„Ausgewogene bedarfsdeckende Ernährung existiert nur auf dem Papier“

Welche Mikronährstoffe benötigt der Organismus in stressigen Zeiten ganz besonders?

Uwe Gröber: Es besteht ein hoher Bedarf an Magnesium. Der Grund dafür: Bei chronischem Stress steigt der Aldosteronspiegel, der eine erhöhte Ausscheidung dieses Minerals über die Niere fördert. Weiters wichtig zu erwähnen ist Vitamin D, weil es für die Verfügbarkeit von Serotonin sorgt. Neuroendokrine Hormone werden durch Vitamin D angeregt. Es besteht auch ein enger Zusammenhang mit Magnesium: Beide Mikronährstoffe sind für die Produktion eines wichtigen Neurotrophins, BDNF*, von Bedeutung. Dieser Faktor erlaubt es den Nervenzellen, besser mit Stress umzugehen. Ein Mangel an Magnesium wirkt sich auch auf die Vitamin-D-Versorgung aus, denn dadurch wird ein Enzym aktiviert, das Vitamin D abbaut. Magnesiummangel führt also zu Vitamin-D-Mangel. Und aus Untersuchungen wissen wir, dass die Versorgung mit Magnesium europaweit nicht gut ist.

Gibt es weitere Vitamine, die bei Stress wichtig sind?

Vitamin C ist von hoher Bedeutung, weil es für eine normale Stressantwort sorgt. Die durch Stress ausgelöste Katecholaminsynthese führt jedoch zu einem erhöhten Bedarf an diesem Vitamin. Für die Entfaltung ihrer biologischen Aktivität brauchen neuroendokrine Hormone wie CRH („corticotropin-releasing hormone“) Vitamin C. Vitamin C ist folglich für die Synthese der Glukokortikoide in der Nebenniere notwendig: Bei einem Vitamin-C-Mangel ist die Stressantwort reduziert. Man hat festgestellt, dass die Vitamin-C-Spiegel bei chronischem Stress sinken. Als Folge davon nimmt die Stressresistenz ab. Personen mit hoher Stressbelastung, wie zum Beispiel Leistungssportler, profitieren von der prophylaktischen Einnahme von Vitamin C in Bezug auf die Infektanfälligkeit. Auch Vitamin B12 ist ein Stoff, der einen Beitrag leistet, um besser mit Stress umzugehen.

Welche Rolle spielt Zink bei Stress und Belastung?

Zink ist ein wichtiges Spurenelement für die Stress­antwort. Außerdem beugt es negativen Effekten von Stress auf das Immunsystem vor. Eine Unterversorgung ist in Österreich und Deutschland weit verbreitet. Das liegt zum Teil an der zu geringen Aufnahme, aber auch an Nahrungsfaktoren wie Phytat und Oxalat, welche die Verfügbarkeit verringern. Wenn supplementiert wird, sollte Zink daher immer nüchtern eingenommen werden.

Inwieweit wird die Zinkversorgung durch die Einnahme von Medikamenten beeinflusst?

Durch die Einnahme von Diuretika kommt es zu einer Beeinträchtigung der Zinkversorgung. Auch ACE-Hemmer reduzieren die Zinkaufnahme, da sie Verbindungen mit dem Spurenelement eingehen, die nicht gut vom Körper aufgenommen werden. Herr Professor Ernst Mutschler hat zu Capto­pril/Enalapril an der Universität Frankfurt eindrückliche Forschungsarbeiten publiziert. Leider ist die Labordiagnostik für Zink noch unbefriedigend. Serum- und Blutspiegel sagen nur wenig über die tatsächliche Zinkversorgung aus. Es wäre stattdessen besser, zinkabhängige Proteine zu messen.

Welche Empfehlung würden Sie gestressten Menschen geben?

In der akuten Phase ist die Einnahme eines Vitamin-B-Komplexes empfehlenswert, um besser mit der Belastung umzugehen. Dann sollte man eine gesunde Lebensstiländerung anstoßen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn es kann nicht sein, dass man Mikronährstoffe ausschließlich einnimmt, um den Stress besser zu ertragen und mehr leisten zu können. Der Sinn der Mikronährstoffe in solchen Phasen ist es, eine Unterversorgung zu vermeiden und gegebenenfalls auszugleichen. Es ist dabei wichtig, anzumerken, dass Mangelerscheinungen erst mit einer Chronifizierung von Stress eintreten. Es führt aber jedenfalls kein Weg an einer Art „Lebensstilhygiene“ und an ausreichendem Schlaf vorbei. Außerdem gibt es aus meiner Sicht vier ganz wichtige Parameter, die häufig kontrolliert werden sollten.

Welche sind das?

Es handelt sich um den Vitamin-D-Spiegel, den Selenstatus, den Omega-3-Index und das Homocystein. Gerade beim Homocystein ist erwiesen, dass es ein unabhängiger Faktor für die allgemeine und kardiovaskuläre Mortalität ist und für Störungen im Hirnstoffwechsel sorgt. Ist bekannt, dass der Homocystein-Wert erhöht ist, kann man mit der Kombination aus Vitamin B6, Folat und Vitamin B12 eine Senkung herbeiführen.

Die viel zitierte ausgewogene, bedarfsdeckende Ernährung – gibt es diese Ihrer Meinung nach?

Sie existiert auf dem Papier, und ich habe Zweifel, dass man – mit welcher Kostform auch immer – den gesamten Nährstoffbedarf gut abdecken kann. Dazu muss man sich nur das Einkaufsverhalten der meisten Menschen vor Augen führen. Es wird viel Fertigkost gekauft, viel Tiefkühlpizza und Co., und zu wenig vitalstoffreiche Erzeugnisse. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir heute über Gemüse nicht mehr annähernd so viele Nährstoffe aufnehmen wie vor 100 Jahren – die Böden geben das nicht mehr her.

Wie begründen Sie die Aussage zu den nährstoffarmen Böden, die ja im Widerspruch zu den Angaben der mitteleuropäischen Ernährungsfachgesellschaften steht?

Ich habe erst kürzlich einen Artikel veröffentlicht, für den die Gehalte mehrerer Mikronährstoffe wie Magnesium, Eisen und Kalzium in Gemüse zwischen dem Jahr 1914 und dem Jahr 2018 verglichen wurden. Das Ergebnis: Der Mikronährstoffgehalt in Gemüse hat in dieser Zeit um rund 90 % abgenommen! Und die Problematik wird sich durch den Klimawandel weiter verstärken, wie die hoch angesehene ETH Zürich** bereits im Jahr 2017 publiziert hat. All diese Erkenntnisse werden von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bisher nicht berücksichtigt.

Wie sehen Sie die Nährstoffversorgung in der veganen Ernährung?

Vegane Ernährung erweist sich in Untersuchungen immer wieder als sehr effektiv in der Prävention von Erkrankungen. Allerdings gibt es Mikronährstoffe, bei denen die Versorgung problematisch ist. Das ist vor allem das Vitamin B12, aber auch das Eisen. Außerdem werden oft zu wenig Omega-3-Fettsäuren aufgenommen, was aber durch die Verwendung von Algenöl gut machbar wäre.

Abschließende Frage: Wie beurteilen Sie das Wissen zu Mikronährstoffen in der Bevölkerung?

Wir brauchen viel mehr Aufklärung in diesem Bereich, und wir müssen achtgeben, dass die Bevölkerung nicht auf die falsche Fährte geführt wird. Im Fernsehen tritt gefühlt alle 5 Minuten ein neuer Fachmann auf. Da wird leider viel Unwahres erzählt. Das gilt auch für Portale wie YouTube. Die oft unwissenschaftlichen Inhalte werden gut verkauft, die Follower-Zahlen steigen, aber der Konsument hinterfragt das alles viel zu wenig. Wir müssen schon in der Schule ansetzen, etwa indem wir ein Schulfach „Gesunde Ernährung“ einführen. Das müsste genauso bewertet werden wie Deutsch oder Mathematik.

 

* „Brain-derived neurotrophic factor“

** Eidgenössische Technische Hochschule Zürich