Interview

„Wir sind Überlebensvermittler in der Klimakrise“

Welchen Zugang zum Thema Klimawandel sehen Sie für die Medizin?

Dr. Fuchsig: Die Frage, warum und wofür uns Krisen passieren, insbesondere der Klimawandel, gehen sehr tief. Wir Ärzt:innen haben einen besonderen Zugang zu diesen Fragen. Alle wissen, dass unsere Lebensweise weder globalisierbar noch nachhaltig ist und dass die hohen Depressionsraten kein Zeichen verbreiteten Glücks darstellen. Die Frage „Was fehlt Ihnen denn?“ sollten wir daher nicht nur dem Einzelnen, sondern Gruppen und Gesellschaften stellen.

Und wo stehen wir diesbezüglich gerade?

In einer Befragung wurden Ärzt:innen und Patient:innen unabhängig voneinander befragt, welche Stufen der Medizin sie sich wünschen. Erstens, Symptombekämpfung, die Spritze, die für eine Woche die ärgsten Schmerzen nimmt. Zweitens Reparaturmedizin, die mit Medikamenten oder Eingriffen Erreger entfernt oder Knochen wieder geraderichtet. Drittens, eine hinterfragende Medizin nach dem Warum, etwa wieso die anderen im Raum nicht infiziert wurden. Viertens, wofür das passiert ist, ob man die Lernerfahrung annehmen möchte, vielleicht sogar das Gelernte weitergeben kann. 90 % beider Gruppen wollten Stufe 3 oder 4. 90 % der Medizin endet aber in Stufe 1 oder 2. Verstehen Sie mich nicht falsch: als Pollinotiker nutze ich wochenlang Augen- und Nasenspray und nehme Antihistaminika. Und nach 33 Jahren Hepatitis C finde ich Virusfreiheit nach sechs Wochen Tabletten ohne jede Nebenwirkung einfach großartig. Aber wir müssen der Sorge um Menschen und ihre Lebensräume mehr Aufmerksamkeit schenken.

Welche Möglichkeiten gibt es denn, Patient:innen zu einem klimagerechten Verhalten zu animieren?

Fangen wir mit dem Naheliegenden an – beim Anfahrtsweg: die Mehrheit der Patient:innen könnte zumindest einen Teil des Weges zu Fuß oder per Fahrrad zurücklegen. Derart anstrengen, dass die Leukozyten über 10.000 steigen, wird sich kaum jemand. Vielleicht reduzieren sich aber Schmerzen durch Freisetzung von Myokinen aus Muskeln. Sprechen Sie Ihre Patient:innen darauf an, rezeptieren Sie regelmäßige Bewegung und stellen Sie ausreichend Radabstellplätze unter Dach und mit Licht zur Verfügung. Freude an der Bewegung kann auch bei orthopädischen Tests besprochen werden.

Gibt es darüber hinaus noch weitere Aspekte, bei denen man das Thema zur Sprache bringen könnte?

Kleidung wird als unsere zweite Haut bezeichnet, und mit 60 Stück pro Jahr kaufen Europäer:innen riesige Mengen davon. Zwei Drittel der Textilien bestehen aus Kunstfasern, die zu den größten Verursachern von Mikroplastik gehören. In Österreich dürfte nur noch der Reifenabrieb mit 10–20.000 Tonnen pro Jahr der größere Verursacher sein. Die Frage ist also: Was kleidet Sie? Vielleicht eine Naturfaser aus Holz aus ökologischer Produktion in Österreich? Hier sind wir immerhin Weltmarkführer, und sie ist sehr lange haltbar und dermatologisch bestens verträglich, während Klinikwäsche manchmal als „Reizwäsche“ bezeichnet werden muss. Wegen Billigwäsche litten in einem österreichischen Großspital über 200 Mitarbeiter:innen unter Hautausschlägen bis hin zu nötiger systematischer Kortisonbehandlung. Ein weiterer Aspekt, über den man sich Gedanken machen muss, sind Hitzewellen – sie befeuern den Trend weg vom Arztmantel.

Wie wappnet man die Ordination für einen Hitzesommer?

Trinken Sie sichtbar Wasser während der Sprechstunden. Sollte sich die Ordination in Hitzephasen über 26 °C erwärmen, wäre ein Anbieten von Wasser in waschbaren Gläsern auch ein Hinweis für hitzevulnerable Patient:innen. In echten Hitzewellen mit weit über 30° C abends sind Morgen- oder Teleordinationen wichtige Maßnahmen. Leider fehlt auf Medikamentenpackungen ein Hinweis, ob sie hitzesensibler machen und wie die Dosis im Fall anzupassen ist. Transdermale Anwendungen und Verbände sind weitere Probleme bei Hitze. Insgesamt können aber Ordinationen – leichter als Krankenhäuser – heilsame Lebensräume werden. Im Winter verbringen wir 95 % der Zeit in Innenräumen, im Sommer meist 90 % – daher sind „healthy buildings“* essenziell. Saubere und ausreichend frische Luft erhöht die Arbeitsfähigkeit und verringert die Ansteckungsgefahr. Die Ärztekammer erarbeitet – vermutlich mit dem Kompetenzzentrum Klimawandel und Gesundheit der GÖG – Beratungsangebote zu hygienischem und klimafreundlichem Kühlen von Wartezimmern.

Inwieweit können auch Medikamente nachhaltiger werden?

Medikamente stellen mehr als ein Viertel des ökologischen Fußabdrucks des österreichischen Gesundheitssektors dar, der wiederum für 7 % der Treibhausgase verantwortlich ist und damit deutlich über dem OECD–Schnitt liegt. „Choosing wisely“ wäre ein erster Schritt: zunächst den Patient:innen eine Lebensstiländerung nahezulegen und erst nach einer Beobachtungszeit die medikamentöse Behandlung von Risikofaktoren wie hoher Blutdruck, erhöhte Nüchternglukose oder LDL zu beginnen. Dazu kommt, dass 50 % der verordneten Medikamente gar nicht genommen werden. Der Umweltschaden durch weggeworfene, aber auch eingenommene Medikamente ist hoch. Die Forschung arbeitet bereits an Reinigungsstufen, um die Metaboliten in den Kläranlagen beseitigen zu können. Auch nachhaltigere oder wiederverwendbare Medikamentenverpackungen wären wünschenswert. Dosieraerosole ohne Treibgase sind im Kommen – in Deutschland gibt es sogar schon eine S1-Leitlinie „Klimabewusste Verordnung von inhalativen Arzneimitteln“.

Welche Impulse könnte man im Hinblick auf den Ernährungsstil setzen?

Um leistungsfähig zu bleiben, braucht unser Körper auch die nötige Mahl-Zeit, die wir uns im Team oder alleine mit langsamer Musik und nichts anderem – Handy und Ärztezeitung weg! – nehmen sollten. Haben wir die Empfehlungen für unsere Patient:innen schon selbst ausprobiert? Die Diät der EAT-Lancet-Kommission, eine sogenannte Planetary Diet, die auch unserem Stoffwechsel dient, zeigt auf, wie die zukünftige Weltbevölkerung innerhalb der ökologischen Belastungsgrenzen mit einer gesundheitsfördernden Ernährung versorgt werden kann.

Wie begegnet man der Sorge, Klimaschutz sei mit großem Verzicht verbunden?

Zahlreiche Studien zeigen, dass ein materiell orientierter Lebensstil, Konkurrenz und ein Sich-Vergleichen weder glücklich noch gesund machen. Wir wissen doch – nicht nur, aber besonders aus Gesprächen mit terminalen Patient:innen –, was Menschen wirklich berührt: eine lohnende Aufgabe, ‚ich werde noch gebraucht‘, gelingende Beziehungen, Menschen, die für einen und für die man da sein kann, wenn Dankbarkeit und Nähe ausgedrückt werden. Alles ohne Fußabdruck, ohne großen Einsatz von Ressourcen. Zwar stresst die „Fear of missing out“ – nach einem Sommer nicht von einer tollen Reise erzählen zu können oder argumentieren zu müssen, warum man kleine Autos oder Wohnungen gewählt hat. Die Zuvielitis befriedigt aber nicht dauerhaft, sie führt zur Entzündung der Herzen und des Planeten. Vielleicht ist eine Reflexion, was uns selbst so zentral wichtig ist, ein Stück des Weges, einmal die*der weise Frau oder Herr Doktor zu sein. Dann werden wir um mehr gefragt als um die momentane Bekämpfung von Symptomen, sondern wofür das alles gut sein kann und wofür es sich zu leben lohnt.

Vielen Dank für das Gespräch!“

 

Vorbereitung auf Hitze und Blackout:

  • außenliegenden Sonnenschutz stromlos vorbereiten (notfalls Tücher/Papierbögen!)
  • Laser-Fieberthermometer zur Unterscheidung Hitzekollaps/Hitzschlag (im Fall eines Hitzschlages ist es kaum mehr möglich, zu schwitzen, es droht ein Multiorganversagen)
  • vor allem morgens offenhalten, Patient:innen vorbereiten (trinken)
  • Medikamente richtig lagern, sich vertraut machen, welche hitzesensibel machen