Polymedikation bei multimorbiden Senioren

Multimorbidität, veränderte Pharmakokinetik aufgrund altersabhängiger biologischer Veränderungen, Arzneimittelinteraktionen infolge von Polypragmasie und das Auftreten von Nebenwirkungen sind natürlich besondere Herausforderungen für eine optimale Therapie. Behandelt man die zahlreichen Komorbiditäten nach den heute gültigen Standards der Fachgesellschaften, so resultieren Behandlungsprotokolle mit bis zu 25 verschiedenen Medikamenten und bis zu 30 Tabletten pro Tag. Dass dies natürlich Nonsens ist und bestimmt nicht der Compliance zwischen Arzt und Patienten dient, versteht sich von selbst. Trotzdem ist es keine Seltenheit, dass der alte multimorbide Patient 10 bis 15 verschiedene Medikamente verschrieben bekommt (Routledge et al., 2004). Nebenwirkungen dieser Kombinationen müssen selbst wieder therapiert werden, und durch das gleichzeitige Aufsuchen mehrerer verschiedener Ärzte kommen außerdem auch Doppelverschreibungen vor.

Theorie und Praxis

Die Masse an verschiedenen Medikamenten wäre nach gestellter Diagnose den vorhandenen Guidelines entsprechend sogar gerechtfertigt. Das Interaktionspotenzial der Arzneistoffe ist dabei aber vollkommen unkontrolliert. Bei der Zulassung eines Arzneistoffes werden mögliche Wechselwirkungen ja an gesunden Probanden getestet. In diesen Studien kommen maximal 3 verschiedene Arzneistoffe zum Einsatz. Was aber passiert, wenn 10–15 unterschiedliche Wirkstoffe, womöglich noch gleichzeitig mit nur einem Schluck Wasser eingenommen werden, kann niemand genau vorhersehen. Es stellt sich auch die Frage, ob Interaktionsstudien im Rahmen des Zulassungsprozederes überhaupt auf multimorbiden Patienten mit eingeschränkten Organfunktionen übertragbar sind?

Alter, multimorbider Patient für Forschung uninteressant
Ebenfalls sehr erstaunlich ist, dass es praktisch keine einschlägige Literatur über Multimorbidität alter Menschen gibt. Obwohl der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung immer größer wird und die Pharmaindustrie natürlich davon lebt, gibt es für diese Patientengruppe keine evidenzbasierte Medizin. Großangelegte Multicenterstudien werden üblicherweise ebenfalls nur an Patienten unter 75 Jahren und natürlich keinesfalls an multimorbiden Patienten durchgeführt, denn diese fallen ja von vornherein den Ausschlusskriterien zum Opfer. Die Folge: eine verhängnisvolle Polypragmasie führt bei älteren Menschen häufig zu Nebenwirkungen, die fälschlicherweise als krankheitsbezogen interpretiert und mit weiteren Medikamenten behandelt werden – die Verschreibungskaskade steht in voller Blüte.

Compliance sinkt

Dass diese Polymedikation problematisch ist, versteht sich von selbst. Logischerweise sinkt auch die Bereitschaft des Patienten, alle Medikamente täglich einzunehmen, insbesondere dann, wenn es sich um Dauermedikationen handelt, deren Effekt der Patient selbst ja kaum mehr merkt. Interessanterweise werden hingegen Schmerztabletten auch dann noch gerne weiter eingenommen, wenn der Patient eigentlich gar nicht mehr unter Schmerzen leidet. Die hohe Verwechslungsgefahr bei der Polymedikation muss man außerdem berücksichtigen: Nicht selten weiß der Kunde gar nicht mehr, wofür er welche Tabletten einnimmt. Bei mehr als 5 Pharmaka steigt das Risiko für klinisch relevante Wechselwirkungen aber bereits um das bis zu 10-Fache an.

Folgen der Polymedikation

Dass die Multiverschreibungen dramatische Auswirkungen haben können, zeigt beispielsweise eine Erhebung der niederösterreichischen Gebietskrankenkassa, die ergab, dass 5 % der Krankenhauseinweisungen auf unerwünschten Arzneimittelwirkungen zurückzuführen sind. In geriatrischen Abteilungen sind sie sogar mit Abstand die häufigsten Ursachen der Einweisung (Runciman et al., 2003).

OTC berücksichtigen

Nahezu die Hälfte der Patienten über 65 Jahre verwendet zusätzlich zur ärztlich verschriebenen Medikation auch Nahrungsergänzungen, die aber ebenfalls ein mögliches Interaktionspotenzial aufweisen können. Gerade aus diesem Grund ist es auch so wichtig, dass Nahrungsergänzungen in Apotheken gekauft werden, denn nur das Fachpersonal kann beispielsweise über ein mögliches erhöhtes Blutungsrisiko bei gleichzeitiger Einnahme von Ginkgo und NSAR, ASS oder SSRI informieren. Auch weiß kaum ein Kunde, dass Magnesium, Zink und Kalzium natürlich die Resorption gleichzeitig verabreichter Antibiotika blockieren können.

Problemfall Generika

So kostengünstig Generika auch sind, so stellen sie doch für alte Patienten oft ein Problem dar. Jeder Wechsel von einem Originalpräparat auf ein Generikum bzw. auf ein anderes Generikum ist beim alten Patienten wie eine Neueinstellung und erfordert ärztliche Aufklärung. Nimmt sich der Arzt hier zu wenig Zeit, wird der Patient verunsichert, und die Compliance sowie der Therapieerfolges lassen deutlich nach. Dies hat vor allem eine besondere Tragweite bei der Verschreibung von Psychopharmaka und Opiaten, bei denen die psychische Komponente zum Therapieerfolg wesentlich beitragen kann.

Unterschiedliche Interaktionen

Prinzipiell unterscheidet man zwischen pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Wechselwirkungen, wobei bei Multimedikation natürlich beide Arten vorkommen und daher nur schwer zu differenzieren sind. Pharmakodynamische Interaktionen entstehen, wenn zwei Wirkstoffe an einem Rezeptor, synergistisch oder antagonistisch wirken. Pharmakokinetische Interaktionen sind hingegen von vielen Faktoren, wie Resorption, Metabolismus, Organfunktionen, Alter, Geschlecht, genetischen Faktoren sowie Nahrungsaufnahme abhängig. Der Metabolismus in der Leber über das Cytochrom-P450-System spielt dabei sicher eine der wichtigsten Rollen. Bei Multimedikation sollten daher vor allem Arzneistoffen, die weder Hemmer noch Induktoren dieses Enzymsystems sind, angewendet werden. Besonders problematisch wäre beispielsweise Amiodaron als einer der stärksten Inhibitoren des CYP-450-Systems, das daher die Plasmakonzentration von vielen Substanzen, wie ß-Blocker, Acetylcholinesterasehemmer sowie einiger Statinen klinisch relevant erhöht.

Die logische Konsequenz

Dass die bestehende medikamentöse Therapie beim alten, multimorbiden Patienten regelmäßig auf Ansprechen und Verträglichkeit hin überprüft werden muss, versteht sich von selbst. Die e-Medikation bietet dazu genauso wie auch ein Pilotprojekt in einem deutschen Krankenhaus, bei dem jeder stationäre Patient zusätzlich eine pharmazeutische Aufnahme durchlaufen muss, eine gute Möglichkeit. Mithilfe eines validierten Fragebogens überprüfen dort Krankenhausapotheker die bestehende Medikation der Neuaufnahmen. Interventionsbedarf gibt es laut eigenen Angaben in etwa 12 bis 15 Prozent aller Fälle. Häufig handelt es sich um Interaktionen, falsche Dosierungen sowie Mehrfachverordnungen (St. Martin Krankenhaus, Münster, Deutschland).

Vorbild Großbritannien

Während die Engländer bereits in den 1990er-Jahre computergenerierte Wiederholungsverschreibungen in der Polymedikation erkannt haben, diskutieren wir immer noch darüber, ob dieses Problem überhaupt tatsächlich vorliegt. In England wurde als Konsequenz bereits 2001 eine jährliche Medikationsübersicht für alle Patienten über 75 Jahren verpflichtend eingeführt; bei vier oder mehr Arzneimitteln pro Patient sogar ein halbjähriger Bericht. Neben Ärzten sind dabei selbstverständlich auch Apotheker einbezogen. Ein nützliches System, dass auch die Rolle des Apothekers stärken kann.