Impfpflicht: medizinisch und ethisch argumentierbar!

Die aktuellen Masernausbrüche und ein Fall schwerer Rötelnembryopathie sind die Spitze des Eisbergs. Es ist 5 vor 12; in Österreich bestehen gewaltige Impflücken.

Versagt hat auch die Gesundheitspolitik. Wenn ganze Generationen grundimmunisier­ter, prinzipiell impfwilliger Erwachsener Impflücken haben, dann liegt das nicht an deren Weltanschauung und auch nicht (nur) an fehlender Motivation oder an Wissenslücken. Jahrzehntelang wurde nur Tetanus aufgefrischt, aber nicht Pertussis. Kinderärzte impfen die Kinder, warum nicht auch die Eltern? Die Masernimpfung wird jetzt beworben, jahr­zehntelang wurde kein Erwachsener danach gefragt. Und bei HPV ist die österreichische Politik überhaupt um Jahre zu spät aufgewacht.
Das Problem ist auch hausgemacht! Hier sind endlich gesundheitspolitische Maßnahmen und ein standardisiertes Konzept zur Verankerung der Impfungen in der Erwachsenen-medizin nötig.

Für besonders gefährlich halte ich die laufende Diskussion und die vorschnelle Ablehnung einer Impfpflicht, wenn 1.) medizinische Grundlagen unbeachtet bleiben und wenn 2.) die Autonomie unreflektiert zur höchsten Prämisse erhoben wird und andere ethische Grundwerte außer Acht gelassen werden.
Autonomie ist EIN ethisches Prinzip, aber nicht das einzige. In der letzten Ausgabe der Ärzte Krone schrieb Dr. Andreas Klein einen Gastkommentar, in dem er sich unter dem Titel „Impfpflicht – nein danke“ vehement gegen eine Impfpflicht, insbesondere unter dem Aspekt Kollektivschutz, ausspricht. Mit dem Argument, jeder, der möchte, könne sich ja selber schützen. – Eben nicht! Säuglinge, Hochaltrige, Immungeschwächte können das eben nicht. Kinder, deren Eltern die Impfung verweigern, übrigens auch nicht.

An dieser Argumentation irritiert, dass sie unter einem „ethischen Deckmäntelchen“ ge­führt wird. Mit einer ethischen Bewertung hat das jedoch wenig zu tun. Zum einen setzt jeder ethische Diskurs eine Erhebung der Fakten und ein Abwägen der Alternativen voraus. Diese Fakten (zum Beispiel wie viele Menschen auf Herdenschutz angewiesen sind, weil sie selbst gar nicht geimpft werden können etc.) wären also überhaupt einmal die Basis. Zum zweiten gibt es neben dem Argument der Autonomie auch andere ethische Prinzipien, die abzuwägen sind (zum Beispiel Fürsorge und Gerechtigkeit). Und neben individual-ethischen gibt es auch gesellschafts- und sozialethische Überlegungen …

Eine Argumentation, die vorschnell und a priori nur auf die Eigenverantwortung und die Autonomie abstellt, lässt beides vermissen: eine Analyse der medizinischen Fakten und eine differenzierte ethische Abwägung.

Susanne Hinger

s.hinger(at)medmedia.at

Leserbriefe zur Impfpflicht, die uns soeben unmittelbar vor Druck dieses Heftes erreicht haben, lesen Sie in der nächsten Ausgabe.