Watson, übernehmen Sie?!

Medizinische Fachzeitschriften veröffentlichen jeden Tag neue Behandlungsmethoden und Forschungsergebnisse; die Menge an medizinischen Daten verdoppelt sich alle fünf Jahre. Auch die Krankengeschichte von Patienten liefert entsprechende Hinweise. Große Mengen von elektronischen Krankenakten bieten eine Fülle von Wissen.
Thomas Braunsteiner, Industry Leader Healthcare bei IBM: „Ein Großteil dieser Daten ist unstrukturiert – und liegt häufig in natürlicher Sprache vor. Ziel des Watson-Programmes ist, eine hochwertige semantische Suche zu schaffen. Diese soll den Sinn einer in natürlicher Sprache gestellten Frage erfassen und in einer großen Datenbank, die ebenfalls Texte in natürlicher Sprache umfasst, innerhalb kurzer Zeit die relevanten Passagen und Fakten auffinden. Eine derartige Software könnte in vielen Bereichen, etwa der medizinischen Diagnostik, komplexe Entscheidungen unterstützen, insbesondere wenn diese unter Zeitdruck getroffen werden müssen. Wir haben Watson als Assistent des Arztes konzipiert, damit dieser wieder mehr Zeit für Patienten hat, anstatt sich durch Befunde und Akten wühlen zu müssen.“

Entscheidungshilfe bei Diagnose und Therapie

Watson nutzt die Möglichkeiten der natürlichen Sprache, die Erzeugung von Hypothesen und das evidenzbasierte Lernen, um Ärzten bei Entscheidungen zu helfen. Beispielsweise kann ein Arzt Watson zur Unterstützung bei der Diagnose sowie der Behandlung von Patienten verwenden. Zuerst könnte der Arzt dem System eine Frage stellen und dabei die Symptome und weitere zugehörige Faktoren beschreiben. Watson beginnt dann mit der Analyse dieser Daten, um die wichtigsten Informationen zu ermitteln. Das System unterstützt medizinische Fachbegriffe, die seine Fähigkeit zur Verarbeitung natürlicher Sprache erweitern.
Anschließend durchsucht Watson die Patientendaten nach relevanten Fakten über die Familiengeschichte, die aktuelle Medikation und weitere Bedingungen. Er kombiniert diese Informationen mit aktuellen Befunden aus Untersuchungen und Diagnosegeräten und analysiert dann alle verfügbaren Datenquellen, um Hypothesen zu formulieren und zu überprüfen. Dabei kann Watson Behandlungsrichtlinien, elektronische Krankenakten, Notizen von Ärzten und Pflegepersonal, Forschungsergebnisse, klinische Studien, Artikel in medizinischen Fachzeitschriften und Patientendaten in die für die Analyse verfügbaren Daten einbeziehen. Schließlich stellt Watson eine Liste möglicher Diagnosen und einen Wert bereit, der angibt, wie sicher jede Hypothese ist.
Die Fähigkeit, während der Erstellung und Bewertung von Hypothesen den Kontext zu berücksichtigen, erlaubt Watson die Lösung dieser komplexen Probleme und hilft dem Arzt – und dem Patienten – präzisere Entscheidungen auf der Basis fundierter Informationen zu treffen. Braunsteiner: „Watson kann binnen Sekunden Millionen Seiten durchsuchen und evidenz-basierte Empfehlungen liefern.“
Auch das renommierte amerikanische Memorial Sloan-Kettering Cancer Center arbeitet mit IBM zusammen, um die Watson-Technologie zur Unterstützung von Onkologen einzusetzen, vor allem im Rahmen des riesigen Pools molekularer und genetischer Daten sowie der vielen rezenten onkologischen Studien.

 

Was ist Watson?
Watson ist ein Computerprogramm aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz. Es wurde von IBM entwickelt, um Antworten auf Fragen zu geben, die in digitaler Form in natürlicher Sprache eingegeben werden.
Das Programm wurde nach Thomas J. Watson, einem der ersten Präsidenten von IBM, benannt.
Zur Demonstration seiner Leistungsfähigkeit konkurrierte das Programm in drei vom 14. bis 16. Februar 2011 ausgestrahlten Folgen der Quizsendung Jeopardy mit zwei menschlichen Gegnern, die in der Show zuvor Rekordsummen gewonnen hatten. Die Partie, für die ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgelobt war, wurde in den Medien daher mit dem Duell des Schachweltmeisters Garri Kasparow gegen den Computer Deep Blue verglichen. Watson gewann das Spiel mit einem Endstand von $ 77.147 gegenüber den $ 24.000 bzw. $ 21.600 seiner menschlichen Konkurrenten.

 

Kommentar von
Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, Präsident der Wiener Ärztekammer
Gegenwärtig verändert sich die Arzt-Patient-Beziehung. Dafür ausschlaggebend sind – neben dem wachsenden ökonomischen Druck und der steigenden Verrechtlichung – auch die technologischen Entwicklungen, die in der Medizin Einzug gehalten haben. Das ist natürlich zu begrüßen, eröffnet uns die moderne Medizintechnik doch Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie, die wir in früheren Zeiten für nicht vorstellbar hielten – und die Entwicklung geht munter weiter. Ein Ende des noch Machbaren ist nicht in Sicht.
Freilich birgt das Fortschreiten von technischen Errungenschaften auch Gefahren. Allzu verlockend ist die Vorstellung, zukünftig ausschließlich mittels Technik zu diagnostizieren und zu therapieren. Wir erleben dies immer wieder, wenn uns Patienten berichten, dass ihr behandelnder Arzt mehr mit dem Computer kommuniziert als mit den Patienten selbst. Die uns anvertrauten Patienten aber erwarten von uns zu Recht nicht nur umfassendes medizinisches Wissen und handwerkliche Fähigkeiten, sondern auch das ärztliche Gespräch. Nicht zuletzt deshalb nimmt der persönliche Hausarzt eine so bedeutende Rolle in der medizinischen Versorgung der Österreicher ein.
Es ist wie in vielen Bereichen des Lebens: Wir haben uns der Technik zu bedienen und müssen sie beherrschen. Wir dürfen aber nicht von ihr beherrscht werden. Auf der Strecke bliebe dann nämlich die Empathie, die ärztliches Handeln auszeichnet: die Fähigkeit des Zuhörens; das Eingehen auf den Patienten, der uns gegenübersitzt.
Als Ärztinnen und Ärzte haben wir unseren Patienten gegenüber vor allem eine ethische Verpflichtung, der wir uns nicht entziehen können und wollen. Einer solchen ethischen Verpflichtung kann niemals durch einen Computer nachgekommen werden. Es ist immer noch der Mensch, der – wenn auch mit tatkräftiger Unterstützung der Technik – zu werten, zu beurteilen und zu entscheiden hat.
Ob „Watson“ uns Ärztinnen und Ärzte unterstützen kann?
Ja natürlich.
Ob „Watson“ uns Ärztinnen und Ärzte ersetzen wird?
Niemals.