Der Blick über die Grenze – Großbritannien – Part 2

Die COVID-19-Pandemie hat in vielerlei Hinsicht eine Katalysatorwirkung auf Veränderungen. Im UK sind telefonische Beratungsgespräche mit dem Hausarzt sehr beliebt. Der Anteil solcher Gespräche hat sich von 13 % vor der Pandemie auf mittlerweile 42 % mehr als verdreifacht. Während viele europäische Länder gerade hart unter der vierten Coronawelle leiden, ist die Situation im UK entspannter und weniger dramatisch, da sich die Zahlen nicht explosionsartig entwickeln. Der bislang letzte Höchststand an täglichen Neuinfektionen wurde Mitte Juli mit knapp 61.000 Fällen erreicht. Im August sanken die Fallzahlen, pendelten sich auf hohem Niveau ein und stiegen seit Schulbeginn wieder an. Derzeit liegt das Vereinigte Königreich bei unter 40.000 Neuinfektionen/Tag bei einer Einwohnerzahl von 67 Millionen. Das UK ist den Ländern Kontinentaleuropas in der Entwicklung des Pandemiegeschehens voraus und hat zusätzlich einen hohen Level an Immunität vorzuweisen – mehr als 80 % der über Zwölfjährigen sind vollständig geimpft, etwa ein Viertel davon erhielt bereits eine Boosterimpfung, und viele junge Leute sind genesen. Schutzmaßnahmen gibt es in England seit dem Sommer fast keine mehr, und das Leben der Apotheker und ihrer Angestellten normalisierte sich weitestgehend.

Land der E-Rezepte

In Sachen Digitalisierung der Arzneimittelversorgung ist das UK bereits weit fortgeschritten. Schon seit Jahren liegt der Anteil der elektronischen Rezepte bei knapp 100 %. Durch die zweite modernisierte Version des E-Rezepts, verbunden mit einer neuen Apotheken- und Arztsoftware, wird die Vernetzung zwischen Arzt und Apotheke noch weiter erhöht. Dies spart Zeit und Geld und Apothekern wird mehr Zeit mit ihren Patienten ermöglicht. Dies ist vor dem Hintergrund wichtig, dass Patienten Umfragen zufolge mit der medizinischen Betreuung im Land nicht zufrieden sind. Kritisiert werden oft monatelange Wartezeiten auf Arzt- und OP-Termine, fehlende Optionen bei der Arztwahl und seltene Überweisungen zu Spezialisten. Hier soll die Apotheke noch mehr zum Einsatz kommen. Der NHS befürwortet, dass Patienten mit geringfügigen Gesundheitsstörungen möglichst nicht mehr zum Arzt, sondern direkt in die Apotheke gehen.

Die Zukunft der Apotheke

Fähigkeiten der Pharmazeuten, die sie vor allem im Rahmen der COVID-19-Pandemie unter Beweis stellten, sollen künftig anerkannt und weiterentwickelt werden. Das Ausbildungsprogramm zum „Independent Prescriber“ soll bis 2025/26 auf alle Apotheker ausgerollt werden. Interdisziplinäre Teams sollen verstärkt, die ­entsprechende digitale Infrastruktur soll verbessert und effizientere Verschreibungssysteme wie das „Hub-and-Spoke-System“ sollen geschaffen werden. Außerdem ist geplant, Pharmazeuten vollen Zugriff auf Patientenakten zu geben. Ebendiese NHS-Reformen sind allerdings mit großen Herausforderungen verbunden und verschärften neben anderen Ursachen die Situation in Apotheken bezüglich Personalknappheit. Seit 2019 wurden fast 3.000 Pharmazeuten vom NHS rekrutiert sowie in neu geschaffenen Positionen eingesetzt, und bis 2024 sollen weitere 7.000 folgen. Apotheker verlassen aufgrund ihrer zusätzlichen Fähigkeiten, die sie beispielsweise bei der Ausbildung zum „Independent Prescriber“ erwarben, ihre Apotheke oder bewerben sich erst gar nicht in einer. In den vergangenen 12 Monaten mussten 185 Apotheken geschlossen werden. Weitere Schließungen sind unvermeidbar, wenn die Regierung nicht entsprechende Maßnahmen setzt.

Im Oktober 2019 wurde der „Community Pharmacist Consultation Service“ (CPCS) vom NHS ins Leben gerufen. Hierbei geht es um honorierte persönliche oder Online-Betreuung und -Beratung durch Apotheker nach einem Anruf von Patienten bei der medizinischen 24-Stunden-Hotline „NHS 111“ oder um eine Weiterleitung durch Allgemeinmediziner. Seit der Einführung des CPCS wurden durchschnittlich 10.500 Patienten pro Woche nach einem Anruf bei „NHS 111“ zu einer Konsultation mit einem Apotheker überwiesen. Seit November 2020 können Hausarztpraxen Patienten für eine Sprechstunde über den CPCS überweisen. Gerade läuft eine Kampagne, noch mehr praktische Ärzte zur Anmeldung beim CPCS zu ermutigen, obgleich dadurch jene Einkünfte, die durch Streichung anderer bezahlter Serviceleistungen verloren gingen, nicht bzw. noch nicht kompensiert werden können. Zur aktuellen Situation passt folgendes Zitat: „This is akin to rob Peter to pay Paul“ oder anders ausgedrückt: Ein Loch wird gestopft und ein anderes aufgerissen.

Quelle: IQVIA | Internationale Insights – Daten und Fakten zur Apotheken-Landschaft in UK – Teil 2