Wem oder worauf vertrauen wir?

Vertrauen ist zwischen Wissen und Nichtwissen angesiedelt.
Unser Gehirn mag keine Ungewissheit – gerade bei unerwarteten Nachrichten sehnen wir uns nach sicherer Information und werden dadurch leichter auch für Falschmeldungen anfällig. Wem vertrauen wir dann? Ungewissheit ist unangenehm, ist aber die Realität! Vertrauen impliziert also ein gewisses Maß an epistemischer Unsicherheit.

Vertrauen ist wesentlicher, mitgestaltender und mitzuberücksichtigender Faktor im Bereich der Medizin, und zwar sowohl von Seiten der Patient:innen als auch ärztlicherseits.
Der Soziologe und Systemiker Niklas Luhmann fragt nach dem Nutzen und der Funktion von Vertrauen und stellt fest, dass wir Vertrauen zur Reduktion von Komplexität brauchen (die sich unter anderem durch Vielschichtigkeit, Unsicherheit und Ungewissheit ergibt). Wir brauchen Vertrauen, um in unsicheren Situationen wieder handlungsfähig zu werden – und uns für eine der möglichen Alternativen entscheiden zu können. Ein Fall von Vertrauen liegt nur vor, wenn die vertrauensvolle Erwartung bei einer Entscheidung den Ausschlag gibt – anderenfalls handelt es sich um bloße Hoffnung.

Wir unterscheiden:

  • Vertrauen des/der Patient:in in die ärztliche Kompetenz
  • Vertrauen des/der Ärzt:in in die Kompetenz und Kooperationsbereitschaft des/der Patient:in
  • Vertrauen beider in Bezug auf etwas Drittes, etwa in programmierte Ergebnisse wie Laborwertinterpretationen, Gerätepräzision, Bildgebungsinterpretationen, Möglichkeiten von KI etc.
  • Vertrauen wir diesen errechneten Werten, dieser Textbefundung etc. – heißt dies in der Folge, uns nur auf diese Ergebnisse und Möglichkeiten zu verlassen?

Nein, denn zusätzlich zu den bereits gemachten Erfahrungen unser Vertrauen betreffend, können wir uns bei unseren Entscheidungen auch weiter absichern. Unter Absicherung wird im Allgemeinen verstanden, dass wir etwas sicherer machen, dass wir uns vor etwas schützen oder dass wir nachteilige Folgen abwenden wollen. Wir begegnen dem Thema der Absicherung auf Patientenseite, z. B., dass diese eine 2. Meinung einholen. Ärztlicherseits kann Absicherung auch dann gegeben sein, wenn sich Ärzt:innen nicht allein auf die nachgefragten Laborwertinterpretationen, Bildgebungsinterpretationen und Möglichkeiten von KI verlassen, sondern immer wieder auch auf ihre eigene Anschauung und Erfahrung beim Stellen der Diagnose und bei der Therapieplanung zurückgreifen und vertrauen.
Absicherung kann allerdings auch bedeuten, keinen Fehler nachgewiesen bekommen zu wollen. Spannend wäre zu hinterfragen, ob und wie sich künstliche Intelligenz ähnlich absichern könnte?

Vertrauen braucht einen Aushandlungsraum

Im Aushandlungsraum, der im ärztlichen Gespräch aktiv zur Verfügung zu stellen ist, können sowohl Patient:innen als auch Ärzt:innen lernen, Unsicherheit zu erleben, auszuhalten und daraus entstehende weiterführende Fragen zu stellen. Diesen Raum kann KI nicht zur Verfügung stellen, daher können wir ihr nicht blind vertrauen, wir können sie jedoch nützen.
Gegenwärtig wird wechselseitiges Vertrauen zum Prüfstein der Arzt-Patienten-Kommunikation. Dies betrifft nicht nur die diagnostische und therapeutische Kompetenz, sondern vor allem die Entscheidungsfindung, in der Patienteninteressen ausreichend berücksichtigt werden.
Der Fokus von Vertrauen in der Arzt-Patienten-Interaktion unterscheidet sich bei Informed Decision- von Shared Decision-Making. Bei Cared Decision und End of Life Care greifen wiederum wir als Ärzt:innen auf Informationen und Erfahrungen zurück, um so gut wie möglich für Patient:innen zu sorgen, im Vertrauen, auf deren Nachsicht bezüglich unserer begrenzten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.
Vertrauen und Entwicklung in der Kontinuität ist das Besondere der hausärztlichen Arzt-Patienten-Beziehung.

Letztlich geht es um die Akzeptanz von Unsicherheit, um das Ausbalancieren und Abwägen und um die Frage, wann wir uns eher vorsichtig verhalten und wann wir uns eher mutig im Vertrauen zeigen.