Interview

„Den Blutdruck kann man nicht zu früh bestimmen“

ARZT & PRAXIS: Frau Präsidentin Ferrari, welche neurologischen Erkrankungen bzw. Komplikationen sind bei arterieller Hypertonie (aHTN) zu erwarten?

Priv.-Doz.in Dr.in Julia Ferrari: Der Bluthochdruck ist der Risikofaktor für zerebrovaskuläre Erkrankungen, in erster Linie für den Schlaganfall. Auf Basis sogenannter strategischer Läsionen begünstigt die Hypertonie natürlich auch die Entwicklung einer vaskulären Demenz, die immerhin etwa ein Fünftel aller Demenzfälle ausmacht. Die pathogenetische Grundlage ist eine aus der Hypertonie resultierende Mikroangiopathie, die zu Schädigungen im Marklager führt. Das Demenzrisiko hängt vor allem davon ab, welche Hirnregionen von der Durchblutungsstörung betroffen sind.

Wo liegt aus neurologischer Sicht der systolische bzw. der diastolische Zielbereich?

Wir halten uns hier an die ESC-Guidelines, bei denen seit letztem Jahr auch das Alter bei den Zielwerten mitentscheidet. Unter 70 Jahren sollte ein Blutdruck unter 130/80 mmHg angestrebt werden. Ab 70 Jahren darf der systolische Blutdruck auch 130 mmHg erreichen.
In Bezug auf das Alter ist wichtig festzuhalten, dass bei jungen Menschen mit hohem Blutdruck das damit verbundene neurologische Risiko in ähnlicher Weise wie bei älteren vorhanden ist. Bei einer Untersuchung der Schlaganfallursachen bei Patient:innen unter 45 Jahren hat sich gezeigt, dass bei einem Großteil die gleichen klassischen Risikofaktoren wie bei älteren Patient:innen zum Tragen kommen. Es stehen also auch beim juvenilen Schlaganfall nicht nur z. B. Dissektionen oder Gerinnungsstörungen als Ursachen im Vordergrund, wie man vermuten könnte. Vor diesem Hintergrund nimmt bei dieser Patientengruppe die Prävention im Sinne einer suffizienten Hypertonie-, aber auch Hyperlipidämietherapie eine noch wesentlichere Rolle ein.
Was ich in diesem Zusammenhang betonen möchte: Den Blutdruck kann man nicht zu früh bestimmen!

Wird der Zusammenhang zwischen aHTN und Demenz in der klinischen Praxis ausreichend berücksichtigt?

Nein, das denke ich nicht. Das Grundproblem beim Bluthochdruck im Hinblick auf die Awareness und die Adhärenz ist ja das trotz Erkrankung subjektive Wohlbefinden der Patient:innen, das die Krankheitseinsicht grundsätzlich erschwert. Die Verbindung zu einer Spätfolge wie der vaskulären Demenz herzustellen ist besonders herausfordernd und ich gehe nicht davon aus, dass der diesbezüglichen Aufklärung viel Raum gegeben wird. Aus einer vor zwei Jahren in Lancet publizierten Arbeit wissen wir aber, dass bei Hypertonie das allgemeine Demenzrisiko 1,6-fach erhöht ist. Diesen Umstand sollten wir auch den Betroffenen bewusst machen.

Die arterielle Hypertonie erhöht neben dem Risiko für vaskuläre Demenz auch jenes für Alzheimer. Wie lässt sich das erklären?

Die Gefäßsituation spielt immer eine gewisse Rolle. Es gibt zunehmend Hinweise dafür, dass auch bei der Alzheimer-Demenz vaskuläre Mechanismen beteiligt sind. Und man muss bedenken: Beta-Amyloid-Ablagerungen finden sich nicht nur in den Neuronen, sondern auch in den Gefäßen bzw. Gefäßwänden.

Kommen wir von der Prävention zum Schlaganfall selbst. Wie ist der Einsatz von Vitamin-K-Antagonisten gegenüber NOAKs nach der Akutphase und in der Sekundärprävention des Schlaganfalls zu bewerten?

Nach einem Schlaganfall bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern ist die NOAK-Gabe aktuelle Klasse-Ia-Empfehlung. Für die Vitamin-K-Antagonisten gibt es aber weiterhin Indikationen – im Grunde deshalb, weil die Datenlage zu den NOAKs für eine Empfehlung nicht ausreichend ist. Empfohlen ist die Gabe von Vitamin-K-Antagonisten beispielsweise bei Patient:innen mit mechanischem Herzklappenersatz oder bei mittelgradiger bis schwerer Mitralstenose.
Hinsichtlich Wirkungs- und Sicherheitsprofil gibt es allerdings im Allgemeinen keinen Grund mehr, einen Vitamin-K-Antagonisten zu verschreiben. Andererseits gilt in der Praxis auch „never change a winning team“. Wenn aber jemand unter einem VKA einen Schlaganfall erleidet, ist er vermutlich untertherapiert, was nicht zuletzt an der therapeutischen Schwankungsbreite der VKA liegt; ein Faktor, den wir von den NOAKs so nicht kennen.

Welche Maßnahmen können das Schlaganfall-Outcome günstig beeinflussen?

Nun, das kommt primär auf die Ätiologie des Schlaganfalls an. Deswegen ist es zentral, die Ursache zu eruieren – nur dann kann man spezifisch therapieren. So benötigen Patient:innen bei Vorhofflimmern ein NOAK, bei atherothrombotischer Genese eine Mono- oder duale Plättchenhemmung u.s.w.
Therapeutisches Ziel nach einem stattgefundenen Schlaganfall ist die Verhinderung eines weiteren und natürlich das Vermeiden anderer Folgeerscheinungen, zu denen auch solche zählen, an die man vielleicht nicht unbedingt denkt, wie Depression, Inkontinenz oder auch Sturzfrakturen.
Wie die STROKE-CARD-Studie gezeigt hat, ist eine gut strukturierte Schlaganfall-Nachsorge von besonderem Wert. Bei dieser gemeinsamen Arbeit von Universitätsklinik für Neurologie Innsbruck und dem Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien wurde der Nachsorgestandard mit einem alternativen Vorgehen verglichen. Es war die erste große randomisierte Studie, die beweisen konnte, dass die untersuchte Intervention, bestehend aus einer einmal stattfindenden ambulanten interdisziplinären Kontrolle nach drei Monaten in einem Spital mit Stroke Unit, das 1-Jahres-Rezidivrisiko um 30 % senkt und die Lebensqualität deutlich erhöht.1 Die Nachsorge hat also einen ebenso hohen Stellenwert wie die Prävention.

Vielen Dank für das Gespräch!