Quo vaditis, Botanicals?

Im Rahmen einer Fortbildung der IGEPHA schilderte Dr. Stefan Sandner von der Dienstleistungs- und Beratungsgesellschaft Diapharm: „Botanicals, also Pflanzenstoffe und sonstige pflanzliche Zubereitungen, sind heute Borderline-Produkte.“ Sie befinden sich im Spannungsfeld zwischen Arzneimittel- und Lebensmittelbereich. In den vergangenen 20 Jahren gab es einen eindeutigen Trend weg von Arzneimitteln hin zu Nicht-AM, wie Medizinprodukte (MP), Nahrungsergänzungsmittel (NEM) und diätetische Lebensmittel. „Den größten Zuwachsmarkt stellen derzeit neben dem NEM die MP“, konkretisierte Sandner (siehe Grafik).

 

 

Der Status quo

Bisher hat die EFSA 535 Anträge für Pflanzenstoffe in Lebensmitteln und NEM bearbeitet. Außer für Walnüsse (Erweiterung der Blutgefäße) und Dörrpflaumen (unterstützen die normale Darmfunktion) wurden alle Health Claims von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) negativ bewertet. „Auch Claims zu relativ gut dokumentierten Stoffen, wie Traubenkernextrakt, Isoflavone aus Sojabohnen, Artischocke, grüner Tee oder Cranberry wurden abgelehnt“, erklärte Ebba Loeck, Queisser Pharma. Die häufigsten Ablehnungsgründe waren:

  • keine Humanstudien oder Studien erfüllen nicht den „Goldstandard“
  • Studien wurden mit anderen Pflanzenzubereitungen (z. B. unterschiedliche DEV) oder Dosierungen durchgeführt als beantragt
  • Studien mit Kranken werden für Lebensmittel nicht ­akzeptiert
  • Pflanzenzubereitungen waren nicht ausreichend charakterisiert

Weitere 1.500 Anträge zu Botanicals muss die EFSA noch bewerten, aber ist nach den bisherigen Ergebnissen ein Strategiewechsel erforderlich?

„Die Besonderheit und daher ein Problem der Botanicals ist, dass es sich nicht um Einzelsubstanzen handelt, stattdessen hat die Gesamtheit der aktiven Stoffe eine Bedeutung für die Wirkung“, so Loeck. Außerdem …

  • schwankt die innere Zusammensetzung des Pflanzenmaterials (je nach Wetter, Klima, Wuchsbedingungen etc.)
  • ist nur bei wenigen Pflanzen der wirksamkeitsbestimmende Inhaltstoff bekannt, sodass eine Standardisierung des Extraktes auf eine bestimmte Substanz oft nicht möglich ist
  • wird eine Vielzahl verschiedener Verarbeitungsmethoden angewandt
  • und folglich gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Pflanzenzubereitungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass für die Zulassung eines Claims für ein Lebensmittel der wissenschaftliche „Goldstandard“ gefordert wird. Dies steht ganz im Gegensatz zu traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln (THMP), denn für diese gilt ein erleichtertes Verfahren: „Klinische Studien mit hohem Evidenzlevel werden durch die Plausibilität der Wirksamkeit ersetzt. Das Registrierungsverfahren basiert auf dem Grundgedanken, dass die Wirksamkeit eines traditionellen pflanzlichen Arzneimittels aufgrund seiner langjährigen medizinischen Verwendung plausibel ist. Entsprechend genügt der Nachweis der traditionellen Anwendung des Produktes/der bestimmten Pflanzenzubereitung über 30 Jahre in dem konkreten Anwendungsbereich, und es werden auch Studien sowie Anwendungsbeobachtungen mit anderen Pflanzenzubereitungen zum Beleg der Wirksamkeit anerkannt“, so Loeck, und ergänzt: „Das irritiert!“

Harmonisierung: eine ‚Mission impossible‘?

Nach dem ersten Raunen in den EU-Mitgliedstaaten ob der über 99 % abgelehnten Botanical-Health-Claims wurde an Auswegen aus der Misere gearbeitet. Sieben Mitgliedstaaten bevorzugen Option 1: „Alles bleibt wie es ist“ – der höchste wissenschaftliche Standard gilt für alle Lebensmittel.

Fünf sprechen sich für Option 2 aus: „Revision der Rechtsgrundlagen“ – die Würdigung der traditionellen Verwendung und damit eine Änderung der Health-Claims-Verordnung. Ein Mitgliedstaat schlägt sogar vor, das Wissen des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) für NEM anzuzapfen und eventuell die Dosierung nach unten anzupassen. Bei Option 2 ist jüngst auch Bewegung hineingekommen, denn einige Staaten signalisieren, der Option beizustimmen, wenn die Harmonisierung auch andere ­Aspekte als die Claims betrifft, wie Fragen zur Qualität und Sicherheit. Ein Extrapolieren der THMP-Daten auf Lebensmittel ist aber umstritten. „Aber die Tatsache, dass Indikationen für THMP mitunter der Formulierung von physiologischen Effekten nahekommen – bspw. Artischockenblätter, Curcumawurzelstock oder Hopfenzapfen –, darf nicht zu Lasten der Lebensmittel ausgelegt werden“, meinte Loeck.

Angesichts des schwierigen Unterfangens, einen Konsens zu finden, wird nun diskutiert, ob man die Bewertung der Botanicals einfach ruhen lässt: Option 0. Dies bedeutet einen Freiraum für nationale Regelungen. Keine EU-weite Harmonisierung bezüglich gesundheitsbezogener Aussagen, Qualität und Sicherheit bedeutet gleichzeitig aber auch kein freier Warenverkehr, machte Loeck aufmerksam. „Das wäre für nachhaltig agierende Firmen mit gewachsenen Marken eine unbefriedigende Situation“, stellte Sandner klar.

Konsens gesucht

Der österreichische Gesetzgeber hat in einem Erlass jene Pflanzen und Pflanzenteile gelistet, die nicht in NEM verwendet werden sollten – er umfasst 61 Einträge. Deutschland hat einen Entwurf einer Stoffliste mit Grad-A- bis -C-Empfehlungen veröffentlicht (A: nicht empfohlen; B: beschränkte Verwendung; C: keine Bewertung mangels ausreichender Daten). Frankreich wiederum führt eine Positivliste mit zulässigen Pflanzen und deren Teilen die per Verordnung im Frühjahr 2014 in Kraft treten soll. In Dänemark muss der Lebensmittelunternehmer die Sicherheit des konkreten Produktes mit Pflanzenstoffen in einem Dossier belegen.

Es gibt aber auch internationale Kooperationen: In Planung ist eine gemeinsame Positivliste der Länder Frankreich, Belgien und Italien (BELFRIT), wobei hier die traditionelle Verwendung (physiologische Effekte) und wissenschaftliche Daten herangezogen werden sollen.
„Jedenfalls nicht zulässig sind NEM mit Pflanzen, die keine Tradition im Lebensmittelbereich in Europa haben bzw. Health Claims, die krankheitsrelevante Bereiche betreffen“, stellte Loeck klar.

Lösungsvorschläge

Eine Lösung sieht Sandner in der Trendumkehr hin zum THMP. „Die Industrie verfügt über mehr als 1.000 Botanicals, die bislang in der EU als THMP registriert wurden – bei über 2.000 Anträgen. Österreich hatte daran, nach Großbritannien und Polen, den größten Anteil“, so der Experte. Was Loeck als Nachteil für die Lebensmittel bzw. NEM sieht, hält Sandner als Option für die Botanicals: „Die vereinfachte THMP-Zulassung ist eine echte Chance, Pflanzen wieder in den AM-Bereich zurück- und aus der Borderline-Situation herauszuführen“, appellierte Sander, „denn wollen wir uns wirklich dem Wettbewerb mit der sehr stark konsumentenorientierten Lebensmittelindustrie und den Rohstoffzulieferern stellen, ohne unsere Standortvorteile zu nutzen, nämlich kleine abgeteilte Darreichungen in AM-Qualität herstellen zu können?“, fragte Sandner.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Damit ein THMP-Produkt in ganz Europa vermarktet werden kann, muss lediglich die Tradition nachgewiesen und ein Wissenschaftsbericht vorgelegt werden. Es sind auch Wirkstoffkombinationen mit Mikronährstoffen möglich. Wählt man dann noch eine moderne und innovative Darreichungsform, hätte man ein attraktives Produkt mit hoher Rechtssicherheit sowie mit klassischer OTC-Indikation (statt Claim!) oder OTX-Indikation mit entsprechendem Disclaimer. Für Apotheker interessant ist natürlich die Apothekenexklusivität vieler dieser Produkte.

Auch für Nicht-Botanicals mit Borderline-Status hätte Sandner eine Lösung. „Sie könnten, wie alle anderen traditionell verwendeten Produkte, theoretisch als TMP, also THMP ohne „H“ wie Herbal, zugelassen werden.“

Fazit

Ziel der EFSA ist es, mit der Health-Claims-Verordnung in erster Linie den Verbraucher zu schützen. „Dieser ist im Allgemeinen aber NICHT in der Lage, zwischen einem NEM, MP oder einem THMP zu unterscheiden“, so Sandner. Hier ist es u. a. Aufgabe des Apothekers, über die Qualitäten und Limitationen des jeweiligen Produkts aufzuklären.

Quelle: IGEPHA-Fortbildung „Update Botanicals“; 25. 06. 2013, Wien