„Regionale Angebote rücken Prävention in den Vordergrund“

Apotheker Krone: Im Kinzigtal und in den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn arbeiten unter Ihrer Leitung unterschiedliche Gesundheitsakteure und -dienstleister in Netzwerken zusammen. Gemeinsam mit allen Akteuren sorgen Sie dafür, den allgemeinen Gesundheitszustand der Menschen vor Ort zu verbessern. Davon profitieren alle Beteiligten – auch finanziell. Was macht „Gesundes Kinzigtal“ und „Gesundheit für Billstedt/Horn“ aus?

Helmut Hildebrandt: In „Gesundes Kinzigtal“ haben wir ein patientenorientiertes und sektorenübergreifendes Netzwerk aus Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Apothekern, Sportvereinen, sozialen Einrichtungen und weiteren Partnern aufgebaut. Die Grundlage ist ein Vertrag zur integrierten Versorgung mit Krankenkassen. Die wissenschaftliche Evaluation belegt: Durch zielgruppenspezifische Präventionsprogramme, Patientenaktivierung und das Management intersektoraler Schnittstellen ist es uns gelungen, den Gesundheitszustand der Menschen und ihre Zufriedenheit mit der Versorgung zu verbessern und gleichzeitig unnötige Kosten einzusparen. Die Kassen sparen etwa 5 Prozent. Mit dem Aufbau eines Netzwerks in Hamburg nach dem gleichen Modell haben wir im Januar 2017 begonnen. Hier widmet sich die „Gesundheit für Bill­stedt/Horn“ den Menschen in den Stadtteilen Billstedt und Horn, die aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und so viel schlechtere Gesundheitschancen haben. Wir wollen zeigen, dass unser Modell auch in einer solchen Region die gesundheitliche Versorgung positiv beeinflussen kann.

Wie unterscheiden sich diese Projekte im Vergleich zum „normalen“ deutschen Gesundheitssystem?

Wir betrachten Gesundheit als einen Prozess, der mehr als Heilen oder Therapieren umfasst. Wir reagieren nicht nur auf vorhandene Erkrankungen, sondern tragen dazu bei, dass Gesundheit entsteht. Wir beziehen den Versicherten und sein Umfeld mit ein. Gesundheitsförderung, Prävention und die Aktivierung von Patienten gehören wie das gezielte Management chronisch kranker Patienten zu unseren Schwerpunkten.

Wie ist dabei die Vergütung geregelt?

Wir kehren die Anreize um und orientieren die Honorierung am erzielten Gesundheitsnutzen. Die Krankenkassen vergüten den Nutzen und nicht die Leistungsmenge, und das nur dann, wenn eine Verbesserung des Deckungsbeitrags erwirkt wurde. So entsteht der Anreiz, die Bevölkerung so gesund wie möglich zu erhalten. Ärzte werden weiterhin wie bisher vergütet, für bestimmte Leistungen erhalten sie von uns zusätzliche Honorare und profitieren langfristig vom wirtschaftlichen Erfolg des Systems.

Das klingt optimal für alle Beteiligten. Gibt es auch Nachteile des Konzeptes?

Die Einspareffekte treten erst nach einem gewissen Zeitraum ein, während die Kosten heute schon anstehen. Dieses Anfangsinvestment ist für die Krankenkassen meist ein Hinderungsgrund, das Modell zu fördern. Gleichzeitig „beißt“ sich unsere Arbeit mit der gegenwärtigen Vergütungsstruktur, die das Paradox generiert, dass Arzt und Krankenhaus desto mehr von den Patienten profitieren, je weniger Zuwendungszeit sie aufbringen. Die Umkehrung dessen gelingt uns noch nicht im Ganzen. Allerdings: Für das Startinvestment haben wir jetzt soziale Kapitalgeber als Risikoinvestoren gefunden.

Wo sehen Sie generell Reformbedarf in den aktuellen Gesundheitssystemen?

Die Gesundheitsversorgung wird teilweise den heutigen, aber erst recht den zukünftigen Anforderungen nicht gerecht. Die Behandlung akut erkrankter Menschen steht im Vordergrund, während Gesundheitsförderung und Prävention keine große Rolle spielen. Gleichzeitig erleben Patienten, Angehörige und Akteure die Versorgung als bruchstückhaft, strukturierte Kommunikationslösungen sind kaum vorhanden. Nur in wenigen Leuchtturmprojekten sind Integration und Kooperation schon heute Realität, obwohl wohl niemand daran zweifelt, dass eine funktionierende sektorenübergreifende und populationsorientierte Versorgung der Schlüssel zu höherer Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen ist. Hinter all unseren Interventionen steht die Idee, die Anreize im Gesundheitswesen umzukehren – hin zu einem System, in dem die Gesunderhaltung der Menschen belohnt wird. Dementsprechend investieren wir viel in Prävention, Gesundheitsförderung, Aktivierung der Patienten und gezieltes Versorgungsmanagement, insbesondere bei chronisch Kranken.

Welche Vorteile hat das Modell für Ärzte, Apotheken, Patienten und Krankenkassen?

Unsere ärztlichen Partner in den regionalen Managementgesellschaften „Gesundes Kinzigtal“ und „Gesundheit für Billstedt/Horn“ können sich aufgrund der ­Anreizumkehr auf die Gesunderhaltung ihrer Patienten ­konzentrieren; und sie haben dank zusätzlicher Beratungsangebote für Patienten wieder mehr Raum für ihre eigentliche Arbeit mit den Patienten. Gleichzeitig profitieren sie von der koordinierten Versorgung – so ist es zum Beispiel eine große Erleichterung, wenn sie über eine zentrale elektronische Patientenakte einsehen können, was ihre Kollegen bereits veranlasst haben. Die Patienten nehmen die Angebote sehr gut an. Im Kinzigtal haben wir dazu ja schon eine jahrelange Erfahrung und konnten anhand von wissenschaftlichen Befragungen zeigen, dass Patienten seit ihrer Einschreibung in die integrierte Versorgung gesünder leben, mehr über ihre Gesundheit wissen und zufriedener mit ihrer Versorgung sind.

Warum funktioniert Ihr Modell nur regional?

Gesundheitssysteme lassen sich nicht zentralistisch organisieren, dazu sind die Lebensbedingungen in den Regionen zu unterschiedlich. Und man braucht eine Organisationsform, die den Versorgungsprozess auf regionaler Ebene über alle Sektoren hinweg in die Hand nimmt und gleichzeitig die Partner und Institutionen zusammenbringt. So etwas kann nur regional funktionieren. In den Regionen, in denen wir aktiv sind, haben wir regionale Managementgesellschaften gegründet, die diese Aufgabe übernehmen.