Herr Prof. Weiss, was war ausschlaggebend dafür, dass Sie Immunologe geworden sind, und was fasziniert Sie an diesem Fach‑gebiet?
Univ.-Prof. Günter Weiss: Bereits während meines Studiums haben mich Infektionskrankheiten sehr interessiert, und im Laufe meiner Ausbildung habe ich dieses Interesse weiter vertieft. Die Immunologie bzw. Infektiologie bringt viele interessante Aspekte und Fragen mit sich, wie zum Beispiel: Wann funktioniert das Immunsystem besonders gut? Warum verursacht derselbe Erreger bei manchen Personen schwere Infektionen und bei anderen nicht? Im Fokus steht die Aktivität und Koordination des Immunsystems und seiner Komponenten besser verstehen und dadurch die Patient:innen bestmöglich behandeln zu können.
Angenommen, es gäbe keine Impfungen − wie würde die Welt heute aussehen?
Wir wären immer noch mit vielen Erkrankungen konfrontiert, die mittlerweile ausgerottet oder stark eingedämmt sind, und hätten jährlich um viele Millionen mehr Infektionstote. Ich denke hier etwa an die Pocken, Polio, Diphtherie, aber auch an Masern und Pertussis. Impfungen haben ganz wesentlich zur Entwicklung und zum Wohlstand unserer heutigen Welt beigetragen; ebenso wie die verbesserte Hygiene und der Zugang zu sauberem Wasser.
Sie sind auch im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin – vor welchen Herausforderungen stehen wir aktuell?
Tatsächlich stehen wir vor einer breiten Palette von Herausforderungen: Beispielsweise sind die Pneumonie und auch die Sepsis die häufigsten zum Tode führenden Infektionskrankheiten bei uns und mitunter schlecht behandelbar. Für die Behandlung von Infektionen bei älteren Menschen gibt es wenig pharmakokinetische und Therapieeffizienzdaten, aber auch die Diagnostik und Therapie von nosokomialen oder opportunistischen Infektionen bei immunsupprimierten Patient:innen gestaltet sich oft schwierig. Resistenzen gegen die vorhandenen Antibiotika nehmen zu, und durch die starke globale Reiseaktivität kommen neue Infektionen sehr rasch zu uns. Zusätzlich sind wir durch die Klimaerwärmung mit einer Zunahme von Zoonosen und vektorübertragenen Infektionen konfrontiert, die wir in unserer geografischen Region zuvor nicht kannten.
Kommt die Forschung da hinterher?
Die immunologische Forschung benötigt sicherlich mehr Initiativen und Forschungsgelder. Neben industriell finanzierten Zulassungsstudien wären auch klinische Untersuchungen nach der Marktzulassung von Medikamenten sowie für spezielle Patientenkollektive wünschenswert. Auch im Bereich des Verständnisses der Mensch-Mikroben-Interaktion gibt es noch viel Luft nach oben – das Ziel ist, beispielsweise neue Stoffwechselwege oder Immunmechanismen zu finden, wo therapeutisch interveniert werden kann.
Die therapeutische Modulation des Immunsystems oder manchmal auch „Immuntherapie“ genannt hat die Behandlungsoptionen in vielen medizinischen Bereichen wie Rheumatologie, Onkologie oder Allergie und Asthma deutlich verbessert. Lässt sich zukünftig mit weiteren Erfolgen dieser Art rechnen?
Ich denke, es wird in diesem Tempo weitergehen. Den Anfang machten damals die TNF-Inhibitoren – dass man das Immunsystem bei komplexen Autoimmunerkrankungen durch die Neutralisierung eines einzelnen Immunbotenstoffes so wesentlich beeinflussen kann, war eine große Überraschung. In der Onkologie wird vor allem daran geforscht, wie das Immunsystem fitter gegen Tumoren gemacht werden kann, indem gewisse Moleküle deaktiviert oder die sogenannten Tarnkappen der Tumorzellen ausgeschaltet werden. Aber auch in der Transplantationsmedizin hat sich durch die medikamentöse Immunmodulation viel getan. Die Operationen funktionieren bereits nahezu perfekt. Jetzt gilt es, Transplantabstoßung und schwere Infektionen zu verhindern und die richtige Balance zwischen Immunsuppression und Infektionsrisiko zu finden.
Man hat das Gefühl, die Österreicher:innen sind seit Beginn der letzten Wintersaison permanent krank. Die Zahl der Infekte ist so hoch wie nie zuvor. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?
Durch das zweijährige Einhalten von Hygienemaßnahmen nicht nur COVID-19-Erkrankungen, sondern auch andere Infektionen eingedämmt wurden, die nun nach Lockerung der Maßnahmen zurückkehren. Einerseits ist das Gedächtnis unseres Immunsystems über diese Monate etwas verblasst, und andererseits haben sich die Erreger ein wenig verändert, was zu einer insgesamt schlechteren Immunerkennung bzw. höheren Infektanfälligkeit führt. Der Blick in die Zukunft der Pandemie ist schwierig. Wahrscheinlich wird es bei den Omikron-Varianten bleiben. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine neue Variante auftritt, die aus dem ursprünglichen noch zirkulierenden Virus entsteht. Im schlechtesten Fall ist diese so infektiös wie Omikron und so pathogen wie Delta. Es gibt jedoch auch positive Dinge, die wir durch die Pandemie gelernt haben, wie zum Beispiel, dass Händehygiene nie schlecht ist, man bei Erkrankung besser zuhause bleibt und man Hygienemaßnahmen bzw. Abstand an die jeweilige Situation anpasst.
Seit Beginn der Pandemie sind die Menschen verstärkt auf der Suche nach Möglichkeiten, um ihre Erregerabwehr zu stärken. Was macht das Immunsystem besonders effektiv?
Eine wichtige Rolle spielt der Ernährungsstatus. Bei einem Body-Mass-Index unter 18 ist das Immunsystem beeinträchtigt, aber auch übergewichtige Patient:innen mit einem BMI über 35 sind gefährdeter für schwerere Infektionsverläufe – wie etwa Lungenentzündungen. Nicht nur die Menge, sondern auch die Ernährungsform ist für die Funktion des Immunsystems relevant. Das menschliche Mikrobiom produziert entsprechend genetischen Faktoren und zugeführter Nahrung Stoffwechselprodukte, die Auswirkungen auf das Immunsystem haben. Man weiß beispielsweise, dass einseitige Ernährung mit kurzkettigen Kohlehydraten zumindest in Tierexperimenten zu einer schlechteren Elimination von Viren und Bakterien führen kann. Auch bei schwerem Eisen-, Zink- oder Vitamin-D-Mangel ist die Effizienz des Immunsystems eingeschränkt. Substitution bringt allerdings nur im Fall eines Mangels einen Benefit und kann über die Normalwerte hinaus sogar schädlich sein. Kürzlich wurde eine Studie publiziert, bei der jene Intensivpatient:innen, welche eine Vitamin-C-Substitution erhielten, eine höhere Mortalität zeigten als jene ohne Substitution.
Wie sieht es mit Sport aus? Wie groß ist hier der Benefit?
Regelmäßige körperliche Betätigung führt durch die Aktivierung verschiedener Komponenten zu einer verbesserten Effizienz des Immunsystems. Studien zeigen, dass 3-mal 45 Minuten Bewegung pro Woche im Alltag – das kann auch ein Spaziergang oder der Verzicht auf den Aufzug sein – beispielsweise zu einer 50 Prozent geringeren Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf einer Influenza führen.
Und wie stärken Sie Ihr eigenes Immunsystem?
Ich habe es mir zur Routine gemacht, morgens immer zu Fuß in die Klinik zu gehen – das sind 35 Minuten. Sonst achte ich darauf, Obst zu essen und meine Freizeit in der Natur zu verbringen, um etwas abzuschalten, denn auch das ist für ein gutes Immunsystem förderlich.
Vielen Dank für das Gespräch!