Neurologie im Zeitalter der Globalisierung

Neurologische Erkrankungen verursachen nicht nur erhebliches Leid und Verlust an Lebensqualität, sondern auch enorme Kosten, betonte Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, AKH/Medizinische Universität Wien, Präsident des Weltkongresses für Neurologie. „Zwölf von 100 Menschen sterben aufgrund einer neurologischen Störung. Zwar sind große Behandlungsfortschritte zu verzeichnen, doch noch herrschen drastische Ungleichheiten beim Zugang zu neurologischer Versorgung. Ein Schlüssel zur Verbesserung ist globale Vernetzung.“
Neurologische Störungen machen laut WHO zwischen 11 und 4,5% der Krankheitslast aus, je nachdem, ob ein Hoch- oder Niedriglohnland betrachtet wird. Das sind weit mehr als Erkrankungen der Atemwege, des Verdauungssystems oder bösartige Tumorerkrankungen. WHO-Prognosen zufolge wird diese Belastung in den nächsten Jahren stark ansteigen. Gleichzeitig haben, global betrachtet, viele Menschen keinen oder nur unzureichenden Zugang zu neurologischer Versorgung. Auff: „Wir müssen uns daher vehement für mehr globale Zusammenarbeit in der Forschung und der Aus- und Weiterbildung sowie für mehr Mittel in der klinischen Versorgung einsetzen, um die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können.“
Im Folgenden ein paar interessante Resultate, die am WCN präsentiert wurden.

Parkinson-Patienten: misstrauischer und risikofreudiger als Gesunde

Parkinson-Patienten fällt es offensichtlich schwerer als Gesunden, anderen zu vertrauen. „Genau jene Hirnareale, die für Vertrauen zuständig wären, sind durch die Krankheit beeinträchtigt: die Basalganglien des Großhirns, der frontale Kortex und das limbische System. Außerdem werden Dopamin und Serotonin im Falle von Parkinson reduziert ausgeschüttet – also jene Neurotransmitter, die sich positiv auf die Vertrauensfähigkeit auswirken. Die Vermutung liegt nahe, dass viele neuropsychiatrische Probleme der Betroffenen mit übermäßigem, krankheitsbedingtem Misstrauen zusammenhängen“, erklärte Studienautor Dr. Andrija Javor (AKH Linz).
Um die Hypothese vom fehlenden Vertrauen zu überprüfen, wurde das Verhalten von zehn weiblichen und zehn männlichen Parkinson-Patienten mit Dopamin-Medikation und leicht fortgeschrittener Erkrankung mithilfe eines Computerspiels untersucht und mit dem Verhalten von 20 gesunden Kontrollpersonen verglichen. Konkret ging es in dem Spiel darum, neutralen „Treuhändern“ eine Geldsumme von bis zu zehn Euro anzuvertrauen. Während die gesunden Probanden dem virtuellen Treuhänder eine durchschnittliche Summe von 5,50 Euro übertrugen, waren die Parkinson-Patienten mit nur 3,40 Euro deutlich zurückhaltender. „Mit eingeschränkter Risikofreudigkeit hängt das allerdings nicht zusammen“, betonte Javor. Denn beim späteren Würfelspiel waren nämlich die Kranken die Wagemutigeren – sie fällten im Laufe des Spiels im Durchschnitt rund zehn riskante Entscheidungen, bei den Gesunden waren es nur sieben. „Auch wenn noch weiter Forschung in diesem Bereich nötig ist, tragen die Erkenntnisse bereits zu einem besseren Verständnis für die Probleme von Parkinson-Kranken bei“, so der Experte.

Emotionaler Stress – ein Auslöser von Alzheimer?

Stress könnte ein möglicher Auslöser für eine Alzheimer-Erkrankung sein. Das zumindest legen die Ergebnisse einer Studie nahe, die vom argentinischen Forscher Dr. Edgardo Reich, Buenos Aires, Argentinien, präsentiert wurde. Das Forscherteam untersuchte 118 Patienten mit einer diagnostizierten Alzheimer-Erkrankung. „Fast drei von vier Alzheimer-Patienten hatten in den zwei Jahren vor dem Auftreten von Symptomen unter schwerem emotionalem Stress, Trauer und Sorgen gelitten – dreimal so viele wie in der Kontrollgruppe, wo das nur auf 26% zutraf”, sagte Reich. Die häufigsten Belastungen waren der Tod eines Partners (24 Fälle), der Tod eines Kindes (15 Fälle), Gewalterfahrungen wie körperliche Angriffe oder Raubüberfälle (21 Fälle) oder Autounfälle (elf Fälle). Andere möglicherweise krankheitsauslösende Stressfaktoren waren finanzielle Probleme, ein Pensionsschock, migrationsbedingte Anpassungsprobleme, ein schmerzlicher Verlust oder die Diagnose einer schweren Erkrankung bei Angehörigen.
„Stress könnte, diesen Ergebnissen zufolge, ein Auslöser für die ersten Symptome von Alzheimer sein. Ich schließe zwar aus, dass es sich hier um einen monokausalen Zusammenhang handelt, aber es gibt immer mehr wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Stress einen degenerativen Prozess im Gehirn auslösen und Dysfunktionen des Immunsystems und des neuroendokrinen Systems vorangehen kann“, so Reich.

 

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Neuromuskuläre Erkrankungen –Risikofaktor Medikamente

„Neuromuskuläre Erkrankungen umfassen eine sehr große und heterogene Gruppe von Krankheiten mit höchst unterschiedlichen Ursachen und Auswirkungen“, sagte Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold, Kaiser-Franz-Josef-Spital, Wien, der gewählte nächste Generalsekretär der World Federation of Neurology (WFN). „Eine Gruppe, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind die iatrogenen Myopathien, vor allem bei älteren Menschen, weil sie häufig eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen. Zu diesen Medikamenten mit muskulären Nebenwirkungen gehören vorwiegend Lipidsenker (Fibrate), seltener andere Medikamente wie Barbiturate, Abführmittel, entwässernde Diuretika oder die immunsupprimierende Substanz Zyklosporin. Auch Taxane können bei Chemotherapie Muskelschwäche verursachen, ebenso wie der chronische Gebrauch von Kortison. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Statin-assoziierte Myopathie ein. Gemessen an der großen Zahl von Verschreibungen sind Statin-assoziierte Myopathien aber relativ selten und in den meisten Fällen vergleichsweise harmlos. Allerdings gibt es Hinweise, dass sich aus einer solchen Statin-Myopathie eine Form der immunmediierten Myopathie entwickeln könnte, eine um vieles schwerwiegendere Erkrankung. Diese häufig unterschätzte Form der Statin-Nebenwirkung muss also ernst genommen und beobachtet werden.“

Wichtige Fortschritte bei der Früherkennung von Demenz

Die Demenzforschung macht aktuell besondere Fortschritte in der Diagnostik. „Da immer mehr Biomarker der verschiedenen Demenzformen bekannt werden, nähert sich die Differenzialdiagnose von Alzheimer und anderen Demenzen immer mehr einer Diagnose im Frühstadium an, in dem die kognitiven Beeinträchtigungen noch gering sind“, erklärte Univ.-Prof. Dr. Werner Poewe, Medizinische Universität Innsbruck, Co-Chair des Scientific Program Committee des WCN 2013. „Bei der Alzheimer-Erkrankung konzentrieren sich derzeit zahlreiche Studien weltweit auf die Rolle des Proteins Beta-Amyloid in der Entstehung und Entwicklung der Erkrankung, die uns zum Teil schon in Richtung neuer Therapien führen – zum Beispiel zu einer möglichen Immunisierung gegen Beta-Amyloid – Stichwort Alzheimer-Impfung.“
Ablagerungen von Beta-Amyloid im Gehirn können durch Magnetresonanztomografie (MRT) sichtbar gemacht werden, Veränderungen des Stoffwechsels in der Großhirnrinde über Positronenemissionstomografie (PET). Eine weitere Verbesserung in der Diagnose bringt die Messung von Tau-Proteinen und Beta-Amyloid in der Rückenmarksflüssigkeit.

„Japan-Diät“ schützt vor Demenz

Eine gesunde Ernährung aus Sojabohnen, Gemüse, Algen und Milchprodukten sowie der Konsum von grünem Tee kann Demenzerkrankungen vorbeugen. Das zumindest zeigen zwei Studien aus Japan.
„Bisher gab es keine Studien, die den Zusammenhang zwischen Ernährungsgewohnheiten und dem Risiko für Demenzerkrankungen in der asiatischen Bevölkerung untersuchten“, erklärte Dr. Mio Ozawa, Kyushu University, Fukuoka, Japan. Die Forscherin und ihr Team nahmen die Ernährungsgewohnheiten der japanischen Durchschnittsbevölkerung genauer unter die Lupe und beobachteten das Ernährungsverhalten von 1.006 Japanern im Alter von 60–79 Jahren über einen Zeitraum von 15 Jahren. Gemäß ihrem Ernährungsverhalten wurden die Teilnehmer in sieben Gruppen unterteilt. Im Laufe der Studie entwickelten insgesamt 271 Probanden eine Demenzerkrankung, 144 davon litten an Alzheimer und 88 an einer vaskulären Demenz. Die geringste Rate an Demenzerkrankungen wies dabei jene Gruppe auf, die die höchste Aufnahme von Sojabohnen und Sojabohnenprodukten, Gemüse, Algen, Milch und Milchprodukten hatte sowie eine nur geringe Menge von Reis konsumierte.
Günstig könnte auch der Konsum von grünem Tee, der sehr viele Catechine und Theanin enthält, auf das Auftreten von kognitiven Störungen wirken. Eine Forschergruppe um Prof. Kazuki Ide, University of Shizuoka, Shizuoka, Japan, untersuchte zwölf Bewohner eines Pflegeheimes, die an einer kognitiven Dysfunktion litten. Die Probanden konsumierten 2 g Grünteepulver täglich. Vor und nach der „Teekur“ wurden die kognitiven Fähigkeiten der Probanden mit einem Test zur Demenzerkennung (Mini Mental State, MMSE) erhoben. „Die MMSE-Ergebnisse verbesserten sich nach der Intervention signifikant“, berichtete Ide. Die Gabe von grünem Tee könne möglicherweise die kognitive Funktion verbessern, zur Absicherung dieser Ergebnisse seien allerdings noch weitere Langzeitstudien notwendig, betonte Ide.

Multiple Sklerose: Entwarnung für Männer mit Kinderwunsch

Gute Nachrichten für Männer, bei denen ein Baby unterwegs ist oder die eine Familie gründen wollen, aber an multiple Sklerose (MS) leiden: Ihr Kind wird aufgrund der väterlichen Erkrankung nicht verfrüht oder mit zu geringem Gewicht zur Welt kommen. Das zumindest zeigt eine kanadische Studie. „Unsere Studie zählt zu den ersten, die sich mit dem Einfluss der Autoimmunerkrankung des Vaters auf das Ergebnis von Schwangerschaft und Geburt beschäftigt hat. Die Ergebnisse sind für werdende Eltern eine Beruhigung“, betonte Studienleiterin Dr. Ellen Lu, University of British Columbia, Vancouver, Canada. Für die Studie wurden die Multiple-Sklerose-Datenbank und Daten des British Columbia Perinatal-Registers mit der British Columbia Vital Statistics Agency verknüpft und für den Zeitraum von 1996–2010 mehr als 200 Geburten von Kindern herausgefiltert, deren Väter an MS leiden. Die weiteren Analysen ergaben, dass weder die Dauer der Erkrankung noch eine Behinderung des Vaters einen signifikanten Einfluss auf Geburtsgewicht oder Dauer der Schwangerschaft genommen hatten.

Massive psychosoziale Probleme bei Epilepsie

Ruhelosigkeit, emotionale Betroffenheit aufgrund der Krankheit, Angstzustände – das sind die drei psychosozialen Probleme, über die Epilepsiepatienten am meisten klagen, wie aus einer europaweiten Studie hervorgeht. „Um bestmögliche Versorgungsprogramme für Menschen mit Epilepsie entwickeln zu können, bedarf es auch eines umfassenden Verständnisses ihrer spezifischen psychosozialen Probleme“, erklärte Studienautor Dr. Rui Quintas, Istituto Neurologico Carlo Besta, Mailand.
Für die Studie wurden je 40 Frauen und Männer mithilfe des PARADISE-Protokolls interviewt. „PARADISE“ steht für „Psychosocial Factors Relevant to Brain Disorders in Europe“ und bietet einen innovativen Zugang, um klinische Daten von Menschen zu erheben, die an psychosozialen Problemen aufgrund einer neurologischen Erkrankung leiden. Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer betrug 41 Jahre. Bei zwei Drittel der Patienten (69%) reichte die klinische Einstufung der Erkrankung von moderat bis schwer. Im Durchschnitt wurden pro Person zwei verschiedene Anti-Epilepsie-Medikamente eingenommen.
Von den psychosozialen Belastungen, mit denen Patienten im Alltag zu kämpfen haben, wurden am häufigsten genannt: Ruhelosigkeit (80%), emotionale Betroffenheit durch den Gesundheitszustand (74%), Ängstlichkeit (69%), depressive Symptome (66%), Probleme beim Lenken eines Fahrzeugs (60%), Erinnerungsschwierigkeiten (58%) und Probleme am Arbeitsplatz (55%).
Immerhin die Hälfte der Befragten gab an, dass sich ihre Schwierigkeiten im Laufe der Jahre verbessert hätten. Mehr als jeder Vierte (27%) fand jedoch, die Probleme seien unverändert geblieben. „Was den Betroffenen an äußeren Faktoren überwiegend zu schaffen macht, sind Medikamentennebenwirkungen (59%) und mangelnde Sensibilität im Umgang mit Epilepsie-Kranken (52%). Das ist nicht nur ein Auftrag an die Wissenschaft, sondern auch an die Gesellschaft, durch mehr Bewusstseinsbildung eine Verbesserung der Situation zu erreichen“, resümierte Quintas.

Junge Schlaganfall-Patienten erholen sich besser

Das funktionelle Outcome nach einem Schlaganfall, also die Aussicht auf eine Erholung ohne Beeinträchtigung, ist vor allem eine Frage des Alters. Für die Studie analysierten Experten der „Austrian Stroke Unit Collaboration“ Daten aus dem Österreichischen Stroke Unit Register. „Unser Ziel war es, den Zusammenhang zwischen dem Alter von Patienten und einem guten funktionellen Ergebnis nach einem ischämischen Schlaganfall vor allem bei jüngeren Betroffenen zu untersuchen, da diese in bisherigen Analysen unterrepräsentiert waren“, berichtete Ass.-Prof. PD Dr. Michael Knoflach, Medizinische Universität Innsbruck.
Schlaganfall ist keineswegs nur eine Erkrankung des höheren Alters. 14,1% der 43.163 Patienten, die im Österreichischen Stroke Unit Register erfasst sind, sind 55 Jahre alt oder jünger. Daten zum funktionellen Ergebnis drei Monate nach dem Schlaganfall, gemessen anhand der Rankin-Skala, lagen für eine repräsentativen Auswahl von 14.256 Patienten vor, die vor dem Schlaganfall keine Behinderung aufwiesen. 2.223 von ihnen waren 55 Jahre alt oder jünger. Die Rankin-Skala, eine standardisierte Messzahl, beschreibt das Ausmaß der Behinderung nach einem Schlaganfall.
Die Analyse der Daten zeigte, dass 88,2% der Patienten, die 55 Jahre oder jünger waren, ein gutes funktionelles Ergebnis nach einem ischämischen Schlaganfall aufwiesen. „Unsere Daten zeigen, dass mit zunehmendem Alter, unabhängig von allen anderen Faktoren, das funktionelle Ergebnis immer schlechter wird“, erklärte Knoflach. „Das Alter ist also ein signifikanter Prognosefaktor für mögliche Behinderungen nach Schlaganfall, unabhängig von Schweregrad, Therapie, Geschlecht oder zusätzlichen Komplikationen.“ Die besten Ergebnisse zeigte die Gruppe der 18–35-jährigen Patienten, diese verschlechterten sich in Zehn-Jahres-Schritten um jeweils 3–4%. Ab 75 Jahren nimmt das Risiko, nach dem Schlaganfall eine bleibende Behinderung zu haben, besonders deutlich zu.