Allgemeinmedizin – mehr als die Summe ihrer Teile

ARZT & PRAXIS: Welche Aktivitäten setzt die ÖGAM, deren Präsident Sie sind, im Bereich der Fortbildung?

Dr. Christoph Dachs: Unsere Fachgesellschaft richtet in allen Bundesländern immer wieder Fortbildungsveranstaltungen aus, die natürlich auf regionaler Ebene organisiert werden. Mittlerweile haben wir in fast jedem Bundesland einen Hausärztekongress, den die jeweiligen Landesgesellschaften planen und umsetzen. Am Arlberg haben wir jedes Jahr im Jänner die große Wintertagung, eine sehr allgemeinmedizinisch orientierte Fortbildung, deren Qualität sich über die Jahre hinweg stetig verbessert hat. Zusammen mit der Ärztekammer veranstaltet die ÖGAM den „Tag der Allgemeinmedizin“. Derzeit überlegen wir außerdem, diesen Herbst einen weiteren Kongress in Niederösterreich zu etablieren, um vor allem die Allgemeinmediziner noch mehr an die ÖGAM heranzuführen.

Hervorzuheben ist auch der „Jour fixe Allgemeinmedizin“, eine regelmäßig (meist einmal im Monat) in Salzburg stattfindende Fortbildungsreihe. Der „Jour fixe Allgemeinmedizin“ ist eine Kooperation zwischen dem Institut für Allgemein-, Familien und Präventiv­medizin der Universität Salzburg, der SAGAM (Salzburger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin) und der JAMÖ (Junge Allgemeinmedizin Österreich), die sich speziell an Allgemeinmediziner, Studenten und Turnus­ärzte richtet. Das Konzept hinter der mittlerweile sehr gut besuchten Veranstaltung: Verschiedenste Themen ­werden für Allgemeinmediziner relevant auf­bereitet und im Dialog zwischen einem Fachexperten und einem praktizierenden Allgemeinarzt behandelt und diskutiert. Dieses Format ist genau das, was ich mir unter einer guten modernen Fortbildung vorstelle.

Von der Fort- zur Ausbildung: Hier ist der ÖGAM die Lehrpraxis ein besonderes Anliegen. Warum?

Beim Thema Lehrpraxis ist derzeit natürlich einiges im Umbruch. Die Lehrpraxis ist für die Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin das wichtigste Instrument, weil die Ausbildung dort stattfindet, wo man später auch arbeiten wird. Bislang war es – im schlechtesten Fall – möglich, dass jemand Allgemeinmediziner werden konnte, ohne in der Ausbildung jemals in einer allgemeinmedizinischen Praxis gewesen zu sein. Ich halte die Verpflichtung (nach der neuen Ausbildungsverordnung), eine Lehrpraxis zu absolvieren und damit Allgemeinmedizin dort zu lernen, für ein enormes qualitätssicherndes ­Element. Ein Internist lernt seine Innere Medizin ja auch auf einer Internen Abteilung und nicht auf einer HNO oder auf der Neurologie. Als Vertreter der Allgemein­medizin sagen wir das mit einem sehr hohen Selbstbewusstsein: Die Allgemein­medizin ist ein eigenständiges Fach mit seinen Eigen- und Besonderheiten und nicht einfach die Summe aller Fächer! Und das kann man nur in einer Lehrpraxis wirklich gut lernen.

Heute gibt es an den meisten Universitäten eine verpflichtete Lehrpraxis im KPJ (klinisch-praktisches Jahr) von bis zu vier Wochen. Im Rahmen des bestehenden Turnus ist die Lehrpraxis allerdings noch nicht verpflichtend. Durch die derzeit eher weiche Definition ist es möglich, den allgemeinmedizinischen Teil der Ausbildung im bestehenden Turnus auch in einer Ambulanz (z. B. Gefäßchirurgie, Neurologie oder Psychiatrie) zu absolvieren. Das ist aus unserer Sicht nicht das, was wir als allgemeinmedizinische Ausbildung sehen.

Wer kann eine solche Lehrpraxis leiten?

Bis dato gab es keine verpflichtende Ausbildung dafür. Jeder, der zumindest drei Jahre in der Praxis gearbeitet hat, konnte sich bei der Ärztekammer anmelden und als Lehrpraxisleiter tätig sein. Das geht jetzt nach der neuen Ausbildungsverordnung nicht mehr. Die ÖGAM ist gerade gemeinsam mit der Ärztekammer dabei, ein Curriculum zur Ausbildung von Lehrpraxisleitern aufzusetzen, und dieses ist schon sehr weit gediehen. Es wird in Zukunft also eine verpflichtende Ausbildung für Lehrpraxisleiter geben.

Abgesehen davon gibt es auch jetzt schon Kurse und Fortbildungen zum Thema Lehrpraxis, vor allem im universitären Bereich. Einer, dem diese Ausbildung ein wichtiges Anliegen ist, ist Dr. Herbert Bachler (Tirol), der eine sehr komplexe Ausbildung für Lehrpraxisleiter anbietet, die auch sehr gut angenommen wird. Auch in anderen Bundes­ländern (z. B. Salzburg, Steiermark und Wien) gibt es von den Universitäten aus eigene Kurse, die man besuchen sollte, um einen offiziellen Auftrag zu haben, Studenten auszubilden. Das bezieht sich aber auf die studentische universitäre Lehrpraxis – diese unterscheidet sich von der Lehrpraxis im Rahmen der Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin.

Die Allgemeinmedizin ist zunehmend auch in Österreich universitär verankert. Welche Rolle können diese Institute in der Aus- und Fortbildung spielen?

Die Allgemeinmedizin ist bereits an drei Standorten in Österreich universitär vertreten: Wien, Salzburg und Graz. In Innsbruck hoffen wir, dass es bald zu einer Gründung eines entsprechenden Instituts kommt, und auch in Linz wird es – mit der neuen Uni – ein Institut für Allgemeinmedizin geben.

Ich meine, dass die universitäre Ver­ankerung der Allgemeinmedizin sehr wichtig ist. Internationale Beispiele zeigen, dass es in Ländern, in denen die Allgemeinmedizin sehr stark universitär verankert ist – z. B. Holland oder Dänemark – eine starke Allgemeinmedizin gibt, die auch einen sehr guten fachlichen Rückhalt bei bestimmten wissenschaftlichen Fragestellungen hat. Das spielt natürlich auch für die Aus- und Weiterbildung eine enorm wichtige Rolle. Das universitäre Wissen, gepaart mit der Erfahrung, die wir aus der ­Praxis mitbringen, wäre eine ideale Basis für eine ordentliche Fortbildung. Das ­passiert bereits in Ansätzen in Salzburg beim bereits erwähnten „Jour fixe Allgemeinmedizin“ und sollte natürlich noch weiter ausgebaut werden. Hier gibt es noch viele Valenzen, die man besetzen könnte.

Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Fortbildung im Bereich Allgemeinmedizin?

Ich denke, dass wir in diesem Bereich teilweise noch ein Problem mit der Qualität der Fortbildung haben. Die angebotenen Fortbildungen sind oft sehr kliniklastig, das heißt, sie entsprechen nicht immer auch den Bedürfnissen der Allgemeinmediziner. Es wird grundsätzlich sehr viel Fort- und Weiter­bildung angeboten, aber eben nicht unbedingt die Art der Fort- und Weiterbildung, die wir eigentlich haben wollen.

Die regelmäßige Teilnahme an Fortbildungen ist ein ganz wichtiges qualitätssicherndes Instrument. Als Ärzte haben wir den Auftrag – und der ist auch gesetzlich fixiert –, dass wir uns ständig fortbilden. Ein Nachweis dieser Verpflichtung muss erstmals am 1. September 2016 erbracht werden. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Als Fachgesellschaft haben wir hier sicher auch einen gewissen Auftrag, zusammen mit den universitären Instituten auf den Nachholbedarf zu reagieren und entsprechende gute Fortbildung ­anzubieten.

Wie sieht es mit der Finanzierung aus?

Problematisch ist – und das muss man auch so sagen –, dass die meisten Fortbildungen in Österreich immer noch mit einem Sponsor aus der Pharmaindustrie angeboten werden. Dadurch wird teilweise sehr gezielt vor allem in jenen Bereichen Fortbildung betrieben, in denen die Industrie ihren Fokus setzen möchte. Hier würde ich mir in ­Österreich eine andere Kultur wünschen. Ich bin natürlich nicht prinzipiell gegen eine Unterstützung durch die Pharmaindus­trie, würde mich aber sehr freuen, wenn es eine Pool-Lösung gäbe, wo Industriegelder in einem Pool zusammengefasst werden. Das wäre meiner Meinung nach dem Sponsoring durch einzelne Unternehmen vorzuziehen.

Die öffentliche Hand und auch die Sozial­versicherung dürfen sich nicht aus der Fortbildung zurückziehen. Ein positives Beispiel ist hier der SAGAM-Kongress 2016 am 30. April in Salzburg zum Thema Schlafstörungen, der von der Gebietskrankenkasse als alleinigem Sponsor unterstützt wird. Eine unabhängige Fortbildung ist essenziell!

Wie könnte eine gute und effiziente Fortbildung – abseits von Vorträgen – aussehen?

Ein großes Thema heute ist natürlich das E-Learning. Während ich selber eher zu der Generation gehöre, die mit dem Computer ein bisschen auf Kriegsfuß steht, ist es für die jungen Ärzte doch eine Option. Und das sollten wir auch für die ärztliche Fortbildung nutzen. E-Learning bietet eine gute Chance, an zusätzliche DFP-Punkte zu kommen, wenngleich es meiner Meinung nach die Fortbildung im Rahmen eines Kongresses oder eines Seminars nicht ­ersetzen kann. Das Lernen in einem Vortrag mit anschließender Diskussion ist der beste Weg, um die Botschaften dorthin zu bringen, wo sie hingehören.

Ein guter Einsatz der Neuen Medien bzw. des Internets ist für mich auch die filmische Dokumentation von Veranstaltungen, das heißt, die Vorträge werden aufgezeichnet und online gestellt. Das ist zum einen sinnvoll für all jene, die nicht persönlich an einer Veranstaltung teilnehmen konnten. Zum anderen aber auch zum noch einmal Nachschauen und Reflektieren für die Teilnehmer, denn es bleibt doch nicht immer alles hängen. Mir gefällt diese Möglichkeit.

Was erwarten Sie sich für den Stichtag 1. September 2016?

Wenn man die Fortbildungs­verpflichtung bis zum Stichtag im September nicht erfüllt, wird es Konsequenzen bis hin zum Verlust der Berufsberechtigung geben und das werden die Kollegen vermeiden wollen, nehme ich an. Es ist irgendwie typisch ­österreichisch, auf den letzten Tag zu warten. Ich bin zuversichtlich, dass bis zum Stichtag im September doch der Großteil der Ärzte ein gültiges DFP-Diplom vorweisen wird können.

Das Jahr 2016 steht beim MedMedia Verlag unter dem Motto „Wertschätzung und Anerkennung“. Was verbinden Sie als Arzt mit diesen Schlagworten?

Wertschätzung ist etwas ganz Wichtiges, und zwar auf allen Seiten. Ich glaube, dass einerseits die Patienten uns Ärzte wertschätzen sollten und dies auch in hohem Maße tun. Andererseits müssen aber auch wir Ärzte die Patienten wertschätzen. Das ist letztlich eine Frage des Respekts und sollte auch nicht auf die ärztliche Praxis beschränkt bleiben. Vielmehr sollte man seinen ­Mitmenschen allgemein mehr Respekt entgegen­bringen. Ich denke jetzt an diese ganze Flüchtlingsproblematik, die mich ziemlich irritiert, wenn ich sehe, wie mit Menschen umgegangen wird. Wir ­schüren Ängste gegen den Islam, dass er uns überrollt mit all seinen radikalen Werten, und besinnen uns dabei nicht auf unsere eigenen urchristlichen ­Werte. Dazu gehören auch Respekt und das Annehmen des anderen, so wie er ist. Für mich hat das mit Würde und Wertschätzung in einer generellen ­Sichtweise zu tun.

Vielen Dank für das Gespräch!