Capsicum: Schärfe mit Wirkung

Herr Univ.-Prof. Mag. Dr. Kubelka, was weiß man über den Wirkmechanismus von Capsaicin? Welche körpereigenen Rezeptoren und Botenstoffe spielen dabei eine Rolle?
Capsaicin reagiert bei lokaler Applikation mit den Vanilloid-Rezeptoren vom Subtyp 1 (TRPV1) an den Axonenden von Substanz-P-haltigen Nervenzellen der Haut. Es kommt dadurch zur Öffnung von Ionenkanälen und zur Weiterleitung von Aktionspotenzialen über schnell-leitende Aδ- und langsamer-leitende C-Fasern in das ZNS (Rückenmark und Gehirn). Dadurch wird eine Schmerz- und/oder Wärmeempfindung ausgelöst. Am Applikationsort kommt es zur Ausschüttung von verschiedenen Neuromediatoren, v. a. von Substanz P. Dieses Neuropeptid ist als Neurotransmitter in den afferenten Neuronen für die Schmerzweiterleitung von der Peripherie in das Rückenmark bedeutsam, es löst aber auch lokal durch Ausschüttung von Entzündungsmediatoren (Histamin, Bradykinin, Prostaglandine) eine neurogene Entzündung mit Vasodilatation (stärkere Durchblutung) des benachbarten Gewebes aus.
Bei längerer Anwendung von Capsaicin werden die Vanilloid-Rezeptoren mehrfach, wiederholt, stimuliert, es kommt zu einer Desensibilisierung gegenüber Capsaicin, zur Entleerung der Substanz-P-Speicher und damit zur erwünschten analgetischen und entzündungshemmenden Wirksamkeit.

Für welche Indikationen würden Sie capsaicinhaltige Arzneimittel aufgrund der beschriebenen Wirkungen empfehlen?
Die beschriebenen Wirkungen erlauben heute eine bessere Erklärung für die seit langem bekannten Erfolge bei der Anwendung von Capsicum-Präparaten. Aufgrund der analgetischen, antiphlogistischen und juckreizmildernden Wirkung äußerlich applizierter Capsicum-Zubereitungen empfiehlt sich ein Einsatz bei Muskelschmerzen, Schmerzen bei Erkrankungen des Bewegungsapparates, rheumatoider Arthritis, Osteoarthritis, neuralgischen und neuropathischen Schmerzzuständen, Epikondylitis, Ischias sowie bei Juckreiz unterschiedlicher Genese.

Wie gut sind die für Capsaicin ­angeführten Wirkmechanismen und Wirkungen durch entsprechende Studien belegt?
Die Charakterisierung der Vanilloid-Rezeptoren ermöglichte detaillierte Einblicke in die komplexen Wirkmechanismen von Capsaicin. Eine Vielzahl von Untersuchungen mit Capsaicin und Capsicumextrakten in vitro und in vivo, an Versuchstieren, v. a. aber auch klinische Arbeiten der letzten Jahre, führten zu einem besseren Verständnis der Wirksamkeit von Capsaicinoiden. Die in den Monografien der ESCOP* und des HMPC** beschriebenen Daten sowie der grundlegende, umfassende Assessment Report des HMPC geben eine sehr gute Übersicht über den heutigen Kenntnisstand. Darauf beruht auch die Bewertung des HMPC für Capsicum-Präparate als halbfeste Zubereitungen oder als Pflaster für die äußerliche Anwendung im „well-established use“. Das bedeutet, Wirksamkeit und Sicherheit gelten als anerkannt.

Capsicum ist insgesamt eine sehr bunte und vielfältige Pflanzengattung. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Farbe, Schärfe und Capsaicingehalt?
Die Farbe von Capsicumfrüchten ist bekanntermaßen sehr unterschiedlich. Sie variiert von fast weiß bis fast schwarz, bei den als Gemüse oder Gewürz verwendeten Früchten denkt man zuallererst an grüne oder rote Varianten. Die Färbung der Früchte hängt von der Menge und der Zusammensetzung der enthaltenen Farbstoffe ab, im Wesentlichen Chlorophyll, Carotinoide, Anthocyane und Flavonoide. Die „Schärfe“ der Früchte oder von Zubereitungen daraus wird allein vom Gehalt an Scharfstoffen, Capsaicinoiden, bestimmt: je höher der Capsaicinoidgehalt, desto schärfer – in keinem Zusammenhang mit der Farbe.

Hat die Farbe Einfluss auf die ­arzneiliche Wirkung?
„Fructus Capsici“ zur arzneilichen Verwendung dürfen gelb- bis rotbraun gefärbt sein. Aus der Farbe allein kann man also nicht auf die „Schärfe“ schließen. Die „Schärfe“ wird bei der Verwendung als Gewürz seit mehr als hundert Jahren immer noch in Scoville-Einheiten angegeben. Genauer ist die Bestimmung des Scharfwertes unter Verwendung einer Standardsubstanz; bei beiden Methoden wird die Verdünnung ermittelt, in der eine Probe beim Kosten eben schon das Gefühl „scharf“ vermittelt. Bei Arzneimitteln bestimmt man den Gehalt an wirksamen Capsaicinoiden mit modernen analytischen Methoden (z. B. nach DC oder mittels HPLC oder GC). Fertigprodukte können und müssen danach auf einen genau bestimmten, immer gleichen Gehalt an Capsaicinoiden als Wirkstoff eingestellt werden. Die Farbe des Präparates kann unabhängig davon variieren, hat aber keinen Einfluss auf die Wirksamkeit.

Ist das durch capsaicinhaltige Arzneimittel erzeugte Wärmegefühl ein zuverlässiger Indikator für eine starke/schwache bzw. nachlassende Wirkung?
Die subjektive Empfindlichkeit für – bzw. Reaktion auf – Capsaicinoide ist nachgewiesenermaßen sehr unterschiedlich; das ist schon aus der alltäglichen Erfahrung bekannt: Was für manche angenehm scharf, ist für andere unerträglich. Das lässt sich bei der Scharfwertbestimmung objektivieren und zeigt sich auch als Ergebnis von Studien. Auch das auftretende Gefühl der Erwärmung nach äußerlicher Applikation ist individuell sehr unterschiedlich und lässt keinen Schluss auf die Wirksamkeit zu.

Welche Vorsichtsmaßnahmen sollte man bei der Anwendung von capsaicinhaltigen Arzneimitteln beachten?
Auch wenn die gebräuchlichen Fertigarzneimittel auf einen relativ niedrigen Gehalt an Capsaicin eingestellt sind, sollte man sie nur auf intakter Haut aufbringen, wegen der Reizwirkung keinesfalls in Augennähe, auf Schleimhäute oder verletzte, ekzematöse Haut oder Wunden. Nach der Anwendung empfiehlt sich gründliches Händewaschen mit Wasser und Seife. In manchen Fällen kann es zu Brennen oder Erythem an der Auftragsstelle kommen. Interaktionen mit anderen Arzneistoffen sind nicht bekannt, eine Hemmung von CYP-Enzymen war nicht nachzuweisen. Das HMPC empfiehlt die Anwendung bis zu drei Wochen, danach eine Pause von mindestens drei Wochen. Mangels ausreichender Daten wird eine Anwendung während Schwangerschaft und Stillzeit nur nach Rücksprache mit ärztlichem Personal empfohlen.

Botanischer/biologischer Exkurs
Solanaceen sind bekannt für ihre Fähigkeit, stickstoffhaltige Substanzen zu produzieren: Tollkirsche, Tabak, Nachtschatten, Kartoffelpflanze und viele andere enthalten echte Alkaloide (Stickstoff ringförmig gebunden). Capsaicinoide in Capsicum besitzen ebenfalls Stickstoff im Molekül, aber nicht im Ring, sondern als Säureamide. Deshalb werden sie manchmal als Pseudoalkaloide bezeichnet. Sie werden nicht in allen Pflanzenteilen synthetisiert, sondern nur im Gewebe der Plazentarleisten der Früchte, d. h. nur an den Stellen, an denen die Samen gebildet werden und angeheftet sind. Das sind auch die schärfsten Teile der Capsicumfrüchte. Die Capsaicinoid-Menge und Zusammensetzung sind offenbar genetisch determiniert. Sie sind sehr unterschiedlich bei einzelnen Arten bzw. Sorten und weniger von Umweltbedingungen beeinflusst.

Warum produzieren Pflanzen kompliziert gebaute Sekundärstoffe? Die Antwort scheint auch bei Capsicumfrüchten einfach: Sie schützen sich gegen Fressfeinde („Schutzstoffhypothese“). Säugetiere lernen rasch, die zu scharfen roten Früchte zu meiden. Allerdings: Vögel haben andere Rezeptoren, sie reagieren nicht auf Capsaicinoide, fressen die Früchte und sorgen so für die Verbreitung der Samen. Andere Erklärungen? Sekundärstoffe werden zu unserem Wohl und Nutzen gebildet: Ernährung, Gewürze, Geschmack, Geruch, Farben, Arzneimittel (allerdings kennen wir auch giftige Stoffe!). Oder doch einfach: Luxuriöses Spiel des Schöpfers, der Natur…?