Die Hot Topics der Ernährungsmedizin

Vom 9. bis 11. Juni 2016 versammelten sich bereits zum 15. Mal Ernährungsexperten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz in der Messe in Dresden, um neueste Entwicklungen zu präsentieren und zu diskutieren. Sowohl die länderübergreifende Zusammenarbeit der Fachgesellschaften wie auch die hohe Interdisziplinarität verleihen der Veranstaltung seit Jahren zunehmende Attraktivität. Bereits die Eröffnung erfolgte durch die Präsidenten von sechs Fachgesellschaften und Berufsverbänden.
Genau das zeichnet eben die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ernährung aus: Interdisziplinarität!
Ernährung spielt in praktisch jedem Lebensbereich eine zentrale Rolle – unabhängig von unserem Gesundheitszustand und die Bedeutung der Ernährung steigt naturgemäß mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Daher ist es letztlich nicht verwunderlich, dass wir ca. 200 Entscheidungen pro Tag rund um die Ernährung treffen. Diese Entscheidungen beginnen mit dem „Wann essen wir was?“ und reichen über die Frage wo und womit wir unsere Nahrung zu uns nehmen, bis hin zu der Frage, mit wem und wie lange wir essen und trinken. Diese Zahl reflektiert die enorme psychosoziale Bedeutung der Ernährung, deren Bedeutung für Gesundheit und Krankheit, wir nur in Bruchteilen zu verstehen beginnen.

Ernährung vor und während der ersten 1.000 Lebenstage

Einen tiefgreifenden Einblick in diese umfassende Bedeutung der Ernährung für die Gesundheit und die menschliche Entwicklung hat dann auch die Georg-Klemperer-Vorlesung 2016 gegeben – der Höhepunkt des Kongresses. Hier hat Berthold Koletzko vom Dr. von Haunerschen Kinderspital des Klinikums der Universität München einen fesselnden Vortrag über den Einfluss der Nahrung in den ersten 1.000 Lebenstagen gehalten. In seinem Vortrag hat Prof. Koletzko einen breiten Bogen gespannt und gezeigt, dass die richtige Ernährung bereits vor der Geburt wichtig ist. So ist mütterliches Übergewicht bereits zum Zeitpunkt der Konzeption ein Risikofaktor für spätere kindliche Adipositas und Kindessterblichkeit. Eine hohe Gewichtszunahme in den ersten beiden Lebensjahren verstärkt dann noch die schädlichen Gesundheitsfolgen, wobei der Unterschied vor allem bei flaschenernährten Kindern besonders bedeutsam ausfällt. Daher senkt Stillen auch das Risiko für kindliches Übergewicht, was durch eine ‚early protein hypothesis‘ erklärt wird. Indizien für diese Hypothese liegen im Vergleich der Zusammensetzung der Ernährung (Abbildung). Auch wegen 2,5-mal höheren Eiweißgehaltes der Kuhmilch im Vergleich zur Muttermilch wird Kuhmilch im ersten Lebensjahr nicht zur Ernährung empfohlen. Wie in der Abbildung gezeigt, scheinen besonders die verzweigtkettigen Aminosäuren (VKA) Valin, Leucin und Isoleucin und deren Abbauprodukte C5- und C4-Carnitin für diesen Effekt verantwortlich zu sein.
Der zugrundeliegende molekulare Mechanismus, wie VKAs Insulinsekretagog und damit adipogen wirken, läuft dann über eine Aktivierung des sogenannten mammalian targets of rapamycin (mTOR), das als zentrale Energie-Schaltstelle der Zelle zu Anabolismus und Gewichtzunahme des Körpers führt. Zusammenfassend bleibt trotz aller Daten nun die Frage, ob Gene oder die Ernährung die Varianz des Gewichtes im Säuglingsalter erklären. Hier zeigen genomweite Assoziationsstudien, dass der Effekt der Ernährung auf die Varianz des Gewichtes ca. 4-mal so stark ist wie die Genetik und ca. 10-mal so stark wie das Geschlecht. Die Ernährung ist somit der sicherlich stärkste Risikofaktor für Übergewicht im Kindes- und Erwachsenenalter.

 

 

Dauerbrenner Kurzdarmsyndrom

Ein weiteres Highlight des Kongresses waren auch die zahlreichen Satellitensymposien, die durchwegs gut besucht waren, und aufgrund der vielen parallelen Sitzungen ist dem Besucher die Wahl der besuchten Veranstaltung sehr schwer gefallen. Das Thema chronisches Darmversagen und parenterale Ernährung wurde in einer Sitzung von Dr. Irina Blumenstein aus Frankfurt eingeleitet, die die aktuelle S3-Leitlinie der AKE, der GESKES und DGVS und die ESPEN-Guideline über das chronische Darmversagen bei Erwachsenen vorgestellt hat. Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen Darmversagen (intestinal failure), Darminsuffizienz und Kurzdarmsyndrom (s. Tab. 1).

 

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Funktionell können drei Typen des Darmversagens unterschieden werden, wobei der Typ I nach Operationen unterschieden auftritt. Hierbei können die Anpassungsvorgänge des Darmes nach Operationen viele Monate bis zu einem Jahr benötigen, bis eine volle Anpassung erreicht ist. Für die Therapie bedeutet dies, dass eine ständige Anpassung nach Operationen nötig ist und eine endgültige Beurteilung der Restfunktion des Darmes nach Operationen frühestens nach einem Jahr, besser aber bis zu 5 Jahre nach Darmresektionen erfolgen kann. Beim Typ II besteht nach dieser funktionellen Definition eine Notwendigkeit zur Ernährungstherapie aufgrund septischer oder metabolischer Komplikationen nach Operation, Trauma oder bei Sepsis/SIRS. Der Typ III – das chronische Darmversagen – ist jene Form, bei der eine dauerhafte parenterale Ernährung und Flüssigkeitstherapie erforderlich ist. Für eine genaue Therapieplanung ist nicht nur die Länge des verbleibenden Darmes, sondern auch die anatomische Situation nach Operationen bedeutsam. Gemäß aktueller Empfehlungen sollte bei jedem Patienten mit mehr als 115 cm verbleibendem Dünndarm ein Versuch gestartet werden die parenterale Ernährung zu reduzieren. Auch dann, wenn die jejunocolische Anastomose so angelegt ist, dass mehr als 60 cm Dünndarm mit Nahrung in Berührung kommen, lohnt ein Versuch, die parenterale Ernährung zu reduzieren. Da dem Dickdarm insbesondere für den Mineralhaushalt besondere Bedeutung zukommt kann, selbst bei mehr als 35 cm Dünndarm die parenterale Ernährung reduziert werden, wenn das gesamte Colin noch in situ ist. Das Risiko für Vitamin-B12-Mangelzustände nach Magen- und Ileumresektionen, aber auch das Gallensäureverlustsyndrom sind weitere spezifische Komplikationen, die bei gezieltem postoperativem Ernährungsmanagement auch langfristig bedacht werden müssen. Da eine anatomische Bestimmung der Restdarmlänge eine Herausforderung im klinischen Alltag darstellt, sind Biomarker eine brauchbare Alternative für diese Aufgabe:

  • Citrullin korreliert mit der funktionellen Restdarmlänge.
  • Beta-Carotin korreliert mit allen fettlöslichen Vitaminen.
  • D-Xylostest korreliert mit der Aufnahme-kapazität von Kohlehydraten.
  • Steatokrit im Stuhl korreliert mit der Aufnahmekapazität für Fette.

Trotz aller Fortschritte ist die Prognose für Patienten mit dem chronischen Typ-III-Darmversagen ungünstig, denn gemäß einer aktuelle Publikation (Dibb et al., Survival an nutritional dependence on home parenteral nutrition, 2016) lebt nach10 Jahren parenteraler Ernährung noch die Hälfte und nach 20 Jahren noch ¼ der Patienten.
Was das spezifische Management von Patienten mit Darmversagen betrifft, hat Prof. Lamprecht aus Rostock einen sehr praxisbezogenen Vortrag gehalten, in dem die Personalisierung der langfristigen parenteralen Ernährung durch sogenanntes „Compounding“ hervorgehoben wurde. Die Volumen- und insbesondere die Natriumbilanz ist bei Patienten mit Darmversagen besonders bedeutsam und kann am besten durch die Bestimmung der Harnelektrolyte gesteuert werden. Im Falle einer hohen Sekretion durch ein Stoma werden verschiedene Maßnahmen wie z.B. Säureblockade mit 2-mal 40 mg Pantoprazol, Somatostatin 2-mal 50 µg s.c. empfohlen. Zusätzlich kann die Gallensäurebindung mit 3-mal4 g Colestyramin bzw. 2-mal 625 mg Colesevelam wirksam ein. Die motilitätshemmende Therapie mit Loperamid bis zu 8 mg/d und Tinctura opii bis zu 4-mal 15 Tropfen kann ebenso wirksam sein wie auch eine Pankreasenzymsubstitution.
Tabelle 2 fasst die aktuellen Empfehlungen zur Zusammensetzung der DGEM für die parenterale Ernährung zusammen (nach Lamprecht et al., Aktuelle Ernährungsmedizin, 2014).

 

 

Wissenschaftliches Programm

Der ausgewiesene Schwerpunkt des wissenschaftlichen Programms der Veranstaltung war in diesem Jahr die Ernährung beim Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen und nach Nierentransplantation. In 6 Einzelsitzungen mit je 2–3 Vorträgen und einem Praxisseminar wurden alle Teilaspekte der Chancen, Risiken und Möglichkeiten einer optimalen Ernährungstherapie für Patienten mit chronischer Nierenfunktionsstörung erläutert. Die Hauptthemen waren das Wartelistenmanagement, die Behandlung der Sarkopenie und das Management des Posttransplantationsdiabetes. Andere Themen waren natürlich auch das Kalium- und Phosphatmanagement wie die Formen der Ernährung und die Probleme an der Dialyse. Darüber hinaus beschäftigte sich eine Sitzung ausschließlich mit der Verlangsamung der Progression durch „Lifestyle-Interventionen“ wie Eiweißrestriktion, Azidosekontrolle und Sport. Dem aufmerksamen Zuhörer wurde hier nicht nur „alter Wein in neuen Schläuchen“ serviert, sondern auch detailliert erörtert, wie und welche Hürden überwunden werden müssen, um die Leitlinien beim individuellen Patienten optimal umsetzen zu können.
In einer Sitzung zu den Hot Topics der Ernährungsmedizin wurden 3 Fragen aktuell und kritisch diskutiert. Der erfrischende Geist dieser Sitzung war die wissenschaftliche Annäherung zu diesen Themen.

1. Die Rolle der Fruktose als Haupttreiber der XXXL-Epidemie?
Obwohl die Antwort „Ja“ naheliegt, ist es Bettina Jagemenn aus Tornesch gelungen, in diesem Vortrag zu illustrieren, dass zwar die Produktion und die industrielle Produktion und Verwendung von Fruktose in der Nahrungsmittelproduktion signifikant angestiegen ist. Der Zusammenhang zwischen XXXL-Epidemie und Fruktose bzw. anderen Kohlehydraten lässt sich aber notorisch schwer unterscheiden.

2. Gluten viel mehr als Zöliakie?
Dieser kurzweilige und kritische Vortrag von Imke Reese aus München war ein radikaler Bruch mit der unkritischen Marketingstrategie von einzelnen Herstellern glutenfreier Nahrungsmittel und hätte lediglich eine Portion mehr an Vision und Zukunftsperspektive vertragen.

3. Süßstoffe – stimmt das Nutzen-Risiko-Verhältnis?
Auch dieser Vortrag von Susanna Wiegand aus Berlin hat den Fluch und Segen von Süßstoffen klar gezeigt und auch die evolutionäre Bedeutung der Geschmacksrichtung Süß als Signal für rasch verfügbare Energie und die damit verbundene emotionale Dimension von Süßstoffen in der Prägung der Ernährungsgewohnheiten von Kindern erarbeitet. So können Süßstoffe gleichzeitig sowohl Mitverursacher aber auch ein potenzieller Ausweg aus der XXXL-Epidemie werden.

Fazit

Das hohe Maß an Interdisziplinarität am Ernährungskongress ist nur äußerer Ausdruck der komplexen Zusammenhänge zwischen Ernährung, Körper und Geist.
Nur durch kontinuierliche Forschung, Aus- und Weiterbildung wird es hoffentlich gelingen, den Zusammenhang zwischen spezifischen Nahrungsmitteln und Körperfunktionen weiter zu entschlüsseln, um unsere Ernährung als erste Medizin für den Erhalt der Gesundheit, aber auch für die Behandlung von Krankheiten, immer gezielter nutzen zu können!