Warum zappelt Philipp?

Ein signifikanter Anstieg der schon früher als MCD (minimale zerebrale Dysfunktion), POS (psychoorganisches-), oder HKS (kyperkinetisches Syndrom) bekannten tatsächlichen medizinischen ADHS-Fälle lässt sich allerdings bis dato nicht wissenschaftlich belegen. Es ist wohl eher eine verstärkte Wahrnehmung von Einzelsymptomatiken, aber auch vermehrte mediale Wahrnehmung der Existenz dieses multifaktoriellen Störungsbildes. Schlussendlich lässt auch der Trend zur kleineren Familie die Aufmerksamkeit der Eltern für die Problematik eines einzelnen Kindes stark anwachsen.

Psychogenese

Derzeit geht die Wissenschaft von einer mehr als 70%igen Gewichtung genetischer Prädisposition, aber auch von einer wohl vorhandenen erhöhten Vulnerabilität aus, damit ein ADHS sich überhaupt entwickeln kann. In einem bestimmten Bereich des Frontalhirns, im striatofrontalen Cortex, herrscht bei ADHS-betroffenen Menschen erwiesenermaßen ein Ungleichgewicht bestimmter Neurotransmitter bzw. korrelierender Rezeptoren, die bekanntermaßen die Aufgabe haben, Nachrichten zwischen den einzelnen Gehirnregionen weiterzugeben. Aber das ist nur die eine, die klassische, medizinisch-biochemische Komponente von ADHS.
Die tatsächliche Gewichtung der anderen Komponente zur Ausbildung eines ADHS, nämlich der Anteil der psychosozialen Faktoren (Kernfamilie, Scheidungs- und Beziehungsproblematiken, Traumata u.v.m.) wird die Fachwelt wohl noch lange Zeit uneins sein lassen. Die für den komplexen Symptomcluster ADHS typischen Kernsymptome können somit auch ganz andere, vielfältige Ursachen haben.
Dass also nicht jedes unaufmerksame, zappelige Kind gleich ADHS haben muss, ergibt sich, nimmt man vor allem die psychosoziale Komponente wirklich ernst, natürlich von selbst! Aus dem psychoedukativen Blickwinkel erscheint es jedenfalls unerlässlich, zunächst jene Grundstörungen und Verhaltensmuster zu beseitigen, die dazu angetan sind, den ADHS-Leidensdruck zu verstärken. Der Gang zu einem einfühlsamen Familien- oder Erziehungsberater (z.B.: www.kiddycoach.or.at, www.kiprax.at),sowie Kinder-Psychologen sollte hierfür jedenfalls erwogen werden.

Verunsicherung

Allenthalben nehmen Mediziner, oder auch Familienberater jedenfalls tiefe Verunsicherung wahr, wenn es um eine mögliche ADHS-Diagnostik geht oder man schlicht auf den Symptomcluster ADHS zu sprechen kommt: Während es manch einem mit der Diagnose ein wenig zu schnell geht, wollen viele Eltern den zu erwartenden „Hürdenlauf“ der Diagnostik gar nicht erst in Angriff nehmen. Nicht selten entwickeln Eltern sogar so etwas wie Angst davor, es könnte vielleicht die Diagnose ADHS gestellt werden und jemand aus dem schulischen Umfeld könne darauf bestehen, dass ihr Kind medikamentös behandelt werden müsse.
Doch sehr vielen Eltern, Lehrern, Partnern, aber auch Medizinern liegt ganz besonders eine Komponente von ADHS am Herzen: ihr Kind, ihren Partner, ihren Patienten wirklich verstehen, im Idealfall an der komplexen Gefühlswelt des ADHS-Betroffenen sogar teilhaben zu können, um sodann wirklich und vor allem nachhaltig helfen zu können.

Wie es sich anfühlt

Einprägsame Bilder könnten dabei helfen. Z.B. Hyperaktivität: Ob in Ruhe- oder Aktivitätsphasen, es fühlt sich an, als hielte man zwei Finger permanent an eine Steckdose! Auch das ADHS-Kernsymptom, Impulskontrollstörung, lässt sich recht gut bildhaft darstellen: als stünden Sie mitten auf dem verkehrsreichsten Platz der Stadt und führten gerade dort ein Fachgespräch über Differenzialdiagnosen. Ein normal „verschaltetes“ Gehirn filtert Unwichtiges ganz selbstverständlich aus, um nicht überlastet zu werden. Bei den meisten ADHS-Betroffenen wird allerdings jeder noch so unbedeutende Sinnesreiz dem Haupthandlungsstrang gleichgesetzt. Reizoffenheit, oder Sinnesoffenheit wird dieses ADHS-Kernsymp-tom daher auch genannt. Impulsives, unkonzentriertes, oft auch eben „gereiztes“ Verhalten sind die natürlichen Folgen dieses inneren Chaos. Ein starker, vor allem realer Leidensdruck! Wer also sollte sich dann noch über die viel gefürchtete Ablenkbarkeit bei Kindern mit ADHS wundern?
In direkter Folge der Reizüberflutung passiert auch etwas, das Gerhard Spitzer in seinem Buch „Warum zappelt Philipp?“ mit „Input-Sucht“ beschreibt. Dieses Phänomen der Öffnung und Suche nach immer neuen Reizen wird neuerdings mit physiologischem Aktivierungsmangel beschrieben.

Einfache Diagnose?

Kurz gesagt: Einfach ist eine verlässliche Diagnostik keineswegs! Zumal es für die allermeisten „Störungen“ im menschlichen Gehirn noch immer keine standardisierte bildgebende Darstellung gibt, sieht man von den Versuchen mit dem überaus teuren PET-Scan und neuerdings dem sog. QEEG einmal ab. Also müssen auch die besten Diagnostiker vor allem eines tun: Fragen stellen! Genau das tun Fachärzte: mit Fragebögen und Tests, die nach internationalen Kriterien standardisiert sind (z.B: DSM-4-Handbuch). Idealerweise erfolgt die Diagnostik in drei Phasen.

Multimodale Therapie

Wurde ADHS/ADS als wahrscheinlich eingestuft, sollte man an eine Besserung des Leidensdrucks keinesfalls einseitig herangehen.
Die Gabe von Psychostimulanzien oder von selektiven Serotonin-antagonist-Wiederaufnahmehemmern (SARI) wie dem neueren Präparat, Strattera, die derzeit für Kinder ab dem sechsten Lebensjahr zugelassen sind, kann zwar eine gewisse „Abschirmung“ vor noch mehr negativen Erlebnissen erreichen, aber es ist klar, dass diese Substanzen ADHS nicht heilen können, sondern bestenfalls die Symptome lindern helfen. Medikamente können natürlich auch helfen, erst Zugang zu einer Psycho- und/oder Verhaltenstherapie zu finden. Auch an sensorische Therapieformen (z.B. „Sensorische Integration im Dialog“; http://si-ullakiesling.info), sowie an klassische Homöopathie und an die professionell begleitete Arbeit mit Tieren (z.B. „Tiere fördern Kinder“; www.kindertierkreis.at ) sollte beim multimodalen Ansatz gedacht werden.

Diätische Maßnahmen?

Da sog. Ausschließungsdiäten (Zucker-, Phosphatvermeidung u.a.) keine belegbaren Erfolge gezeigt haben, ist der Autor im Zuge seiner Recherchen auf eine vieldiskutierte diätetische Behandlungsalternative aufmerksam geworden: auf den Einsatz von hochwertigen Kombinationspräparaten aus Omega-3-/Omega-6-Fettsäuren, welche den Stoffwechsel der Hirnnervenbahnen bei Störungen der Aufmerksamkeit nachweislich positiv unterstützen können. Schließlich geht man ja, wie oben beschrieben, zum Großteil von einer Stoffwechselstörung aus. Fettsäuren in dieser besonderen Kombination sind essenzielle und unverzichtbare Bestandteile für den gesunden Aufbau und die Erhaltung der Normalfunktionen unserer Nervenbahnen.
Nach Recherchen des Autors hat in Österreich derzeit nur das Produkt Equazen Pro eine Zulassung zur diätetischen Behandlung von Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen, auch wenn eben keine ADHS-Diagnose vorliegt. Das erwähnte Nahrungssupplement hat seine Wirkung in aufwändigen plazebokontrollierten Studien bereits gezeigt. Als Teil des multimodalen Therapieansatzes kann die Gabe von Omega-3-/Omega-6-Fettsäuren also nicht nur als Zusatz zu bereits laufender Medikation zum Einsatz kommen, sondern auch als gänzliche Alternative für jene Menschen, die keine Medikation in Erwägung ziehen (können).

Defizit oder Benefit?

Neben all den Defiziten hat ADHS übrigens auch ungeahnte Vorteile: Die meisten Betroffenen scheinen schier unerschöpfliche Energien zu besitzen. Besondere Potenziale, wie eine hohe Auffassungsgabe, sprachliche Eloquenz und oft hohe Kreativität stehen mit der beschriebenen Sinnes-Offenheit in direktem Zusammenhang. Die hohen Potenziale auszunützen fällt einem ADHS-Kind ohne Hilfe allerdings meist sehr schwer.
Doch ein großer Schritt zur umfassenden Hilfe ist ja bereits: umfassendes Wissen!

Tipps vom Kiddy-Coach
FH-Doz. Gerhard Spitzer, ist Dipl.-Lebens- und -Sozialberater, Verhaltens-pädagoge, Eltern- Trainer und Gastdozent für Lehrerfortbildung an den Pädagogischen Hochschulen Wien, Graz und Linz sowie an den Katholischen Pädagogischen Hochschulen KPH- Wien und Innsbruck. Gründer und Pädagogischer Leiter des Vereins KiddyCoach (Erziehungsberatung und Eltern-Coaching).
Seit 29 Jahren ist Gerhard Spitzer intensiv in der außerschulischen und schulischen Jugendarbeit tätig, davon 18 Jahre in der Betreuung „verhaltenskreativer“ Kinder und als Pädagogischer Leiter in diversen Kriseneinrichtungen der Stadt Wien und verschiedenen Hilfsorganisationen. Bekannt geworden ist Gerhard Spitzer durch seine Radio- und TV-Auftritte als Erziehungsexperte für „entspanntes Erziehen“ im In- und Ausland, durch viele öffentliche Vorträge, durch sein erfolgreiches Seminarkabarett-Programm: „Entspannte Eltern, Glückliche Kinder“ sowie als Autor der Top-Seller „Entspannt erziehen“, „Entspannte Eltern, Glückliche Kinder“, und „Warum zappelt Philipp?“
Warum zappelt Philipp? 2010;
Ueberreuter; ISBN: 978-3-8000-7466-2
Entspannt Erziehen. 2007;
Ueberreuter; ISBN: 978-3800072385