverlauf betreut werden und bei zukünftigen Problemen Lösungen gesucht werden.
Weitere Gespräche werden auf spezifische Fragen wie Lebensplanung, Verhalten im Beruf und Umfeld, Vorsorge, Patientenverfügung, Therapiekonzepte etc. eingehen. Informationen über soziale Hilfen und Patientenorganisationen dürfen nicht vernachlässigt werden. All das dient dem obersten Ziel der Diagnosemitteilung, nämlich gemeinsam mit den Betroffenen eine Strategie zur Krankheitsbewältigung zu entwickeln.

Literatur beim Verfasser
Quelle: Symposium „Der Demenzkranke als Mitmensch: Herausforderung an Pflege und Medizin“ von IMABE am 18. November 2016 in Wien;
Originalpublikation: Kristoferitsch, W., Die Übermittlung der Diagnose Demenz, in: Imago Hominis (2015); 22(4): 277–284