Mehr Lust statt Frust für chronisch Kranke

Ärzte Krone: Bis zu 80 Prozentr aller chronisch Kranken leiden laut Studien unter Sexualstörungen. Was steckt hinter dieser Zahl?

Elia Bragagna: Im Jahr 2001 hat man 27.000 Personen weltweit befragt, ob sie im Vorjahr sexuelle Probleme für länger als zwei Monate hatten. Diese Frage haben 46 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer mit „Ja“ beantwortet. Das heißt aber gar nichts, denn solche Phasen haben wir alle hin und wieder. Sexualprobleme sind außerdem viel häufiger als Sexualstörungen, von denen man erst spricht, wenn jemand darunter leidet. Jede zehnte Frau leidet unter Lustlosigkeit, jede zwanzigste unter Erregungs- und Orgasmusstörungen, sieben bis acht Prozent unter Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und weniger als fünf Prozent leiden an Vaginismus. Bei den Männern sind die häufigsten Sexualstörungen der vorzeitige Samenerguss und die Erektionsstörung. Der vorzeitige Samenerguss kommt über alle Altersgruppen etwa gleich häufig vor: Etwa jeder vierte bis fünfte Mann ist davon betroffen. Auch Männer mit Erektionsstörungen sehe ich sehr häufig in meiner Praxis. Mit steigendem Alter nehmen die Komorbiditäten zu und dementsprechend auch die Erektionsstörungen. Ab dem 60. Lebensjahr ist jeder Zweite mehr oder weniger stark betroffen, da ist es besonders wichtig, dass der Allgemeinmediziner danach fragt.

Und trotz der Häufigkeit möchten die wenigsten Patienten ihre Ärzte über die Probleme beim Sex informieren?

Naja, man muss sich schon anschauen, warum die Patienten nicht darüber reden. An die 70 Prozent haben zum Beispiel das Gefühl, dass sich ihre Ärzte mit diesem Thema unwohl fühlen. Und auch, dass sie gar nicht wüssten, wie sie ihnen helfen können. Das hält natürlich zusätzlich davon ab, ein ohnehin schon tabuisiertes Thema anzusprechen. Es gibt eine Schweizer Studie die sagt, wenn die Patienten wüssten, dass sie hilfreiche Informationen erhalten, würden sie über ihre Sexualstörungen reden – selbst wenn sie sich schämen.

Wie kann man Patienten zum Gespräch motivieren?

Ich sage immer, wir brauchen Brückensätze. Die Patienten müssen erkennen, dass wir keine Voyeure sind, die wissen wollen, was sie im Bett treiben, sondern sie müssen den Zusammenhang sehen, weswegen ein Arzt überhaupt nach ihrem Sexualleben fragt. Wenn man weiß, dass ein fünf Jahre lang schlecht eingestellter Diabetes mellitus bei fast 100 Prozent der Patienten zu einer Erektionsstörung führt, kann man darüber aufklären und sagen: „Falls Sie jemals damit Probleme haben sollten, können Sie sich gerne an mich wenden.“ Diese Brückensätze kann ich bei allen Erkrankungen und Operationen anwenden, die Sexualstörungen verursachen können. Dann hat der Patient auch nicht das Gefühl, wir Ärzte buddeln in seiner Privatsphäre herum. Wenn im Moment kein Problem besteht und der Patient wissen will, was er tun muss, damit es so bleibt, kann ich ihm sagen, er soll aufpassen, dass seine Zuckerwerte keine Spitzen machen und dass der HbA1c unter 7 Prozent bleibt.

Hat man im Praxisalltag überhaupt Zeit für ein sexualmedizinisches Gespräch?

Meine Erfahrung ist, je besser man’s kann, umso schneller ist man fertig. Man muss es auch nicht immer ausführlich besprechen, sondern kann zum Beispiel einen eigenen Termin für ein gezieltes Gespräch mit Sexualanamnese ausmachen. Und wer das kann und die Grundausbildung in der Ärztekammer gemacht hat, braucht wenig Zeit dafür. Es gibt eine Empfehlung der WHO, die lautet: Sexuelle Gesundheit ist Teil der Gesamtgesundheit und sollte daher auch immer angesprochen werden. Da möcht’ ich gern wissen, wer das macht.

Wie kann man Risikopatienten für Sexualstörungen erkennen?

Ganz grob: Bei allen Erkrankungen, Operationen, Traumata, Bestrahlungen und Medikamenten, die das Gehirn, die Nervenleitungen, Blutgefäße, Hormone, Genitalien und Muskeln beeinflussen, kann ich mein Alarmglockerl für Sexualfunktionsstörungen läuten lassen. Eine um 1 mg erhöhte Harnsäure verdoppelt beispielsweise das Risiko einer Erektionsstörung – aber wer denkt schon daran? Rund 69 Prozent der Männer und Frauen mit Depression haben Sexualstörungen. Auch die rheumatischen Patienten darf man nicht vergessen, mit ihren chronischen Schmerzen, genauso wie die jungen Patienten, mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder multipler Sklerose. Krebs ist natürlich auch ein großes Thema. Bei jedem zweiten onkologischen Patienten besteht eine Sexualstörung – entweder weil die Erkrankung verarbeitet werden muss oder wegen der Therapiemaßnahmen wie Bestrahlung, Chemotherapie oder Hormonblocker. Gerade bei der Begleitung von chronischen Patienten sind die Allgemeinmediziner so wichtig, und ich hab’ das Gefühl, dass sie gar nicht wertschätzen können, wie wichtig sie sind.

Gibt es praktische Tipps und allgemeine Empfehlungen?

Die Gefahr in unserer allgemeinmedizinischen Praxis ist, dass wir drei Antworten hören und dann schon einen Tipp geben. Wichtig wäre aber eine ordentliche Sexualanamnese, weil ich in dieser kurzen Zeit ja noch gar nicht erfasst haben kann, wo das eigentliche Problem liegt und ob die Ursache organischer oder psychosozialer Natur ist. Wenn eine Frau an Lustlosigkeit leidet, muss ich sie fragen, warum sie lustlos ist, und kann ihr nicht einfach empfehlen, ein Glas Sekt vor dem Sex zu trinken. Ohne Sexualanamnese gebe ich erstmal gar keinen Tipp. Das Allerwichtigste ist, dass die Grunderkrankung gut behandelt ist. Man kann die Patienten natürlich auch an jemanden verweisen, der sich gezielt um die Sexualstörung kümmern kann. Auf www.sexmedpedia.at zum Beispiel gibt es dazu eine Übersicht von sexualmedizinisch geschulten Kollegen und Sexualtherapeuten. Auch Ärzte können sich auf dieser Website zum Thema informieren.

Welche Behandlungsoptionen stehen zur Verfügung?

Prinzipiell gibt es für alle Sexualstörungen etwas mehr oder weniger Gutes. Bei den Männern mit Erektionsstörungen sind schon lange die PDE-5-Hemmer als potenzfördernde Medikamente im Einsatz. Diese sollte man differenziert einsetzen. Bei Männern mit einer massiven endothelialen Dysfunktion, die weder zu nächtlichen noch zu morgendlichen Erektionen fähig sind, wird eine Bedarfsmedikation nicht mehr ausreichen. Hier passt die tägliche Gabe von niedrigdosierten PDE-5-Inhibitoren besser. Diese tragen auch dazu bei, dass sich der Penis auch in den REM-Phasen aufrichtet und so sein „nächtliches Muskeltraining“ absolvieren kann. Wenn diese Medikamente keine Wirkung mehr zeigen, kann man entweder Prostaglandin intraurethral oder Schwellkörper-Autoinjektionen einsetzen. Diabetespatienten bleibt am Ende meist nur noch die Vakuumpumpe. Ein sexuell unsicherer Patient braucht aber bei Erektionsstörungen vor allem eine Schulung durch Sexualpädagogen, anstatt Potenzmittel, um sich in seiner Rolle als Liebhaber sicher zu fühlen. Beim vorzeitigen Samenerguss ist es wichtig, zu erfragen, welche Eigentherapieversuche schon gemacht wurden. Manche sagen dann, sie hätten schon Alkohol getrunken oder gekifft. Einigen hilft das vielleicht ein bisschen, den meisten aber nicht. Rund 30.000 Männer kommen in Österreich bevor sie in die Frau eindringen, und etwa 150.000 innerhalb von eineinhalb Minuten. Zugelassen ist derzeit nur ein Medikament für die seltene angeborene Form des vorzeitigen Samenergusses. Off-label wird gerne auch Tramadol verwendet, da muss man aber auf das Suchtpotenzial aufpassen. Von allen anderen Tipps wie Cremes mit örtlicher Betäubung und Stopp-Start-Techniken halte ich nicht viel. Bei einer Frau mit genitaler Erregungsstörung kann ich off-label auch Potenzmittel geben – oder Turnera diffusa, auch bekannt als Damiana. Letzteres verbessert die genitale Durchblutung, entspannt die Frau und erzeugt im Gehirn eine Testosteron-Erhöhung, was zur Luststeigerung führt. Sexspielzeuge zum besseren Erregungsaufbau funktionieren auch sehr gut.

Und wie schaut es mit Sex im Alter aus?

Viele haben bis ins hohe Alter Sex. Wir dürfen nicht vergessen, dass das jetzt die 68er-Generation ist, die überhaupt nicht daran denkt, Sex aufzugeben, wenn er gut war. Sie brauchen offene Ärzte, die sie begleiten und verständnisvoll reagieren. Ich habe etliche Patienten, die über achtzig sind – auch Paare. Da muss man dann einfach schauen, was möglich ist, und was nicht. Nur bitte nicht sagen: „Naja, das ist in Ihrem Alter normal.“ Es ist ja auch normal, dass ich eine Brille und Zahnersatz im Alter brauche, deshalb muss ich trotzdem nicht zahnlos und fehlsichtig bleiben.