Hausärztliche Primärversorgung: Versuch eines Ein- und Ausblicks

Zuallererst wünsche ich Ihnen allen ein gutes, gesundes und sicheres neues Jahr – allen Widrigkeiten zum Trotz, deren es derzeit wahrlich nicht wenige gibt.

Sie hören hier möglicherweise bereits eine für mich etwas ungewöhnliche Grundstimmung heraus. Das hier wird auch tatsächlich ein ungewöhnlich getöntes Neujahrseditorial. Der übliche optimistische Elan, mit dem wir uns unseren Vorhaben und Projekten widmen, ist zwar weiterhin vorhanden – keine Sorge! –, doch mischt sich die Wahrnehmung hinein, dass uns vieles, das wir haben und schätzen, nicht selbstverständlich erhalten bleiben wird. Damit sind natürlich auch die vielen gesellschaftlichen Probleme gemeint, wie die Bedrohung durch den Klimawandel, durch steigende Preise und sinkende Lebensstandards (wobei letztere derzeit weniger uns selbst betreffen als vielmehr unsere Patient:innen). Gemeint sind aber auch wertvollste Errungenschaften wie das öffentlich-solidarische Gesundheitssystem.

Ein rezenter Artikel im Guardian zeichnet ein düsteres Bild durch halb Europa: hochgradig gefährdete Gesundheitssysteme von Großbritannien über Frankreich, Finnland, Spanien, Italien, und auch Deutschland, die beispielhaft angeführt, aber mit ihren Problemen keine Sonderfälle sind, sondern langsam Normalfall zu werden drohen. (Ehemals) wohl situierte, gut organisierte Länder mit entwickelten Gesundheitssystemen und langjähriger Erfahrung sehen sich einer akuten Bedrohung ihrer öffentlichen Gesundheitssysteme gegenüber. Bedrohungen, wie wir sie zunehmend auch aus Österreich kennen, sind: überlastete Spitäler, Pflegenotstand und die Pädiatrie in der Krise, zusätzlich hausärztliche Praxen, die unter- oder gar nicht besetzt sind, anhaltende Rekrutierungsprobleme auf allen Ebenen, Fluchtbewegungen vor allem aus den Spitälern. Angebahnt hat es sich schon lange, die Pandemie und nun die gegenwärtigen, zusätzlichen saisonalen Epidemien mit anderen Viren haben das Fass zum Überlaufen gebracht.

Noch funktioniert das österreichische System einigermaßen, jedoch bereits mit einigen Lücken und unter massiver Belastung vor allem der personellen Ressourcen. Ohne eine funktionierende Ebene der Primärversorgung lässt sich ein öffentlich-solidarisches System nicht verlässlich und zu vertretbaren Kosten aufrechterhalten. Ohne funktionierende hausärztliche Versorgung lässt sich ein flächendeckendes Primärversorgungssystem im Sinne der Definition nicht aufbauen, wobei weitere Berufsgruppen natürlich ebenfalls unverzichtbar sind. Unser einstmals unhinterfragt medico-zentrisches Bild einer Gesundheitsversorgung lässt sich nicht mehr aufrechterhalten (gestimmt hat es sowieso nie). Dass die hausärztliche Versorgung die notwendige Basis ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Gleichzeitig wird sichtbar, dass sie nicht mehr lückenlos funktioniert. Die Verfügbarkeit ist auch auf dem Land rückläufig, das Leistungsspektrum inhomogen und vor allem nach außen nicht sichtbar, die Verantwortlichkeiten und Aufträge im System sind ungeklärt. Lösungsversuche führen zu weiteren Problemen:

  1. Der Versuch, die Situation ausschließlich über die Einrichtung von PVEs entsprechend den derzeitigen PVE-Vereinbarungen zu lösen, kann als gescheitert betrachtet werden. Eine Reihe von PVEs erfüllen die genannten Aufgaben hervorragend: verlässlich, umfassend und kontinuierlich hausärztlich. Ein Automatismus dafür hat sich aus der Etablierung der Versorgungsform jedoch nicht ergeben. Nicht alle erfüllen alle diese Aufgaben. PVEs waren und sind ein wertvoller Impulsgeber, wir haben eine Menge gelernt – aus Erfolgen wie aus Fehlern. PVEs in der derzeit geforderten Form werden nie flächendeckend sein. Derzeit können diese nur einen Bruchteil der Bevölkerung (ca. 4 %) versorgen. Aus diesen Erkenntnissen muss nun gelernt werden.
  2. Der bestimmungswidrige Gebrauch des Begriffs Interprofessionalität ist nicht hilfreich. Respektvolle Zusammenarbeit brauchen wir dringend, Standortbestimmungen der an der Primärversorgung beteiligten Berufsgruppen ebenfalls. Jede und jeder muss eigenverantwortlich tun können, was sie bzw. er gelernt hat, alle müssen kooperieren. Was jedoch im Sinne der Qualität kontraproduktiv ist, ist die Übergabe von Aufgaben an andere, die diese nicht gelernt haben, ob nun Ärztinnen und Ärzte z. B. sozialarbeiterische Aufgaben übernehmen (was sie nicht können), oder Gesundheitsberufe ärztliche Funktionen erfüllen sollen, welche sie nicht gelernt haben, ist für das Ergebnis egal. Es ist nicht angemessen, und fair ist es auch nicht. Denn jeder Mensch möchte gut arbeiten, da bin ich mir wirklich sicher. Was ich aber nicht gelernt habe, kann ich nicht gut durchführen – Kolleginnen und Kollegen aus meiner Generation, die wie ich während der Ausbildung systematisch überfordert wurden, wissen, wovon ich spreche.
  3. Die neue große Hoffnung heißt nun Telemedizin. Diese bietet zweifellos viele Möglichkeiten. Was sie nicht kann, ist einen Mangel an (Haus-)Ärztinnen und Ärzten zu kompensieren. Medizin ohne Untersuchungsmöglichkeit, ohne Kontinuität, ohne multimodale Interaktion ist zwar möglich – aber dann und nur dann, wenn die Komplexität niedrig ist, und die Patient:innen bekannt. Ansonsten ist die Telemedizin eine Krücke, die zu einem suboptimalen Outcome und zu unnötigen, teuren Untersuchungen führt. Eine Überweisung zum MRT ist auch telemedizinisch möglich, eine simple physikalische Untersuchung aber nicht. Dazu gibt es Evidenz. Eine andere Sache ist die interprofessionelle telemedizinische Konsultation (z. B. zwischen Hausärztinnen und Hausärzten und Spezialistinnen und Spezialisten), wo es höchst spannende Ansätze gibt.
  4. Heuschrecken haben in Finnland und England bereits einen erheblichen Teil der primärversorgenden Zentren übernommen, sie beschäftigen Ärztinnen und Ärzte – teils auf Leiharbeitsbasis. Die ersten Übernahmen in Deutschland (MVZs = medizinische Versorgungszentren) sind im Gange. Das ist die Extremvariante einer Privatisierungstendenz, die wir in Ansätzen und auf allen Versorgungsebenen längst auch bei uns beobachten, die das Gesundheitssystem ausdünnt und zu Ungerechtigkeit führt.

Daraus ergibt sich eine auch für die Hausarztmedizin tatsächlich und kurz- bis mittelfristig gefährliche Lage. Die ÖGAM befasst sich seit Jahrzehnten mit der Beobachtung, Faktensammlung und Analyse der Situation in der Primärversorgung, in allen ihren Aspekten. Wir haben beträchtliche Expertisen gesammelt und sehen uns in der Lage, Konzepte und Wege zu entwickeln.

Wir sehen als wissenschaftliche Gesellschaft und Mitglied der WONCA nicht nur die Möglichkeit, dies zu tun, sondern die Verpflichtung. Als Mitglied der WONCA sind wir auch deren Grundsätzen verpflichtet – 2022 als WONCA Core Values veröffentlicht.

Die ÖGAM befasst sich statutengemäß mit der Gestaltung des Faches Allgemein- und Familienmedizin, Teil davon ist „die Beratung und Unterstützung der Entscheidungsträger in Politik, Sozialversicherung und Standesvertretung (Ärztekammer) vom Standpunkt der Forschung und Wissenschaft in den die Allgemeinmedizin betreffenden Fragen“ – und damit befasst sich die ÖGAM auch mit der Rolle und Funktion einer Primärversorgung, die ihren Beitrag zum Funktionieren unseres Gesundheitssystems leisten kann. In diesem Sinne suchen wir Wege und entwickeln Konzepte für den ärztlichen Anteil an der Primärversorgung. Natürlich dienen wir damit indirekt auch hausärztlichen Interessen – dem Interesse, gute, erfolgreiche Arbeit im Sinne der genannten Core Values leisten zu können, und dem Interesse, ein anerkanntes, geschätztes Fach auszuüben. Ausgerichtet ist die ÖGAM aber auf das Gemeinwohl, nicht auf Partikularinteressen.

Unser Hauptaugenmerk richtet sich derzeit auf drei wesentliche Aspekte, die aufs engste zusammenhängen:

  • Entwicklung und Vermittlung unseres Spezialfachs Allgemein- und Familienmedizin,
  • Entwicklung von Konzepten für eine verlässliche, flächendeckende Primärversorgung,
  • Erfassung und Beforschung von Daten und Fakten aus der Primärversorgung.

Mögen alle Stakeholder – von der Gesundheitspolitik bis zu den Ärztekammern – diese unsere gewachsene Expertise und unser Engagement nützen.
Wir stehen zur Verfügung.