Der Umgang mit Medikamenten war immer schon schwierig und erforderte Wissen, Gespür, und Sorgfalt. Probleme, die heute die hoch entwickelte Medizin der wohlhabenden Länder zusätzlich mit sich bringt, sind eine immer komplexere (Poly-)Medikation, zunehmend schwierigeres Wissensmanagement im Dschungel teils widersprüchlicher und rasch wechselnder Empfehlungen, Patienten mit vielfältiger (auch interagierender) Komorbidität sowie das Ausdehnen der medikamentösen Behandlung auf eine mögliche zukünftige Entwicklung von Krankheiten (präventive bzw. prospektive Medikation). All das vor dem Hintergrund hoher gesellschaftlicher Erwartung an Sicherheit, sowie hoher Bereitschaft, hinter unerwünschten Ereignissen grundsätzlich Fehler, und hinter diesen Fehlverhalten zu vermuten.
Fehler bei der Medikation sind zwar die wichtigste Einzelursache für Patientenschädigung (Kasten 1) und ihre Vermeidung ist ein wichtiges Ziel beim Medikationsmanagement, unerwünschte Wirkungen sind aber längst nicht immer das Resultat eines Fehlers, sondern oft Ergebnis einer wohl überlegten Entscheidung für das kleinere Übel. Ein weiteres Ziel ist daher die Optimierung der Medikation und vor allem auch des Medikationsprozesses (Kasten 2).
Eine ganze Reihe von Personengruppen bringt sich auf unterschiedliche Weise in diesen Prozess ein: Spezialisten, die Teilaspekte behandeln, Apotheker, die beraten und komedizieren, Pflegepersonen, Angehörige, Nachbarn und, ganz wesentlich: Massenmedien. Viele Schnittstellen, viele Informationslücken, viele Fehlerquellen. Außerdem sind Patienten (und ihre Angehörigen) autonomer und weniger „folgsam“ geworden. Medikation ohne Kenntnis des Patienten, ohne sein Vertrauen und seine Mitwirkung ist weder möglich noch sinnvoll.
Medikationsmanagement ist also hoch komplex und geht über bloße Fehlervermeidung weit hinaus.
Kasten 1
Der Großteil der im Rahmen einer Erhebung im Bereich der Primärversorgung erfassten Fehler sind Prozessfehler:
„Fehler“ meint in diesem Zusammenhang immer sowohl Irrtümer und Verwechslungen, als auch Wissensdefizite. An solchen Fehlern sind häufig mehrere Personen beteiligt, auch der Patient selbst.
Kasten 2
Medikationsmanagement in der Praxis erfordert:
Die Medikation ist ein Schritt eines Prozesses, denn sie ist – immer! – Teil eines auf die Bedürfnisse, Krankheiten und Risikofaktoren in einem gemeinsamen Prozess abgestimmten Behandlungskonzeptes zur Heilung bzw. Linderung oder Vorbeugung von Krankheiten. Keine Therapieentscheidung ohne Diagnostik, und: Nicht jede Diagnose hat immer eine medikamentöse Konsequenz.
Solange der Patient Patient ist, ist dieser Prozess nicht abgeschlossen. Er umfasst: Diagnose- bzw. Indikationsstellung, Entscheidung für oder gegen ein Medikament, Auswahl, Dosierung und Anwendung, Kontrolle und Monitoring, Abgabemodalitäten, Re-Evaluierung, Beendigung der Medikation, Wiedereinführung …
Auf jeder Stufe sind Entscheidungen zu treffen, sind Patient und ev. auch weitere Personen zu involvieren. Es ist also ein hoch komplexer Vorgang, der breites, aktuelles generalistisches Wissen, gute Kommunikation, eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung, gute Organisation, unterstützende Praxistools inkl. EDV, optimierte Teamarbeit und ausreichend Zeit verlangt (Kasten 2). Eine Zentralperson muss das Gesamtkonzept verantworten, wenn es diese Bezeichnung verdienen soll. Die kritische Würdigung in Zusammenschau mit Gesamtmedikation und Begleit-/Grundkrankheiten ist im Normalfall nur dem Generalisten möglich, nur er hat den Überblick über alle Fächer (Komorbiditäten) und über die Vorgeschichte. Er ist für die Zusammenschau unterschiedlicher Behandlungsstränge gerüstet und verantwortlich. Wenn im ungegliederten österreichischen System überhaupt irgendwo die Fäden zusammenlaufen, dann beim Hausarzt.
Vor gut einem Jahr hat sich eine Arbeitsgruppe der ÖGAM konstituiert, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Maßnahmen zur Umsetzung eines strukturierten MM in der Praxis anzuregen, und diesen, soweit möglich, einen Weg zu bahnen (Kasten 3).
Folgende Fragestellungen erwiesen sich als zentral:
Kasten 3
ÖGAM-Arbeitsgruppe Medikationsmanagement; Arbeitsschwerpunkte
Bei Neueinführung einer Medikation ist einerseits die Indikation zu prüfen, gegen das Neben- und Wechselwirkungsprofil abzuwägen und mit der Vorgeschichte des Patienten und seinen Komorbiditäten in Einklang zu bringen (Kontraindikationen!). Andererseits ist das Behandlungskonzept mit dem Patienten zu besprechen, denn nur wenn der Patient die Medikation akzeptiert und die Modalitäten (Einnahme/Anwendung, Monitoring) versteht, lässt sich Adhärenz einigermaßen sicherstellen.
Nach Spezialisten- oder Krankenhauskontakt ist eine Anpassung der Dauermedikation erforderlich. Bisher erreicht die an der Behandlung beteiligten Ärzte oft nur ein Teil der Information. Das sollte sich mit e-Medikation nach und nach ändern. Inwieweit dies prozesserleichternd sein wird, wird jedoch von Usability und Einbindung in die jeweilige Praxissoftware abhängen.
Eine etablierte Medikation muss in Abständen oder kontinuierlich reevaluiert und/oder monitiert werden, denn es ist immer damit zu rechnen, dass die Medikation, die der Patient tatsächlich einnimmt, sich deutlich von der unterscheidet, von der der Arzt glaubt, dass er sie einnimmt. Dazu kommen Zusatzmedikamente von Fachärzten (ohne Rückmeldung an den Hausarzt), Medikamente von Familienmitgliedern oder Nachbarn, diverse nicht verschreibungspflichtige (OTC-)Präparate, die in der Apotheke gekauft werden (auch „nur pflanzliche“ Medikamente, Homöopathika oder oft stark interaktionsrelevante Allopathika wie z.B. NSAR). E-Medikation kann auch hier teilweise Erleichterung bringen, aber auch nur dann, wenn diese Medikamente in einem überschaubaren Zeitraum, nicht übers Internet und, im OTC-Bereich: vom Patienten selbst gekauft wurden.
Der erste Schritt ist also immer die vollständige Erfassung der tatsächlich eingenommenen Medikation.
Um in einem zweiten Schritt beurteilen zu können, ob die Dosierung korrekt ist und alle therapiewürdigen Behandlungsziele erfasst sind, müssen auch Wirksamkeit und mögliche unerwünschte Wirkungen evaluiert werden. Dazu dient das Gespräch mit dem Patienten und das jeweils erforderliche Monitoring (wie z.B. Nieren- oder Leberfunktion, EKG, körperliche Untersuchung etc.). Medikamente, die nicht mehr indiziert sind, müssen abgesetzt werden. In anderen Fällen ist eine Dosisanpassung durchzuführen, zu dokumentieren, und dem Patienten zu erklären. Das kann z.B. der Fall sein, wenn der Behandlungsgrund wegfällt, unerwünschte Wirkungen überwiegen, die korrekte Einnahme nicht gesichert ist und daraus Gefährdung entsteht (z.B. orale Antikoagulation) oder die Gesamtsituation sich ändert (neue oder aggravierte Komorbiditäten, Palliativsituation etc.). Desgleichen, wenn neue Erkenntnisse eine Änderung der Medikation sinnvoll machen. Dabei gibt es Unterstützung durch einige Praxistools, die von der ÖGAM erstellt bzw. gesammelt wurden. Eine Liste dieser Tools findet sich auf der ÖGAM-Website.
Immer ist sicherzustellen, dass der Patient (oder auch: die Betreuungsperson) über Veränderungen informiert und mit diesen einverstanden ist.
Dies sind für die unmittelbare Sicherheit des Patienten (und aller Behandler!) wichtige Schritte: Nur bei guter Medikamentenwartung durch den Hausarzt ist die Übergabe vollständiger Information an Mit- und Weiterbehandler inkl. Indikationen, bekannten Unverträglichkeiten, Kontraindikationen usw. möglich.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben müssen mehrere Berufsgruppen zusammenwirken. Was die Aufgabenverteilung anlangt, gibt es ein einzig sinnvolles Prinzip: Jeder tut das, wofür er ausgebildet wurde und für das er ausgestattet ist (juristisch, organisatorisch und strukturell).
Gutes Medikationsmanagement verlangt die Verfügbarkeit der maßgeblichen Informationen, die zur Zusammenschau erforderliche fachliche Breite und eine tragfähige, auf Kontinuität und Vertrauen fußende Beziehung zwischen Arzt und Patient (Kasten 3).
Das bedeutet, dass dem hausärztlichen Generalisten diese Rolle wohl zufällt – bei der derzeitigen Sach- und Fachlage allerdings keine einfache Aufgabe.
Die Umsetzung des therapeutischen Konzeptes erfordert Kooperation mit vielen Partnern: mit Pflegediensten, Ordinationsassistentinnen, Apothekern, anderen Betreuungsebenen – nicht nur im Bereich des Medikationsmanagements, dort aber mit besonderer Sorgfalt und unter möglichst klarer Definition der jeweiligen Zuständigkeiten.
Praxisassistenz und Pflegedienste unterstützen die richtige Einnahme oder Applikation: Hilfe bei der Dosierung, Wiederholung wichtiger Informationen, Unterstützung bei Einnahme oder Applikation, Wahrnehmung von Einnahmefehlern, Unsicherheiten, Nebenwirkungen und Wirkungen.
Wichtige Aufgaben, die Apotheken im Rahmen einer umfassenden Grundversorgung hinsichtlich Medikamentensicherheit übernehmen könnten, wären Information und Beratung zu nicht verschreibungspflichtigen Wirkstoffen sowie Wachsamkeit gegenüber Hinweisen auf eventuellen riskanten Gebrauch (von NSAR bis Nasensprays) oder auf behandlungsbedürftige Zustände, z.B. bei häufiger Nachfrage nach Schmerzmitteln, nach „was für das Gedächtnis“ oder nach „rein pflanzlichen“ Mitteln, z.B. gegen psychische Missempfindungen. Oft sind es auch Apotheker, denen zuerst über (vermeintliche oder tatsächliche) Nebenwirkungen berichtet wird, die Unstimmigkeiten oder Unsicherheiten beim Patienten bemerken – zumindest in den Fällen, wo der Patient selbst seine Medikamente in der Apotheke holt. Bewertung und Beurteilung von Symptomen und Wahrnehmungen fallen allerdings wieder unter Diagnostik und sind daher ärztliche Aufgaben. Apotheker haben pharmakologische Kompetenz, die Ärzte nicht haben. Auch diese könnte besser nutzbar gemacht werden als bisher.
Viele der erwähnten Aufgaben werden bereits heute in den Hausarztpraxen wahrgenommen, allerdings mit erheblichem Einsatz. Denn wir leiden daran, dass wichtige Voraussetzungen immer noch der Erfüllung harren, wie den Kommentaren der Kollegen (Kasten oben) zu entnehmen ist. Wir tun als Fachgesellschaft mit der Analyse der Prozesse und mit der Entwicklung fachspezifischer Tools das Unsrige. Die generelle Umsetzbarkeit hängt jedoch vor allem davon ab, ob im Rahmen der Gesundheitsreform die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden – oder ob Alibihandlungen und Worthülsen weiterhin jeden Fortschritt verhindern und die Kollegen sich daran abarbeiten müssen, gute Versorgung auch im Bereich des Medikationsmanagement gegen alle Widrigkeiten zu gewährleisten.
Welche Strukturvoraussetzungen sind in der Praxis erforderlich, damit diese Aufgaben erfüllt werden können?