Dramatisch: Jeder zehnte Arzt sucht einen Nachfolger

Schon jetzt sind rund 70 Hausarztordinationen österreichweit unbesetzt. Das ist aber erst die Spitze eines gewaltigen Eisberges: In wenigen Jahren dürften rund 2.000 der insgesamt 20.000 Allgemeinmediziner und Fachärzte fehlen. Laut einer aktuellen Analyse des Wirtschaftsinformationsdienstes Bisnode D&B, die der Ärzte Krone exklusiv vorliegt, sucht momentan jeder zehnte Praktiker einen Nachfolger.
Für Dr. Johannes Steinhart, Vizepräsident der Kurie niedergelassene Ärzte in der Ärztekammer für Wien, ist die Zahl zwar neu, aber nicht überraschend: „Wir warnen seit längerer Zeit vor dieser Entwicklung. Allerdings kommt die Katastrophe auf die Patienten scheinbar schneller zu, als bisher angenommen.“ Steinhart rechnet mit noch längeren Wartezeiten, längeren Anfahrtswegen und höheren Kosten für die Patienten. Wenn Ärzte mit der Pension ihren Kassenvertrag zurücklegen und nur noch Wahlärzte übrig bleiben, muss zunächst privat bezahlt werden und die Öffnungszeiten könnten eingeschränkt sein.
Es wird vielleicht jedoch noch schlimmer kommen: Bis 2030 geht jeder zweite Mediziner in Pension, rechnet Prof. Mag. Dr. Leo Chini vom Forschungsinstitut für Freie Berufe an der Wirtschaftsuniversität Wien vor: „Leider gibt es derzeit deutlich weniger Ärzte in Ausbildung als freie Stellen. Eine rasche Lösung ist unbedingt zu fordern. Schließlich dauert die komplette Ausbildung zum Mediziner zehn Jahre – selbst wenn man 2018 mehr Studierende zulassen würde, hätte man die Wirkung erst 2028.“
Auch Ärztekammerpräsident Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres sieht in diesen Zahlen ein Alarmzeichen: „Die verantwortlichen Politiker und Vertreter der Sozialversicherung müssen endlich aufwachen. Das Problem ist ja altbekannt, die Entwicklung hat sich lange angekündigt.“ In der Ärztekammer fordert man als Sofortmaßnahme eine Aufwertung des Hausarztes – von der rot-schwarzen Regierung schon vor vielen Jahren versprochen, aber nie umgesetzt. Steinhart: „Für junge Ärztinnen und Ärzte ist dieser schöne Beruf momentan zu wenig attraktiv. Lange Arbeitszeiten, geringe Honorare trotz enormer Verantwortung, ausufernde Bürokratie sind dabei nur einige Stichworte.“
Kein Wunder, dass nur 2 % der Studenten und 16 % der Turnusärzte sicher sind, diesen Beruf später ergreifen zu wollen. Das hat eine Studie des Institutes für Allgemeinmedizin der Medizinuniversität Graz ergeben. Als Gegenmaßnahme fordern die Studienautoren unter anderem bessere Arbeits- sowie Ausbildungsbedingungen und einen Ausbau der Lehrpraxen. Im aktuellen Nationalratswahlkampf sichern ÖVP und SPÖ den Ärzten nun entsprechende Unterstützung zu: Um dem drohenden Ärztemangel zu begegnen, will Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) Hürden für Landärzte abbauen. Vorgesehen sind öffentliche Übergangspraxen, die den Einstieg erleichtern sollen. Neben den neuen Primärversorgungseinheiten, in denen mehrere Ärzte mit anderen Gesundheitsberufen zusammenarbeiten sollen, will die Ministerin mehr Praxis schon in der Ausbildung, flexiblere Verträge und Unterstützung bei der Praxisgründung. Honorare müssten auf individuelle Erfordernisse eingehen, weil man etwa für manche Patienten mehr Zeit brauche. Neue Arbeitszeitmodelle sollen Jobsharing, Teilzeitmöglichkeiten oder die Möglichkeit einer beruflichen Auszeit bieten. Außerdem soll es Anstellungsmöglichkeiten für niedergelassene Ärzte geben.
Auch die ÖVP will die Hausärzte aufwerten. Die Rahmenbedingungen sollen etwa durch Landarzt-Stipendien, Hausarzt-Verbände und sogenannte „Virtual Care Rooms“ verbessert werden. Das sind Räume, die mit einfachen Testmöglichkeiten und einem Videokonferenzsystem ausgestattet sind, in denen aber kein Arzt anwesend ist. Patienten können in einem ersten Schritt einzelne Tests selbst machen und per Video mit einem Arzt kommunizieren. FPÖ und NEOS nehmen SPÖ und ÖVP ihr Engagement allerdings nicht ab. Beide Oppositionsparteien verweisen darauf, dass nicht zuletzt die Regierungsparteien genau das in der Vergangenheit verhindert haben.
Für Szekeres müssen den neuen Tönen der politischen Parteien aber ohnehin nun rasch konkrete Schritte folgen. Man gehe davon aus, dass die Ministerin den Ernst der Lage erkannt habe und erwarte nun konkrete Umsetzungen noch in diesem Herbst. Klar sei auch, so Szekeres, dass die Honorare der Hausärzte jedenfalls auf das Niveau von Facharzt-Honoraren anzuheben seien. „Hier geht es um Leistungsgerechtigkeit und Fairness. Dazu gehört auch die professionelle Gleichstellung durch die Einführung des Facharztes für Allgemeinmedizin, was der Gesellschaft noch nicht einmal Kosten verursachen würde.“
Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigt auch eine andere Zahl: Im aktuellen European Health Consumer Index des Beratungsunternehmens HCP rangiert Österreichs Gesundheitswesen auf Platz 10 – im Jahr 2007 rangierte Österreich noch auf Platz eins. Experten sehen diesen Absturz als Folge politischer Fehler. Basis für Reformen soll nun die aktuelle „Studie zur Effizienzsteigerung des heimischen Sozialversicherungssystems“ sein: Die London School of Economics (LSE) schlägt in ihrer Effizienzstudie über die österreichischen Sozialversicherungen vier alternative Modelle für die künftige Struktur vor. Drei davon sehen eine teilweise Zusammenlegung von Trägern vor, eines würde die derzeitige Struktur beibehalten. Hier bleibt alles de facto wie gehabt, die Krankenkassen müssten sich aber per Gesetz und via Serviceeinrichtungen koordinieren. Und genau darin liegt für Steinhart die Schwäche der Studie: Für die Umsetzung der Vorschläge bleibt bis zum Wahltag keine Zeit. Dafür bleibt Zeit für Selbstlob: Studienautor Elias Mossialos stellte bei der Präsentation der mehr als 1.000 Seiten umfassenden Studie gemeinsam mit Sozialminister Alois Stöger und Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner fest, dass das österreichische System sehr gut funktioniere und der Zufriedenheitsgrad deutlich höher als in anderen Ländern sei. Es brauche daher „keine Revolution“, sondern vorsichtige, aufeinander aufbauende Veränderungen. Voraussetzung für alle Reformen sei eine Harmonisierung der unterschiedlichen Leistungen. Hier fordert Steinhart, dass weder bei den Leistungen noch bei deren Finanzierung eine Nivellierung nach unten stattfindet, „sollten einzelne Kassenfunktionäre genau das unter Vereinheitlichung verstehen“. Spielraum nach unten bestehe jedenfalls nicht mehr. Die Ärztekammer fordert, geeignetere Lösungen zu erarbeiten und deponiert, für Gespräche zur Verfügung zu stehen, „um die längst fällige Modernisierung des Leistungskatalogs der Krankenkassen voranzutreiben“, so Steinhart.

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