HIV: „Wir müssen das richtige Patientenkollektiv testen“

Von „Late Presentation“ spricht man, wenn zum Zeitpunkt der Diagnosestellung die CD-4-Zellzahl des HIV-Infizierten < 350/µl beträgt oder bereits ein AIDS-Stadium vorliegt, definiert durch das Auftreten AIDS-assoziierter Erkrankungen. Der Allgemeinmediziner Dr. Horst Schalk führt gemeinsam mit Dr. Karl Heinz Pichler eine HIV-Schwerpunktpraxis in Wien. Die Ärzte Krone hat mit ihm über die individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen einer frühen HIV-Diagnose gesprochen.

Was sind die Ursachen, dass immer noch viele HIV-Infektionen erst spät diagnostiziert werden?

Dr. Horst Schalk: Die in Österreich am meisten von HIV-Infektionen betroffene Gruppe sind Personen aus dem MSM-Bereich, also Männer, die mit Männern Sex haben. Die Hauptursache für späte Diagnosen ist, dass sich die Betroffenen nicht als Risikopersonen empfinden und daher erst spät einen Arzt aufsuchen. Die zweite große Risikogruppe sind Migranten aus Hochrisikoländern. Unter ihnen gibt es besonders viele Late Presenter, da die Betroffenen in ihren Heimatländern oft gar nicht die Möglichkeit zur Abklärung hatten. Im Regelfall gibt es in Österreich zwar späte HIV-Diagnosen, aber keine zu späten. Die allermeisten Patienten können durch die neuen gut verträglichen und einfachen Therapien stabilisiert werden.

Wie wirkt sich eine Late Presentation auf die Prognose und den weiteren klinischen Verlauf des Patienten aus?

Im Idealfall wird die Diagnose bereits kurz nach Infektion gestellt, bei manchen Patienten tritt wenige Tage nach Infektion eine Akutsymptomatik mit Fieber und Hautausschlägen auf. Wenn man über das Risikoverhalten Bescheid weiß, kann das den Arzt bereits an eine HIV-Infektion denken lassen. Ob die Diagnose sofort oder 1 bis 2 Jahre nach der Infektion gestellt wird, ändert jedoch an der Prognose nicht viel. Dauert es allerdings mehrere Jahre, bis die HIV-Infektion entdeckt wird, kann es zu Problemen kommen und der Patient gefährdet sein. Zwar gibt es hierzu keinen genauen Daten, aber insgesamt lässt sich sagen: Je länger eine niedrige CD-4-Zellzahl besteht, umso länger dauert es bis zu deren Erholung. In manchen Fällen lässt sie sich auch gar nicht mehr normalisieren.
Late Presenting hat aber noch eine zweite Konsequenz: Undiagnostizierte und unbehandelte Patienten gefährden ihre Sexualpartner. Es ist also auch für die Gesellschaft wichtig, dass HIV-Infizierte früh erkannt werden.

Es scheint, als wäre nicht die Behandlung die große Herausforderung, sondern die Diagnose?

So kann man es sagen. Im niedergelassenen Bereich werden weniger HIV-Infektionen übersehen als im Spitalsbereich, obwohl dort jeder Patient vor einer Operation getestet wird. Es wird hier aber das falsche Kollektiv getestet: Ein 70-Jähriger, der vergleichsweise häufig operiert wird, hat ein geringeres Risiko, HIV-positiv zu sein, als ein 30-Jähriger, der ein entsprechendes Risikoverhalten aufweist. Das Entscheidende für eine frühe Diagnose ist daher die Arzt-Patienten-Beziehung: Je besser ich meinen Patienten kenne, umso besser kann ich einschätzen, ob es sich um einen Risikopatienten handelt. Natürlich muss ich ihn auch danach fragen und eine entsprechende Sexualanamnese durchführen.

Die Erkältungssaison nähert sich ihrem Höhepunkt, die Wartezimmer sind gefüllt. Wie lässt sich da ein HIV-Risiko-Assessment in die tägliche Praxis integrieren?

In unserer spezialisierten Praxis ist die Sexualanamnese immer automatisch dabei. Ich halte es aber natürlich auch für unrealistisch, dass ein Allgemeinmediziner jeden seiner Patienten auf dessen Risikoverhalten hin befragen kann. Auch stellt sich die Frage nach der Ehrlichkeit der Antwort. Hier müssen schon auch ein bisschen die Patienten in die Verantwortung genommen werden.
Ein erster guter Schritt zur Verbesserung der Früherkennung war jedenfalls die Aufnahme des HIV-Tests in die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen. Schwangere fallen zumindest in die Risiko-Altersgruppe. Der nächste wichtige Schritt wäre die Integration des Tests in die Gesundenuntersuchung. Bei dieser werden meistens längere und nicht immer nur krankheitsspezifische Arzt-Patienten-Gespräche geführt. Es sollte daher bei entsprechendem Verdacht zumindest die Möglichkeit zum Test in der Vorsorgeuntersuchung enthalten sein; und das ist bisher nicht der Fall.

Gibt es hier finanzielle Barrieren?

Das glaube ich nicht. Andere Laborwerte, die routinemäßig inkludiert untersucht werden, sind wesentlich teurer. Hier geht es eher um den politischen Willen – das Thema HIV und AIDS unterliegt immer noch starker Stigmatisierung.

Abgesehen vom Risikoverhalten – welche Konstellationen sollten Anlass geben, einen HIV-Test zu veranlassen?

Jede andere sexuell übertragbare Erkrankung sollte Anlass sein, genauer nachzufragen, und einen HIV-Test durchzuführen. Auch junge Patienten mit ungewöhnlichen Infektionen, wie etwa einer Gürtelrose, sollte man hinsichtlich einer HIV-Infektion abklären. Das Wichtigste ist, keine Hemmungen davor zu haben, den Test aufzuschreiben.

Der HIV-Selbsttest ist seit etwas mehr als einem Jahr rezeptfrei in den Apotheken erhältlich. Inwiefern trägt dieser zur Früherkennung bei?

Interessanterweise wurde in unserer Ordination noch kein einziger Patient aufgrund eines oder mit einem positiven Selbsttest vorstellig. Es scheint so zu sein, dass die Betroffenen lieber gleich einen Arzt oder die AIDS-Hilfe für den Test aufsuchen. Ein anderer Grund könnte auch sein, dass der Selbsttest eine Latenzzeit von 12 Wochen hat, während diese bei anderen Tests bei etwa 6 Wochen liegt.

Seit Kurzem ist auch die orale Präexpositionsprophylaxe – PrEP – zugelassen, die eine Ansteckung mit dem HI-Virus verhindern soll. Wie gut ist ihr Schutz, und welche Personengruppen kommen für diese Maßnahme in Frage?

Die Wirksamkeit der PrEP ist tatsächlich ausgesprochen gut. Einmal täglich als Dauermedikation eingenommen schützt sie vor HIV-Infektionen. In etwas höherer Dosierung kann sie auch als Bedarfstherapie eingesetzt werden – dafür gibt es jedoch keine Zulassung, wenngleich Daten zur Wirksamkeit vorliegen. Laut Fachinformation ist die PrEP bei „Personen mit einem erhöhten HIV-Infektionsrisiko“ indiziert. Die Kosten sind zwar privat zu zahlen, mit etwa 2 Euro pro Tag jedoch überschaubar. Finanziell mühsamer wird es bei den notwendigen regemäßigen Laborkontrollen – Nierenwerte, HIV-Test und Tests auf andere sexuell übertragbare Erkrankungen –, die ebenfalls aus der privaten Kasse zu entrichten sind.
In erster Linie wird die PrEP von Personen angewandt, die regelmäßig Verkehr mit verschiedenen Personen mit bekanntem oder unbekanntem HIV-Status haben; aber auch bei Paaren, bei denen ein Partner HIV-positiv ist, aber aus irgendeinem Grund keine Medikamente einnimmt. Gut therapierte HIV-Patienten sind nicht infektiös, weswegen in diesen Fällen keine PrEP bei ihren Partnern notwendig ist.

Hat die Angst vor AIDS durch die gute Therapiemöglichkeit und die Verfügbarkeit der PrEP abgenommen?

So pauschal kann man das natürlich nicht sagen. Es ist aber schon so, dass die jüngere Generation die Erkrankung in ihren schweren Ausprägungen nicht mehr kennt. Stattdessen kennt man den einen oder anderen aus der Szene, der täglich seine Tabletten einnimmt. AIDS schaut nicht mehr so aus wie früher: Bei den Todesursachen nehmen mittlerweile die malignen Tumoren zu – bedingt durch eine langfristig reduzierte CD-4-Zellzahl –, während infektionsbedingte Todesfälle abnehmen. Allerdings beobachten wir, dass durch die PrEP das Risikoverhalten wieder ansteigt: Chlamydien-Infektionen, Gonorrhö und Syphilis nehmen zu.