Primary Health Care: Echte Reformen notwendig

Keine Frage: Der Hausarzt, wie wir ihn bisher kannten, ist in Gefahr. Nicht nur in peripheren ländlichen Regionen, sondern auch in Ballungszentren. Immer weniger junge Mediziner sind dazu bereit, das finanzielle Wagnis, die unbedankte Belastung und die bürokratisch-legistisch bedrängte Gründung bzw. Übernahme einer allgemeinmedizinischen Ordination auf sich zu nehmen. Ein 1978 von der WHO entwickeltes Konzept, das in anderen europäischen Ländern bereits seit Jahrzehnten gebräuchlich ist, soll in abgeänderter Form auch in Österreich etabliert werden: die Gründung von Primary-Health-Care-Zentren. Gemeint sind damit Kooperationsformen von Hausärzten, die auch als Familienärzte verstanden werden wollen und als „Gatekeeper“ entscheiden wollen, welcher Patient zu welchem Facharzt bzw. in welche Spitalsabteilung weitergeleitet wird. Diverse Vertreter nichtärztlicher Gesundheits- und Sozialberufe sollen in diesen Zentren entweder freiberuflich oder dort angestellt mitarbeiten. Den Proponenten dieses Systems (Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin, ÖGAM) schwebt vor, dass größere Gruppenpraxiseinheiten mit 24-Stunden-Betrieb und gleichberechtigten nichtärztlichen Gesundheitsdienstanbietern als primäre Anlaufstationen für Patienten dienen könnten, die erst mit einer dort ausgestellten Überweisung einen entsprechenden Facharzt aufsuchen dürfen. Patienten sollen sich sogar vertraglich an die bevorzugte Nutzung dieser Zentren binden. Man argumentiert mit den höheren Kosten der ungerichteten Patientenströme in Spitäler und zu Fachärzten, da zahlreiche Leistungen, die derzeit auch von Fachärzten angeboten würden und zu deren Überlastung führe, auch von Hausärzten erbracht werden könnten. Man glaubt, mit verpflichtenden Behandlungspfaden mehr Effizienz zu gewährleisten. Bei dieser Gelegenheit könnte auch die schlechte Motivation und mangelhafte Fortbildung der derzeit agierenden Hausärzte verbessert werden.

Eines bleibt jedenfalls unbestritten: Die gesundheitliche Versorgung von Menschen ist erforderlich. Dies geschieht wohl am besten, indem alle beteiligten Gesundheitsgruppen miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Aber der den Menschen pausenlos eingetrichterte Vollkaskoanspruch: „Alles muss sofort erledigt werden – und zwar kostenlos bei Tag und Nacht!“ ist 1. überflüssig, 2. nicht verwirklichbar und 3. nicht finanzierbar. Es muss einfach nicht jeder vermeintliche „Nierenschmerz“ sofort mittels CT, MRT oder PET-Scan etc. abgeklärt werden. Es wird Zeit, den Menschen das zu sagen, statt durch überflüssige und oft auch unsachgemäße kontrollärztliche Hürden den Weg zur richtigen Diagnose/Therapie zu behindern.

Ein weiterer Punkt betrifft die Verantwortung: Freilich wäre es nicht schlecht, wenn sich nichtärztliche Gesundheitsberufe verschiedene ärztliche Kompetenzen einverleiben könnten, womöglich ohne kassenvertragsbedingte Deckelungen, Preisreduktionen und Kontrollen. Aber wer übernimmt die Verantwortung, wenn der Patient dabei Schaden nimmt?
Die Behauptung, dass dieses Konzept für das Gesundheitssystem billiger wäre, bleibt zu beweisen. Immerhin werden in Entscheidungen, die bisher der Arzt getroffen hat (und das zum Sozialtarif der Krankenkassen) nun weitere Gesundheitsberufe eingebunden, sozusagen als zusätzliche Beurteilungs- und Entscheidungsebene. Wo früher eine Person Entscheidung (und Verantwortung) übernommen hat, sollen nun Physio- oder Ergotherapeuten, Sozialarbeiter oder Orthoptisten aus demselben Topf bezahlt werden, und das noch dazu günstiger! Am billigsten arbeitet zweifellos der freiberufliche Arzt, das kann anhand unzähliger Beispiele belegt werden.

Echte Reformen: Natürlich sind neue Konzepte erforderlich, um die hausärztliche Tätigkeit wieder zu stärken: Das der primären Gesundheitsversorgung ist prinzipiell nicht unvernünftig, braucht aber meines Erachtens echte Reformen im Gesundheitssystem, um erfolgreich sein zu können:

  • Die kontraproduktive Medizineingangsprüfung muss beseitigt werden. Viele sehr engagierte und kluge Jungärzte werden derzeit damit verhindert oder wandern ins Ausland ab! Besser wären Studiengebühren mit ausreichend Stipendien.
  • Die Ausbildung der Ärzte muss verbessert werden. Das Rotationsprinzip und die Übernahme belastender Routinearbeiten sind wichtige diesbezügliche Forderungen.
  • Die jungen Ärzte müssen ihr „Handwerk“ bei ausreichend langer Tätigkeit in Lehrpraxen erlernen, besonders auch in fachärztlichen Ordinationen. Dort ist die alltägliche Medizinwelt viel eher zu entdecken als in Universitätskliniken oder Spitalsabteilungen. Die Lehrpraxis müsste entsprechend gefördert, anerkannt und aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden.
  • Der ärztlichen Verantwortung liegen jahrelange Ausbildung und Erfahrung zugrunde. Sie kann nicht durch Berufe mit kurzen Bakkalaureat, oder Diplomkursen ersetzt werden. Auch heute schon tragen nichtärztliche Sichtweisen zur Entscheidungsfindung bei. Medizinische Entscheidungen können jedoch nicht demokratisch nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden. Wer mitentscheiden will, muss Medizin studieren.
  • Die Bildung von Gruppenpraxen wäre sicher aus vielerlei Gründen wünschenswert. Das betrifft auch interdisziplinäre Kooperationen. Die gesetzlichen und bürokratischen Auflagen müssten aber dramatisch reduziert, die unternehmerische und freiberufliche Arbeit der Ärzte viel stärker eingefordert und unterstützt werden.
  • Ärzte müssen Ärzte anstellen bzw. Gesellschaften bilden können, um die Arbeitsbelastung, die mit erweiterten Öffnungszeiten verbunden ist, zu bewältigen.
  • Die Finanzierung des gesamten Gesundheitssystems muss aus einer Hand erfolgen und dessen Defizite in den verschiedenen Finanzierungstöpfen nicht immer durch Steuergelder ausgeglichen werden. Dann zeigt sich, wo wirklich Geld „verbrannt“ wird.
  • Das Kassensystem gehört vereinfacht. Kein Mensch braucht neun Landesdirektoren und neun Landesorganisationen mit neun verschiedenen Abrechnungskatalogen. Auf allfällig erforderliche, regionale Sonderregelungen muss man deshalb nicht verzichten.
  • Die Selbstverantwortung der Menschen muss eingefordert werden. Das betrifft nicht nur den eigenen Lebensstil, sondern auch Kostenwahrheiten im Gesundheitssystem. Wenn bekannt wäre, was diagnostische oder therapeutische Maßnahmen tatsächlich kosten, würde das den Menschen mehr Respekt davor einflößen, vor allem, wenn sie selbst (bis zu einer sozial zumutbaren Höchstgrenze) die Rechnung dafür bezahlen müssten, um sich danach die Kostenrückerstattung von der Krankenversicherung zu holen. Dabei würde gleichzeitig die Durchführung überflüssiger Maßnahmen eingedämmt.
  • Der Bürokratismus müsste v.a. auch im stationären Bereich drastisch reduziert werden. Wo das nicht ohne negative Folgen der Fall sein kann, braucht es logistische Unterstützung, wie z.B. eine Stationssekretärin, die entsprechende Arbeiten übernehmen müsste.

Bestimmt gäbe es noch mehr Punkte, die es zu erfüllen gälte, bevor das Konzept der Primary Health Care (PHC) erfolgreich sein kann. Aber eines sei den Protagonisten des PHC-Konzepts ins Stammbuch geschrieben: Das enorm schnell wachsende medizinische Wissen kann unmöglich von einem „Facharzt für Allgemeinmedizin“ beherrscht werden. Beispielsweise können bei scheinbar einfachen Problemen wie einem akuten Skrotum selbst erfahrene Urologen manchmal keine klare Diagnose stellen. Gerade in dieser Situation darf aber keine Zeit mit sinnlosen Zwischenstopps bei Hausärzten, PHC-Diplomschwestern oder ähnlichen mehr verloren werden. Der ungehinderte Zugang zum Facharzt muss daher erhalten bleiben. Alles andere würde die derzeit ja wohl unbestritten hohe Qualität der Gesundheitsversorgung der Österreicher dramatisch gefährden.
Und noch eines kann die PHC-Lösung keineswegs: Die Fortbildung der darin tätigen Ärzte verbessern. Das müssen sie schon selbst tun, ganz egal, wo und wie sie tätig sind.
Aber auch seitens der Fachärzte sind „Hausübungen“ zu erledigen. Praxisöffnungszeiten und Leistungsangebot müssen verbessert und aufeinander abgestimmt werden. Dazu gehört auch die Kommunikation, sowohl mit den Hausärzten als auch mit den Spitalsabteilungen, wobei gerade die fachärztliche Lehrpraxis einen fruchtbaren Boden dafür böte. Der Berufsverband der Österreichischen Urologen wird entspechende Initiativen unterstützen, vorausgesetzt, das oft gehörte Versprechen der Politik „Geld folgt Leistung“ wird eingehalten.