Interview

Auf den Schultern von Riesen

ARZT & PRAXIS: Die heurige ÖGKJ-Jahrestagung findet unter dem Motto „Auf den Schultern von Riesen“ statt. Was erwartet die Teilnehmer:innen?

DDr. Peter Voitl: Ein vielfältiges Programm auf historischem Boden. Unser Motto, das u. a. als Zitat von Isaac Newton überliefert ist, bezieht sich darauf, dass die heutige Generation von Pädiater:innen medizinisch leistet, was vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar war. Das liegt aber natürlich nicht daran, dass unsere Generation so herausragend ist, sondern daran, dass wir auf Vorarbeiten und Leistungen vieler vor uns aufbauen können, so wie künftige Generationen auf unseren Erfahrungen aufbauen werden. Diese Kontinuität wird auch durch die Wahl unserer Tagungsorte unterstrichen. So steht das Josephinum für die erste Wiener Medizinische Schule, das Billrothhaus für die zweite und der Van-Swieten-Saal für die Gründung der Medizinischen Universität Wien im Jahr 2004. Ich durfte an diesen Orten bereits Vorlesungen halten und da kann es schon passieren, dass man Gänsehaut bekommt, wenn man dort steht, wo bereits ein Theodor Billroth und viele andere Persönlichkeiten gestanden sind – mit einem Sigmund Freud im Auditorium.
Jedenfalls hoffen wir bei der Jahrestagung auf einen regen wissenschaftlichen Austausch. Wir haben vieles neu gestaltet, auch wenn wir uns, wie gesagt, auf historischem Boden bewegen. Beispielsweise wurden die Posterpräsentationen dahingehend aufgewertet, dass sie nun einen eigenen Vorlesungspunkt darstellen. Und wir arbeiten zielgruppenorientiert: Es gibt eigene Sessions für niedergelassene Kolleg:innen, für Spitalsärzt: innen, für jene, die primär wissenschaftlich tätig sind oder auch für Neonatolog:innen. Wir versuchen also, Information so gezielt wie möglich zu vermitteln und die Reibungsverluste dadurch gering zu halten. Jede:r soll das mitnehmen können, was für den eigenen Arbeitsbereich benötigt wird.

Die Coronapandemie hat das Thema Impfen allgemein in den Vordergrund gerückt. Bemerken Sie in diesem Zusammenhang einen Unterschied zu Zeiten vor der Pandemie?

Das kann man eigentlich nicht beobachten. Ein verändertes Verhältnis zu Impfungen erlebe ich weder in meiner eigenen Praxis, noch lässt es sich aus der Gesamtzahl der verimpften Vakzine ableiten. Was wir gesehen haben, ist, dass die dahingehende Nachfrage nach den Lockdowns 2020 und 2021, durch die Impfungen verabsäumt wurden, hoch war und versucht wurde, diesbezüglich aufzuholen. Insgesamt lässt sich keine schlechter gewordene Impfmoral oder dergleichen ableiten.

2020 wurde von der ÖGKJ ein 10-Punkte-Programm zur Behebung des Mangels an niedergelassenen Fachärzt:innen vorgestellt. Ein Punkt war die Forderung der Ermöglichung von pädiatrischen Primärversorgungszentren. Was hat sich hier bisher getan?

Wir sind sozusagen startklar. Die allgemeinmedizinischen PVE (Primärversorgungseinheiten; Anm.) gibt es ja schon lange. In der derzeitigen Diskussion zu den pädiatrischen PVE geht es im Kern nur noch darum, wie viele Wochenstunden offen gehalten werden soll bzw. muss. Ansonsten ist man sich darüber einig, dass die pädiatrischen PVE kommen sollen. Es gibt mittlerweile ein Budget sowie Richtlinien für die personelle Ausstattung. Die Stadt Wien geht derzeit von 50 Wochenstunden aus, während wir der Meinung sind, dass 40 Wochenstunden ausreichend sein sollten. Denn eine höhere Stundenzahl stellt doch auch eine Hürde dar und wir wollen erreichen, dass mehrere PVE gegründet werden können. Die Ärztekammer hat ein Modell formuliert, das große und kleine PVE vorsieht. Die großen sollen 50, die kleinen 40 und Gruppenpraxen 30 Wochenstunden geöffnet sein. Hier gibt es auch schon einige Kolleg:innen, die diese Modelle schnell umsetzen könnten, sobald eine Einigung erzielt ist. Mit dem ersten Zentrum würde ich bis Ende des Jahres rechnen.

Ein Vorteil der Zentren besteht auch in der Verfügbarkeit am Wochenende. Rechnet sich die Wochenendarbeit überhaupt?

Nicht wirklich. Es ist kostendeckend und gelegentlich bleibt durch den soge nannten Versorgungsbonus der ÖGK sogar ein wenig übrig. Finanziell ist es im Grunde uninteressant, aber es ist ein wichtiger, notwendiger Service für die Patient:innen.

Wie nahe ist das von Ihnen geleitete Kindergesundheitszentrum Donaustadt an den projektierten pädiatrischen Primärversorgungszentren dran?

Wir betreiben ja in Wirklichkeit bereits eine PVE, sie darf nur noch nicht so heißen. Deshalb nehmen wir hier auch eine führende und beispielgebende Rolle ein, sowohl hinsichtlich der fachlichen Breite als auch der Versorgungswirksamkeit. Einerseits bieten wir 7 Tage die Woche eine Anlaufstelle, andererseits aber auch Spezialleistungen, angefangen von Herzultraschall und EEG über Spiro- und Ergometrie bis hin zu Heiminfusionen. Kurz: alles, was ambulant möglich ist. Die Kolleg:innen arbeiten gerne im Team und wollen sich darauf konzentrieren können, was sie gelernt haben, nämlich auf die Pädiatrie, und sich nicht um Personalagenden oder die Bestellung von Verbrauchsmaterial kümmern müssen.

In dem erwähnten 10-Punkte-Programm ist auch die öffentliche Finanzierung der Lehrpraxen ein Thema. Wie attraktiv ist es in finanzieller Hinsicht bzw. insgesamt, eine Lehrpraxis zu betreiben?

Finanziell zahlt sich das derzeit natürlich nicht aus. Die Kolleg:innen müssen ja eingeschult werden. Ein großer Teil der Arbeitszeit ist Lernzeit. Fachlich ist es hingegen sehr attraktiv. Die Kolleg:innen hinterfragen, was wir tun. Das ist wertvoll und auszubilden macht auch Freude. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, dass die Lehrpraxis möglichst weit vorne in der Facharztausbildung vorkommt und nicht erst ganz am Ende, wie es aktuell der Fall ist. Denn zu diesem Zeitpunkt übernehmen die Assistenzärzt:innen im Spital oft schon viel Verantwortung, leiten eine Station oder eine Spezialambulanz und möchten dann verständlicherweise nicht mehr in die Lehrpraxis gehen. Umgekehrt würde die Lehrpraxis am Beginn der Ausbildung dazu führen, dass die Kolleg:innen bereits ambulanztauglich sind, wenn sie ihre Ausbildung im Krankenhaus fortsetzen. Die letzte Ausbildungsreform ist – auch in dieser Hinsicht – schlicht missglückt.

Hätten Sie noch ein Anliegen, das Sie gerne thematisieren würden?

Ja. So, wie es jetzt aussieht, werden wir unter den derzeitigen Bedingungen den Mutter-Kind-Pass nicht beibehalten können. Der Mutter-Kind-Pass ist veraltet, es fehlen einige Inhalte komplett, wie z. B. die Gewaltprävention, es sind die Entwicklungen der Neugeborenenmedizin seit dem Jahr 2000 überhaupt nicht abgebildet und nicht zuletzt wurden die Honorare seit beinahe 30 Jahren nicht angepasst. Seit 1994 erfolgte hier keine Anpassung an die Inflation – mit dem Ergebnis, dass wir jedes Jahr für die gleiche Leistung weniger Geld erhalten haben. Deswegen gibt es derzeit ernsthafte Bestrebungen, die ich auch unterstütze, dass die Mutter-Kind-Pass- Untersuchungen in der derzeitigen Form nicht mehr sinnvoll fortgeführt werden können. Sie wären dann nur noch als Privatleistungen verfügbar.

Der Mutter-Kind-Pass gilt aber als große Errungenschaft …

Ja, natürlich, er ist eine massive Errungenschaft und war mit einer deutlichen Senkung der Säuglings- und Müttersterblichkeit verbunden. Umso unverständlicher ist die derzeitige und bereits lange andauernde Entwertung dieses wichtigen Instruments.

Vielen Dank für das Gespräch!