Evidenzbasierter Einsatz von Probiotika

Apotheker Krone: Welche gesicherten Einsatz­gebiete gibt es für Probiotika?

Univ.-Prof. Dr. Günter Krejs: „Eine rezente Metaanalyse4 aus dem Jahr 2012 fasst alle jene Indikationen zusammen, für die ein signifikanter Vorteil gezeigt werden konnte. Dies ist die aktuell wichtigste statistische Arbeit, da sie 74 Studien zur Wirksamkeit der Probiotika evaluierte.
An erster Stelle steht eine seltene, aber folgenschwere Erkrankung: die Pouchitis. Im Rahmen einer totalen Dickdarmentfernung auf Grund einer Colitis ulcerosa wird ein Beutel (Pouch) als Verbindung zwischen Dünndarm und After angelegt. Bei 50 % der Patienten tritt eine Entzündung (Pouchitis) auf. Gemäß neuester Erkenntnisse sogar mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, wenn kommensale Keime wie Bacteroides vulgatus, Ruminococcus gnavus oder Clostridium perfringens schon vor der Kolektomie nachweisbar sind. Eine Therapie mit Probiotika kann hier sehr erfolgreich angewendet werden.
Eine weitere evidenzbasierte Indikation ist die infektiöse Diarrhö, insbesondere die antibiotikaassoziierte Diarrhö (AAD). Mehr als 50 % der Patienten sind im Rahmen einer Antibiotikaeinnahme davon betroffen, da die Mikrobiota massiv beeinflusst wird. Etwa 10 % entwickeln im Rahmen einer lang andauernden Antibiotikatherapie eine pseudomembranöse Kolitis. Vor allem Clostridium difficile vermehren sich stark und führen zu einer Clostridium-difficile-assoziierten Diarrhö (CDAD). Sowohl bei AAD als auch CDAD konnte die Metaanalyse einen signifikanten Vorteil der Probiotika in der Prävention und Therapie aufzeigen. Ebenfalls einen signifikanten Erfolg bringen Probiotika im Rahmen einer Eradikation von H. pylori. Bei der Reisediarrhö konnte in der Studie ein gewisser Benefit, jedoch keine Signifikanz gezeigt werden. In einer rezenten Cochrane-Studienauswertung konnten Probiotika überdies die Stuhlfrequenz bei Kindern mit persistierender Diarrhö nach fünf Tagen reduzieren.
Zunehmend legen Studien auch dar, dass Probiotika beim Reizdarmsyndrom wirksam sind. Dominierendes Symptom ist der Bauchschmerz, begleitet entweder von Obstipation oder Diarrhö. Organisch ist nichts zu finden, es besteht aber mit großer Wahrscheinlichkeit ein funktioneller Defekt im enterischen Nervensystem (Darmnervensystem). Auch hier konnte in der Metaanalyse mit Probiotika eine signifikante Verbesserung der Symptome erreicht werden. Insgesamt zeigte sich auch, dass das Alter der Probanden, egal welche Erkrankung vorlag, keine Rolle spielte. Anders formuliert: Probiotika induzieren sowohl bei Säuglingen als auch bei Kindern und Erwachsenen signifikante Effekte, und das schon mit kurzen Behandlungen von 1–3 Wochen, wenngleich die beste Wirksamkeit bei Gaben ab 9 Wochen erzielt werden konnte.“

Welche Einsatzgebiete der Probiotika sind vielversprechend?

„Probiotika zeigen nicht nur Effekte im gas­trointestinalen Bereich, sondern auch jenseits dessen. Ein Ansatzpunkt ist das Immunsystem. Die dendritischen Zellen in der Darmmukosa gehören zum darmassoziierten Immunsystem (GALT, gut-associated lyphoid tissue). Sie registrieren Darminhalte und senden Signale an das Immunsystem. Probiotika können diese Signalgebung beeinflussen, z. B. durch eine Hochregulation der IL-10-Expression mit sich daraus ergebenden antiinflammatorischen Effekten. Erste Studien zeigen, dass Probiotika Erkältungs- und Grippesymptome – vor allem Nasenrinnen und Fieber – mildern können. Gibt man älteren Menschen zeitgleich zur Influenzaimpfung ein Probiotikum, werden höhere Antikörpertiter gegen Grippeviren erreicht. Über den Weg des GALT zeigen Studien auch positive Effekte von Probiotika auf Harnwegsinfektionen.
Ein interessantes Feld ist die Einflussnahme auf den Metabolismus. Studien zufolge sind die Mikrobiota bei Adipösen anders zusammengesetzt als bei normalgewichtigen Menschen, konkret ist die Firmicutes-Bacteroidetes-Ratio verschoben. Diese spielt für die Kalorienverwertung eine wesentliche Rolle. Adipöse haben im Vergleich zu schlanken Menschen mehr Firmicutes, die besonders effiziente Verarbeiter von komplexen Kohlehydraten sind, und lagern folglich mehr viszerales Fettgewebe an. Ein interessanter Ansatz ist es, hier mit Probiotika oder Stuhltransplantation regulierend einzugreifen. In diesem Zusammenhang gibt es auch erste Daten, dass die Insulinsensitivität bei Typ-2-Diabetikern verbessert werden kann. Und zwar, indem das Ansprechen auf Zytokine und Signalhormone, die vom viszeralen Fettgewebe ausgehen, bspw. Leptin (vermindert den Appetit), durch Probiotika moduliert werden kann. Dieser Mechanismus könnte sich auch beim metabolischen Syndrom und der Fettleber als günstig erweisen.
Es gibt erste Daten zum Einsatz von Probiotika in der Onkologie, da sie auch gewisse Anti-Krebs- bzw. anti­neoplastische Eigenschaften haben. In einer japanischen Studie konnten Probiotika die Rezidivrate bei Blasenkarzinomen senken. In einer weiteren Studie mit Patienten mit Dickdarmpolypen (Vorstufe des kolorektalen Karzinoms) konnten Probiotika gewisse, klinisch günstige Parameter ändern, sodass es zu einer verminderten Proliferation der Epithelzellen kam. In vitro wurden weiters weniger Nekrosen in Zellkulturen beobachtet. In Zukunft wird man ermitteln, ob sich Probiotika zur Krebsprophylaxe eignen. Geht es um die unterstützende Behandlung während einer Strahlentherapie, zeigen Probiotika günstige Effekte hinsichtlich der strahleninduzierten Diarrhö sowie der Modulation der gastrointestinalen Toxizität von Krebsbehandlungen.
Ein weiteres Gebiet, auf dem unsere Klinik forscht, sind Leberkrankheiten. Patienten mit Leberzirrhose haben eine verminderte Infektabwehr. Die Granulozyten weisen eine verminderte Phagozytosekapazität auf. Probiotika können diese und damit auch die Infektabwehr verbessern.
Interessant ist weiters der Effekt von Probiotika auf die erhöhte Darmpermeabilität (Leaky-Gut-Syndrom), die bei manchen Krankheiten auftritt. Probiotika können hier die Darmbarriere unterstützen, sind aber nicht für alle schweren Erkrankungen mit daraus resultierendem Leaky-Gut-Syndrom wie Pankreatitis geeignet.
Ein weiteres Einsatzgebiet sind Allergien. Die frühe Gabe von Probiotika scheint das Krankheitsbild bei atopischen Kindern, u. a. Ekzeme und Neurodermitis, positiv zu beeinflussen. Eine große Hoffnung war die primäre Asthmaprävention. Jedoch ist die kürzlich abgeschlossene große PANDA-Studie negativ ausgefallen.
Schwierig zu behandeln sind die bakteriellen Vaginosen. Doch auch hier hat sich gezeigt, dass Probiotika eine Verbesserung durch Verdrängung der pathogenen Keime (u. a. Gardnerella vaginalis) bringen können, damit die Laktobazillen, die für ein saures Vaginalmilieu sorgen, wieder die Oberhand bekommen.
Die Darm-Hirn-Achse (brain-gut-axis) zählt wohl zu den spannendsten Forschungsgebieten in der Probiotik. Der Darm beherbergt hundert Millionen untereinander vernetzter Ganglien, die für die autonome Darmtätigkeit zuständig sind. Über den Nervus vagus besteht aber auch eine Verbindung zum Gehirn. Zunächst hat man bei Mäusen festgestellt, dass probiotische Bakterien das Verhalten ändern können (weniger Stress und Ängstlichkeit). Dies wurde vor Kurzem auch in einer Studie am Menschen mit MR-Resonanztomografie bestätigt, in der u. a. auch weniger Verstimmungen und Depressionen auftraten. Es scheint also, als könnte man mit Probiotika auch das Gemüt beeinflussen.“5

 

Literatur:

1 Arvola T et al., Pedriatics 1999

2 u. a.: Bernet-Carnard MF et al., Gut 1994

3 Forestier C et al., Red Microbiol 2001

4 Ritchie ML et al., PLoS ONE 2012; 7(4):e34938. DOI: 10.1371/journal.pone.0034938

5 Tillisch K et al., Gastroenterology 2013; 144:1394–401

Immer wenn die Standardabweichung die Zahl 1 erreicht, zeigen Probiotika keine signifikanten Behandlungseffekte.

Legende: TD (Reisediarrhö), NEC (nekrotisierende Enterokolitis), ID (infektiöse Diarrhö), IBS (Reizdarmsyndrom), HPP (Helicobacter-pylori-Infektion), CDD (Clostridium-difficile-induzierte Diarrhö), AAD (antibiotikainduzierte Diarrhö)
Quelle: Ritchie ML et al., PLoS ONE 2012; 7(4):e34938. DOI: 10.1371/journal.pone.0034938