Verhärtete Fronten in der Hauptstadt

Der Ton zwischen der Wiener Ärztekammer und der Wiener Gebietskrankenkasse wird immer rauer. Nach der Präsentation eines neuen Ambulanzmodells durch die Wiener Ärztekammer kam postwendend die Ablehnung der Forderungen durch die WGKK, was wiederum als „kurzsichtig und verantwortungslos“ von der Ärztekammer beurteilt wird.
Doch alles der Reihe nach: Der Präsident der Ärztekammer für Wien, Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, forderte einmal mehr einen Ausbau der ambulanten Versorgung: „Bis zu 80% aller Personen, die sich zu einer Behandlung ins Krankenhaus begeben, sind keine akuten Notfälle und auch nicht medizinisch dringliche Versorgungsfälle.“ Dabei stelle sich der Zulauf zu den Ambulanzen als „gelerntes Selbstzuweisungsphänomen“ dar: „Spitäler sind in Wien nahe und haben rund um die Uhr offen, während Arztordinationen im extramuralen Bereich abends und an Wochenenden großteils geschlossen sind.“ Die Gründe dafür seien vielschichtig: „Einerseits gibt es in Wien nach wie vor zu wenig Kassenverträge, andererseits steht die Wiener Gebietskrankenkasse bei der Genehmigung von Gruppenpraxen auf der Bremse. Auch das Honorierungssystem ist veraltet und nicht mehr zeitgemäß, was vor allem die Hausärzte zu spüren bekommen.“
Verschärft wurde die Situation auch dadurch, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Kassenstellen in Wien, statt erweitert, sogar reduziert wurde. Gab es im Jahr 2000 noch 1.667 Kassenplanstellen in Wien, so sind es mittlerweile nur mehr 1.583 (Stand: 31. Dezember 2012). Das bedeutet einen Abbau von 84 Kassenplanstellen (Allgemeinmedizin: 45, Fachärzte: 39).
„Ein dramatischer Mangel herrscht insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hier gibt es nach wie vor keine einzige Kassenplanstelle in Wien“, so Szekeres. „ Aber auch die Augenheilkunde, die Dermatologie und der Bereich der Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten sind stark von dieser Negativentwicklung betroffen. Gerade in diesen Fächern ist dann der Zustrom in die jeweiligen Fachambulanzen besonders groß.“
Das alles passiere vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung: Die Menschen werden immer älter, auch die Gesamtbevölkerungszahl in Wien steigt. Dazu kommt der „Großstadtfaktor“: Wien hat – so Szekeres – schon deshalb höhere Gesundheitskosten, da viele Krankheiten, wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, HIV, Atemwegserkrankungen, Drogenmissbrauch oder Depressionen, häufiger vorkommen als in anderen Regionen Österreichs. Damit einhergehend liegt das Sterblichkeitsrisiko deutlich über dem österreichischen Durchschnitt. Die Besonderheiten in gesundheitspolitischer Hinsicht beziehen sich auch auf die speziellen sozioökonomischen Faktoren, die in Wien vermehrt zu finden sind. Sozioökonomisch schlechter Gestellte haben ein höheres Krankheitsrisiko.
Für den Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsidenten der Ärztekammer für Wien, Dr. Johannes Steinhart, ist eine Entlastung der Spitalsambulanzen ohne gleichzeitige Stärkung des niedergelassenen Bereichs aber nicht möglich. „Mit der derzeitigen Honorar- und Leistungsvergütung wird es nicht gelingen, beispielsweise einen Abend- und Wochenendbetrieb im extramuralen Bereich aufrechtzuerhalten und Gruppenpraxen erfolgreich zu führen.“ Ordinationen müssten als „gesamte Betriebe“ gesehen werden.

 

 

Ambulante Versorgung in Wien neu strukturieren

Die Ärztekammer hat nun für Wien ein neues Modell ausgearbeitet, das eine bessere Verzahnung zwischen dem öffentlichen Krankenhausbereich und den niedergelassenen Ärzten vorsieht.
Das Modell sieht vor, dass innerhalb eines Jahres:

  • zusätzliche 300 Kassenverträge nach einer genauen Evaluierung der Notwendigkeiten in den einzelnen Fächern und der Wohnbezirke neu ausgestellt werden,
  • alle bisherigen Gruppenpraxisanträge (etwa 90) zur Ausschreibung freigegeben werden,
  • bezahlte Lehrpraxen geschaffen werden, um die Ordinationen auch mit qualifizierten, jungen Assistenzärzten besetzen zu können,
  • der Ärztefunkdienst ausgebaut wird
  • Tarife mit den Krankenkassen vereinbart werden, die es niedergelassenen Ärzten ermöglichen, auch zu Tagesrandzeiten und am Wochenende offen zu halten; dafür müssen die Honorarsätze deutlich angehoben werden, um so die Überstunden, Nachtstunden und zusätzlichen administrativen Aufwände bezahlen zu können.

Die neuen Kassenplanstellen sollen nach einem genauen Bedarfsplan etabliert werden – einerseits als Filter vor den Ambulanzen und „Entrees“ der Schwerpunktspitäler, anderseits als erste „Andockstationen“ in den Wachstumsbezirken. Sie müssen über die notwendigen Basisuntersuchungs- und -versorgungseinrichtungen verfügen und intensiv mit dem Ärztefunkdienst zusammenarbeiten, der dafür auch personell aufgestockt werden muss.
Auch die Etablierung einer eigenen Ärztefunkdienstambulanz in Nähe des neu zu errichtenden Krankenhauses Nord wäre eine sinnvolle Option. Denn gerade dort ist ein besonders hoher zukünftiger Zustrom Richtung Ambulanzen zu erwarten. Im Gegenzug dazu könnten dann auch die Rettungseinsätze drastisch reduziert werden.
Und auch die Zahl der Gruppenpraxen müsse deutlich erhöht werden, denn: „Einem einzelnen Hausarzt beispielsweise ist es nicht zumutbar, während der Woche den ganzen Tag und teilweise bis in die Abendstunden zu ordinieren und dann am Wochenende auch noch für die Patienten da zu sein“, so Steinhart. Dafür benötige es dann eine Gemeinschaftspraxis mit zwei oder drei Allgemeinmedizinern.
Die Wiener Ärztekammer fordert eine Finanzierung des Gesundheitssystems aus zwei unterschiedlichen Töpfen. Steinhart: „Die Gelder der Sozialversicherung sind dazu da, die ambulanten Kosten abzudecken, also die Aufwendungen für Arzt­ordinationen beziehungsweise in jenen Fällen, die der extramurale Bereich nicht abdecken kann beziehungsweise wo eine Behandlung in einer Ambulanz kostengünstiger ist, für die Spitalsambulanzen. Die stationäre Versorgung muss dann ausschließlich aus Steuergeldern beglichen werden.“
Des Weiteren schlägt die Ärztekammer einen runden Tisch vor, der aus Vertretern der Stadt, des Wiener Krankenanstaltenverbunds, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Wiener Ärztekammer besteht und möglichst rasch die gesetzlichen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für eine bessere Verzahnung des ambulanten intramuralen und ambulanten extramuralen Bereiches feststellen soll.

WGKK: „Ärztemangel ist ein Mythos“

Ganz anders sieht naturgemäß die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) die Situation: „Um die Versorgung der Wiener Bevölkerung zu optimieren, braucht es keine zusätzlichen Stellen, sondern eine bessere Organisation des Angebots“, stellte Mag. Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener WGKK fest. Ein klares Nein gebe es zu den Forderungen der Ärztekammer, die jährlich Zusatzkosten von mehr als 100 Millionen Euro verursachen würden.
„Bei aktuell knapp 800 Allgemeinmedizinern und gut 900 Fachärzten kann ich diese Forderungen nicht nachvollziehen; zumal derzeit weder die Öffnungszeiten noch die vorhandenen Kapazitäten voll genutzt werden.“ Dazu kommt, dass man sich an den Regionalen Strukturplan Gesundheit (RSG) gebunden fühle. Dieser laufe noch bis 2015, wurde von der Stadt Wien, der WGKK und der Ärztekammer gemeinsam beschlossen und sehe keine zusätzlichen Stellen vor.
Reischl dazu: „Wir können in Zeiten wie diesen nicht so tun, als ob Geld abgeschafft worden wäre. Dieser Wunschkatalog führt die WGKK schlagartig zurück in die Verlustzone.“
Die Ansätze der WGKK würden daher in eine andere Richtung gehen: Zum einen drängt Reischl darauf, dass Ärzte mit Kassenvertrag bestmöglich zur Versorgung beitragen sollten. „Wir beobachten hier eine enorme Bandbreite.“ So gebe es laut Fallzahlenvergleich für das Jahr 2011 Allgemeinmediziner, die im Jahr knapp 200 Fälle behandeln würden, andere kämen auf rund 17.640 Fälle. Reischl: „Die vorhandenen Ressourcen müssen besser genutzt werden.“ Was in weiterer Folge auch zu einer Entspannung bei den immer wieder diskutierten Wartezeiten führen würde.
Zum anderen setze die WGKK auf den Ausbau verschiedener, innovativer Modelle. So hätten sich in der jüngeren Vergangenheit die Gruppenpraxen bewährt. Bei der Ausweitung plädiert Reischl aber für eine Weiterentwicklung dieses Angebots. Es gehe darum, Einheiten anzubieten, die verschiedene Fächer unter einem Dach vereinen. „Der Gesetzgeber sieht in solchen Fällen allerdings Abschläge vor – und zu diesen war die Ärztekammer bisher nicht bereit.“
Reischl plädiert auch für multidisziplinäre Einrichtungen, die als Bindeglied zwischen niedergelassenen Ärzten sowie den Spitalsambulanzen fungieren könnten. Reischl: „Hier arbeiten WGKK und die Stadt Wien an ersten Pilotprojekten – im Umfeld des SMZ Ost und des neuen KH Nord –, die noch heuer starten sollen und gemeinsam finanziert werden.“
Szekeres darauf: „Die WGKK übersieht den Großstadtfaktor und die demografische Entwicklung bei Planung der medizinischen Versorgung. Das halten wir für extrem kurzsichtig und verantwortungslos.“ Und zum Dauerbrenner Gruppenpraxis: „Ungefähr 90 Gruppenpraxen sind derzeit beantragt, werden aber aus Sparerwägungen von der Wiener Gebietskrankenkasse nicht freigegeben. Das ist nicht nachvollziehbar.“

 

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