Orphan Diseases – was ist neu?

Durch technische Entwicklungen wie die verbesserte Gensequenzierung werden immer mehr Mutationen und Krankheiten aufgeklärt. Dazu gehören klassische Genodermatosen wie die Epidermolysis bullosa, Ichthyosen, Neurofibromatosen, aber auch seltene Karzinome, Hautlymphome, autoimmun-blasenbildende Dermatosen und Vaskulitiden sowie seltene Epilepsien, seltene Parkinson-Syndrome, genetisch determinierte Dystonien, neuroimmunologische Syndrome, neuropädiatrische Erkrankungen, Skelettdysplasien, Störungen des Salz-Wasser-Haushaltes und vieles mehr.
Wenn keine konkrete Genmutation in Verdacht steht, die gezielt gensequenziert wird, besteht die Möglichkeit, alle Protein-kodierenden Sequenzen des menschlichen Genoms zu bestimmen („Exom“), um nach Mutationen zu suchen. Sollen darüber hinaus nicht-Protein-kodierende Sequenzen analysiert werden (z. B. regulatorische Sequenzen), kann das gesamte Genom („Whole Genome“) der Patient:innen bestimmt werden. Die gängigen Sequenziermaschinen ermitteln die Sequenzen, indem viele Teilsequenzen bestimmt („Short-read Sequencing“) und im Nachhinein zusammengesetzt werden. Weil bei der Zusammenfügung der Sequenzfragmente blinde Flecken entstehen können, kommen zunehmend sogenannte „Long-Read-Sequenziermethoden“ zum Einsatz, um zusätzliche krankheitsrelevante Genvarianten aufzudecken. Neben der Variation der Nukleotidsequenzen können auch andere Faktoren die Aktivität von Genen beeinflussen und für seltene Erbkrankheiten verantwortlich sein. Zur Ermittlung solch epigenetischer Faktoren wurde beispielsweise die Bestimmung des Methyloms (Methylierungen der Nukleotidsequenzen) entwickelt. Schließlich kann die Sequenzierung der RNA wertvolle Aufschlüsse für die Diagnostik liefern („Transcriptom“).

Neue Therapieansätze

Schrittweise gelingt es der Forschung für „Orphan Diseases“, ursächliche Behandlungen zu entwickeln. Voraussetzung ist die molekulare Diagnostik. Die Bemühungen und Neuentwicklungen für die Therapie von seltenen, oftmals genetischen Erkrankungen verfolgen verschiedene Strategien. Erprobt werden beispielsweise Gentherapien oder die Supplementierung von fehlenden Lipiden oder Proteinen. Die Anwendung von Proteaseinhibitoren und monoklonalen Antikörpern gehört ebenfalls zu dem sich schrittweise erweiternden Therapie-Repertoire. Auch „small molecules“, z. B. mit entzündungshemmenden Eigenschaften, sind einsetzbar. Es gibt zunehmend Erfolge in der Entwicklung neuer Therapieansätze, wobei sich erst herauskristallisieren muss, welche Wirkmechanismen für die verschiedenen Krankheiten jeweils am zielführendsten sind. Um die Finanzierbarkeit und Verfügbarkeit von Medikamenten an allen Orten der Welt in gleichem Maße zu gewährleisten, sind internationale Abkommen zwischen Politik und Hersteller:innen notwendig.

Fehlende Diagnosestellung

Obwohl immer mehr „Orphan Diseases“ ursächlich aufgeklärt werden, gibt es immer noch Patient:innen, bei denen keine eindeutige Diagnosestellung mit heutigen Mitteln möglich ist. Für diese Betroffenen werden in vielen Ländern sogenannte Undiagnosed-Disease-Programme aufgebaut, die mit den nationalen Expertisezentren für seltene Krankheiten eng zusammenarbeiten. Ziele sind, die oft langen Latenzzeiten bis zur Diagnose zu verkürzen und bislang ungeklärte Krankheitsbilder einer eindeutigen Diagnose zuzuführen. Hierfür sind Netzwerkstrukturen von großer Bedeutung.

Künstliche Intelligenz und soziale Netzwerke

Neben den seit Jahren etablierten Selbsthilfegruppen spielt die Verfügbarkeit von künstlicher Intelligenz (KI) und elektronischer Kommunikation eine zunehmende Rolle für Menschen mit „Orphan Diseases“. Das Internetforum ist eine Social-Media-App für Menschen mit chronischen und seltenen Erkrankungen und Behinderungen. Sowohl Menschen mit bereits gestellter Diagnose als auch Betroffene, bei denen bislang keine Diagnosestellung möglich war, können anonym ihre individuelle Symptomkonstellation zu einem Profil zusammenfassen, welches mittels KI mit vergleichbaren Profilen des Forums gepaart wird. So können die Betroffenen einerseits Vorschläge für geeignete Expert:innen erhalten und andererseits auch untereinander –unter den Betroffenen mit ähnlichen Symptomen – Kontakt aufnehmen. Die Betroffenen entscheiden selbst, wer was über sie erfährt und was nicht. Das Forum ermöglicht Expert:innen, sich mit Kolleg:innen und Patient:innen-Organisationen zu vernetzen. Weitere Forschungsinitiativen wie Gestaltmatcher, DeepGestalt und Face-to-Gene haben sich vorgenommen, Patient:innen-Fotos und Gensequenzen mittels KI in einer Weise zu verknüpfen, dass eine Zuordnung der Patient:innen-Merkmale zu einer Diagnose rascher gelingt.

Praxismemo

  1. Technische Fortschritte wie die verbesserte Gensequenzierung ermöglichen eine bessere Aufklärung von Mutationen und „Orphan Diseases“.
  2. Long-Read-Sequenziermethoden in der Diagnostik helfen, „blinde Flecken“ bei den Sequenzfragmenten und damit Mutationen aufzudecken.
  3. Für Betroffene ohne eindeutige Diagnose sind die nationalen Expertisezentren und Undiagnosed-disease-Programme eine Anlaufstelle.
  4. Die molekulare Diagnostik ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung ursächlicher Behandlungen für „Orphan Diseases“.
  5. Künstliche Intelligenz und soziale Netzwerke unterstützen die Vernetzung von Betroffenen untereinander und mit Expert:innen.