Wege aus der Sucht

Als Arzt ist man gar nicht so selten mit psychischen und körperlichen Folgekrankheiten schädlicher Konsummuster diverser psychotroper Substanzen – in unseren Breiten hauptsächlich von Alkohol – konfrontiert. Diese zu behandeln hat zwar die Medizin jeglichen Zeitalters beschäftigt, aber erst vor etwa 200 Jahren im Zuge der Aufklärung und der damit verbundenen Befreiung der Wissenschaft von religiösen Dogmen wurde auch das dahinter liegende Phänomen als Krankheit erkannt.

Umgang mit Sucht

Der Umgang mit Süchtigen stellt uns Ärzte auch deshalb vor besondere Herausforderungen, weil es nicht selbstverständlich ist, warum sich jemand durch ständige Wiederholung einer Verhaltensweise in eine Krankheit hineinmanövriert. Warum konsumieren Süchtige, wenn sie doch schon wissen könnten, dass gerade sie in Kontrollverluste mit daraus folgenden Peinlichkeiten und gefährlichen Verhaltensweisen schlittern oder über die Zeit körperliche, geistige und psychische Schäden davontragen? Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, Sucht in ihrem Wesen und in ihrer zeitlichen Entwicklungsdimension verstehen zu wollen, wird uns jedes einzelne Mal die Empathie fehlen, dem Suchtkranken auch als demjenigen Menschen zu begegnen, der er ohne Sucht sein könnte. Hilfreiches ärztliches Handeln, das einen Beitrag leistet, zeitweise, teilweise oder nachhaltig aus dieser krankhaften Gewohnheit herauszukommen, erfordert daher auch ein Grundverständnis von Sucht.

Eine kurze Suchtdefinition

Zunächst dreht man an einem Rädchen, und mit der Zeit wird man von einem Rad gedreht! Zuerst ist die „drug of choice“, wie Jugendliche heutzutage gerne formulieren, eben jene zufällig oder gezielt gefundene psychotrope Substanz, die wie ein Schlüssel in ein versperrtes Schloss zum Glück zu passen scheint. Im Hier und Jetzt geht es damit tatsächlich plötzlich besser, man fühlt sich freier, souveräner und unabhängiger von lästigen äußeren oder inneren Problemen. Wenn das Schloss zum schönen Leben, wie es häufig bei Süchtigen der Fall ist, durch eine psychische Grundkrankheit versperrt ist, ist die Selbstbehandlung mit psychotropen Substanzen zunächst sogar total funktional. Eine Wiederholung dieses Tricks, dieser psychotropen Technik, ist gleichzeitig umso wahrscheinlicher, je lösungsorientierter sich der Konsum oder das Verhalten mit Suchtpotenzial zunächst anfühlt.

 

Der Vorteil einer stationären Entwöhnungsbehandlung ist die intensivere multiprofessionelle Suchtbehandlung sowie der Abstand zur gewohnten Lebenswelt.

 

Alkohol und Sucht

Alkoholsucht ist in Österreich nicht nur von Seiten der Anzahl der Kranken unangefochten auf der Poleposition, sondern auch wenn man den Angehörigenmultiplikationsfaktor von 3,5 (aus deutschen Studien) dazurechnet. Demnach gibt es circa 1,300.000 Kinder, Partner beziehungsweise Eltern von Alkoholsüchtigen und circa 3,500.000 Co-Betroffene von problematisch Alkoholtrinkenden. Gerade die komplexe Abfolge verschiedener psychotroper Wirkungen der „dirty drug“ Alkohol und die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkoholkonsum bis zu einem bestimmten Grad macht den Umgang mit Süchtigen für Angehörige und für Ärzte zu einem schwierigen Balanceakt. Die frontale Enthemmung durch Alkohol führt neben inadäquaten, teilweise seltsam vergröberten Verhaltensweisen häufig auch zu expansivem und aggressivem Verhalten, das sich insbesondere dann zeigt, wenn sie in ihrem affektiven Tunnel auf Grenzen stoßen. Die spezifischen Auswirkungen von Alkohol auf den Suchtkranken und in weiterer Folge auf die gesamte Lebenssituation eines Soziotops bewirken sehr oft ein hohes Maß an emotionaler Verstrickung, strategischer Ausweglosigkeit und impulsiver Reaktionen (als Spiegelung dessen, was der Alkoholkranke empfindet). Aus diesem ängstlich-ärgerlichen Teufelskreis der Co-Abhängigkeit galt es schon immer durch professionelle Suchtbehandlung und speziell durch eine stationäre Auszeit herauszukommen. Der Begriff Co-Abhängigkeit wurde nicht zufällig im Zusammenhang mit der Alkoholsucht verwendet. Er benennt verschiedene Reaktionsweisen gegenüber Alkoholkranken als kontraproduktiv für das Herauskommen aus der Abhängigkeitserkrankung.

Wege aus der Sucht

Eingebettet in eine ambulante Behandlungsmatrix mit langem Atem wurde die stationäre Suchtbehandlung (medizinisch geleitete Entgiftung, Diagnose, Behandlung psychischer und somatischer Komorbiditäten und eine unmittelbar daran anschließende Entwöhnungsbehandlung) Mitte des vorigen Jahrhunderts konzipiert und auf Grund deutlich besserer Erfolge damit als revolutionäre Errungenschaft gefeiert. Die Suchtklinik Anton-Proksch-Institut in Wien (damals: Genesungsheim Kalksburg) war hier in Europa von Anfang an als Pionier auf diesem Gebiet federführend tätig. Ausgehend vom Bereich der Alkoholsuchtbehandlung wurden auch für viele andere Suchtformen (Medikamente und illegale Substanzen) und auch schon seit einigen Jahren von stoffungebundenen Süchten (Spielsucht/Gambling/Gaming, Internetsucht und Kaufsucht) spezifische ambulante und stationäre Konzepte entwickelt.

Ambulant oder stationär?

Von Politikern, Public-Health-Experten und verschiedenen Stakeholdern aus dem Suchtbereich ist nun seit einigen Jahren wiederholt und mit Nachdruck der Slogan „ambulant vor stationär“ zu vernehmen. Damit wird insinuiert, dass eine a priori ambulante Alkoholsuchtbehandlung grundsätzlich besser sei als eine stationäre. Sie soll, wenn möglich, aus der Mitte des gewohnten Alltags heraus und ohne Umweg in eine ärztlich geleitete Suchtklinik erfolgen.
Für frühe und milde Formen der Alkoholsucht beziehungsweise ein problematisches Alkoholkonsummuster mit zunehmender Gefahr einer Suchtentwicklung mit Chronifizierungstendenz ist das Konzept einer primär ambulanten Behandlung auch durchaus stimmig. Ausgehend von neuen suchtspezifischen Medikamenten, die mehr Kontrolle über das Trinkverhalten versprechen, wurde am Abstinenzparadigma, das bis dahin die Alkoholsuchtbehandlung fast in einem Würgegriff zu halten schien, kräftig gerüttelt. Einige Zeit hatte man den Eindruck, als sei Abstinenz gar nicht mehr der nachhaltigste Weg zur Stabilisierung eines durch eine schwere Sucht in Schieflage geratenen Menschen. Diese Entwicklung traf sich mit dem innigen Wunsch vieler Alkoholkranker, doch endlich wieder kontrolliert oder moderat trinken zu können. Ein Wunschtraum? Für die meisten, vor allem jene, die seit längerer Zeit schon ein süchtiges Konsummuster von signifikantem Schweregrad haben, eher schon!
Dennoch ergeben sich durch die Patientenorientierung in Hinblick auf Behandlungsziele zwei wichtige Vorteile:
Erstens kann man damit endlich jene Menschen mit frühen oder leichten Formen der Alkoholsucht und erst problematisch Alkohol-Konsumierenden, denen das Abstinenzziel zu rigoros oder unerreichbar erschienen ist, für eine Behandlung in Richtung „harm-reduction“ interessieren.
Zweites werden jene, die doch schon schwerere Formen der Alkoholsucht aufweisen und die dringend Hilfe brauchen und deshalb mit dem Gesundheitssystem, in welcher Form auch immer, in Berührung kommen, nicht mehr weggeschickt, wenn sie die Abstinenz als Behandlungsziel (noch) nicht zu akzeptieren bereit sind.
Es ergibt Sinn, die Menschen dort abzuholen, wo sie tatsächlich stehen, um sie so zu einem Eintritt in einen letztlich von den Behandlungszielen variablen Prozess zu motivieren. (Im Alkoholsuchtbereich besteht derzeit nur eine Behandlungsquote von 10 bis 15 %.) Durch eine Intensivierung ambulanter Angebote mit variabel erweiterbaren Behandlungszielen könnten endlich mehr Personen in eine gesundheitspolitisch begrüßenswerte Behandlung ihres schädlichen beziehungsweise krankhaften Alkoholkonsummusters gebracht werden.
Vor allem dann, wenn die Kriterien einer Sucht erfüllt sind, kommt es im ambulanten Setting oft zu einem Scheitern der Betroffenen an den selbst gesteckten Behandlungszielen jenseits von Abstinenz. Durch die aber bereits bestehende Behandlungssituation können in dem Moment aber neue Ziele, wie eine befristete Abstinenz, wesentlich leichter ihre Adressaten finden.

Abstand vom süchtigen Alltag

Der große Vorteil einer zunächst stationären Entwöhnungsbehandlung ist nicht nur die intensivere multiprofessionelle Suchtbehandlung mit ausreichendender Berücksichtigung körperlicher und psychischer Erkrankungen, sondern gerade der Abstand zur gewohnten Lebenswelt mit ihren Fallstricken der gewohnten Muster, in die man auch im Zusammentreffen mit kontraproduktiv agierenden co-abhängigen Angehörigen, sehr leicht zurückfällt.
Im stationären Setting ist es wesentlich leichter, eine Vogelperspektive einzunehmen und damit einen echten Überblick über das aktuelle eigene Leben zu erlangen, als in den Verstrickungen der ungelösten Konflikte des Alltags (Froschperspektive). Eine echte Lebensneugestaltung kann nur aus der Mitte der suchtkranken Person kommen, und sie braucht Zeit zur Festigung.

Resümee

In der Praxis zeigt sich, dass „ambulant vor stationär“ auch einfach nur heißt, dass ambulante Behandlungsversuche oft vor der stationären Behandlung erfolgen. Bei frühen und leichten Formen der Sucht kann das schon der entscheidende Schritt zur nachhaltigen Problemlösung sein; deutlich öfter kann es aber den Auftakt für eine integrierte Behandlung mit ambulanten und stationären Phasen für mehr Betroffene als früher bilden.

Zentrale Anlaufstelle für ärztliche Zuweiser und Patienten ist österreichweit das Ambulatorium Wiedner Hauptstraße, Anton-Proksch-Institut, 1050 Wien, Tel.: 01/880 10-1480.