Selbstbehaltsdebatte: Geld oder Leben

„Wer die Hilfe der Gemeinschaft braucht, soll sie auch bekommen“, schreibt die Volkspartei in ihrem neuen Parteiprogramm. Ein solches soll für gewöhnlich neue Wählerschichten mobilisieren. Diesen schreibt die Volkspartei ins Stammbuch: „Der Einzelne trägt als Erster die Verantwortung für sein Leben – soweit seine Möglichkeiten reichen und Eigenleistung zumutbar ist“, um dann später im aktuell im Gesundheitswesen wohl heftigst diskutierten Satz zu gipfeln: „Wer sich für die eigene Gesundheit aktiv engagiert, soll belohnt werden. Dies fördert unter anderem die Einführung von Selbstbehalten bei gleichzeitiger Reduktion der Sozialversicherungsbeiträge.“

Details lässt die Volkspartei offen und entzündet damit eine auch ideologiebehaftete Debatte. Kaum ein Thema polarisiert im Gesundheitswesen mehr als Selbstbehalte. Mit dem Satz: „Beim Ambulanz- oder Arztbesuch solle die Möglichkeit eines Selbstbehaltes bis maximal 20 Prozent eingeführt werden“, sorgte bereits der damalige von der FPÖ gestellte Gesundheitsstaatssekretär Univ.-Prof. Dr. Reinhart Waneck im Frühjahr 2000 für wochenlange Diskussionen. Die Position der FPÖ heute: Für FPÖ-Generalsekretär NAbg. Herbert Kickl sind „Selbstbehalte in der Sozialversicherung modernes Raubrittertum“, denen er eine klare Absage erteilt. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos ortet „Stillstand und Klientelpolitik für Privilegierte“.

Gesundheitsexperten fordern jedenfalls verstärkt ein, dass die Menschen Eigenverantwortung tragen und verstärkt auf die eigene Gesundheit achten. Übergewicht, Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nehmen massiv zu. Wir hören, dass wir weniger essen und uns mehr bewegen sollen. Eine einfache Formel: Wer auf seine Gesundheit achtet, tut sich selbst Gutes und entlastet das Gesundheitswesen und damit die Solidargemeinschaft. „Wir wissen heute, dass vier von fünf Krankheiten auf Zivilisationskrankheiten basieren, die durch die Reparaturmedizin nur begrenzt heilbar sind. Viele chronische Krankheitsbilder sind Folgen von Übergewicht, Bewegungsmangel oder gesundheitsschädlichen Konsummustern. Was wir hier dringend brauchen, ist ein Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch Verantwortung für die eigene Gesundheit tragen kann und sogar übernehmen muss“, sagt Peter McDonald, Verbandsvorsitzender im Hauptverband der Sozialversicherungsträger. Er hat als SVA-Vizeobmann vor einigen Jahren ein Bonussystem eingeführt, das für die ÖVP beispielgebend ist: Innerhalb kurzer Zeit hätten über 50.000 Selbständige beim freiwilligen Vorsorgeprogramm „Selbständig Gesund“ – unabhängig, ob gesund oder krank – individuelle Ziele vereinbart, diese auch erreicht und damit mehr Lebensqualität und einen finanziellen Bonus erhalten. „Was wir brauchen, sind Belohnungen und Anreize; positive Angebote statt erhobene Zeigefinger.“

Schon jetzt 24 % Selbstbehalte

Gesundheitsökonomen hingegen sehen Selbstbehalte weniger als Steuerungsinstrument denn als Finanzierungsinstrument. „Was Selbstbehalte mit Eigenverantwortung zu tun haben, muss man einmal einem Krebskranken erklären“, sagt ein Spitzenfunktionär der Krankenkassen, der nicht genannt werden möchte. Alle Beispiele in anderen Ländern hätten gezeigt, dass der Verwaltungsaufwand enorm und die Ergebnisse minimal gewesen seien. Die meisten Länder seien deshalb davon abgerückt. Dazu kommt, dass es auch im heimischen Gesundheitswesen bereits eine Vielzahl an Selbstbehalten gibt.

Tatsächlich liegt der Privatanteil an der Finanzierung im gesamten heimischen Gesundheitswesen bereits bei knapp 24 Prozent. Von den 32,6 Milliarden Euro, die in Österreich jährlich für die Gesundheitsversorgung ausgegeben werden, kommen 7,7 Milliarden aus den privaten Taschen. Über Zahlungen an private Zusatzversicherungen, über klassische Selbstbehalte oder durch Kostenbeteiligungen, weil nicht alle Leistungen von der Krankenversicherung bezahlt werden, wie etwa die Rezeptgebühr bei Arzneimitteln.

„Rechnet man die Rezeptgebühren plus Arzneimittel unter der Rezeptgebühr auf Kassenrezept zusammen, kommt man insgesamt auf ziemlich genau 20 Prozent Selbstbehalt bei Arzneimitteln im Krankenkassenbereich“, sagt Apothekerkammer-Präsident Mag. Pharm. Max Wellan. „Insgesamt ist das System der Einhebung der Rezeptgebühren durch die Apotheken und die Weiterleitung an die Krankenkassen über die Pharmazeutische Gehaltskasse extrem effizient und gut eingespielt.“ Wenn man alle Privatverkäufe auf Rezept, die unter der Rezeptgebühr liegen, in den Kassenbereich überführt, würde der Verwaltungsaufwand für die Kassen und die Apotheken enorm steigen. Verschiebungen zwischen Privatverkäufen und Kassenbereich können außerdem einen betriebswirtschaftlichen Effekt auf die Apotheken haben.

Wie ein System aussehen soll, scheint aber auch innerhalb der ÖVP nicht eindeutig geklärt zu sein. So rudert auch McDonald teilweise zurück: „Ich bin schon sehr lange in der österreichischen Gesundheitspolitik engagiert und überzeugt, dass viele Punkte des Programms in die richtige Richtung gehen. Ich weiß aber auch, dass Gesundheits- und Sozialpolitik wie kaum ein anderer Politikbereich leider ideologisch umkämpft sind und Parteilinien sehr oft den gesunden Menschenverstand fesseln.“ Sein Fazit: Man solle die ideologischen Schützengräben verlassen und gemeinsam daran arbeiten, die Systeme so weiterzuentwickeln, „dass wir unterstützt werden, länger zu leben – bei guter Gesundheit“.