Die Zukunft der Medizin mitgestalten

Herr Professor Hengstenberg, Sie leiten ­seit Kurzem die Klinische Abteilung für Kardiologie am Wiener AKH. Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit und Forschung?

Hengstenberg: Ich komme von der Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen des Deutschen Herzzentrums München, wo ich mich in den letzten Jahren zunehmend mit der interventionellen Kardiologie beschäftigt habe. Stichwort: kathetergestützter Ersatz von Herzklappen. Das ist eine meiner neuen Leidenschaften.

In welchen Bereichen der Kardiologie möchten Sie in Wien verstärkt Aktivitäten setzen?

Als Leiter der Kardiologie am AKH ist es mir wichtig, die Kardiologie in ihrer gesamten Breite zu fördern. Mögliche Schwerpunkte müssen sich natürlich mit den Bedürfnissen der Wiener bzw. der österreichischen Bevölkerung decken: So haben wir einen Fokus auf koronaren Herzerkrankungen, Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen und Herzklappenerkrankungen.
Ein Anliegen ist mir auch, die klinische Forschung voranzutreiben. Dazu soll eine Clinical Study Unit etabliert werden, d. h., es sollen die notwendigen Strukturen geschaffen werden, um klinische Studien der Phase II bis IV professionell und auf höchstem Niveau durchführen zu können.

Welche sind in Ihren Augen wichtige Zukunftsthemen der Kardiologie bzw. der Medizin im Allgemeinen?

Wir sind heute mit einer rasch wachsenden Menge an Daten konfrontiert – Stichwort: Big Data. Zu den klinischen Daten, wie Blutdruck, Gewicht oder Medikation, kommen Daten aus genetischen Screens. Diese Daten gilt es in Zukunft systematisch zu erfassen und sinnvoll zu kombinieren, um daraus konkrete Vorteile für unsere Patienten abzuleiten, z. B. im Sinne einer individualisierten Medizin oder Präzisionsmedizin – wie auch immer man es nennen will. An dieser zukunftsträchtigen Entwicklung möchten wir als klinische Abteilung und Teil der Medizinischen Universität Wien mitwirken.
In bestimmten kleineren Bereichen funktioniert die Auswertung von Daten schon ganz gut. Dazu zählt zum Beispiel der Bereich Imaging, wo die Umsetzung dadurch erleichtert wird, dass die Daten von vornherein in digitalisierter Form existieren.
Was wir nun noch brauchen, sind leis­tungsfähige Algorithmen für eine sinnvolle Verknüpfung und Auswertung der Daten. Das funktioniert in anderen Bereichen des täglichen Lebens bereits hervorragend – siehe Onlineshopping – und sollte auch im medizinischen Bereich möglich sein. Man muss es halt nur machen.
Seitens der Medizinischen Universität Wien gibt es deshalb nun Pläne für ein Institut für Präzisionsmedizin, wo sich Kliniker verschiedener Fachdisziplinen und Computerspezialisten zusammenfinden, um die Datensammlung und Auswertung, die Entwicklung kognitiver Assistenzsysteme und die individualisierte Medizin insgesamt voranzutreiben.

 

In der Ärzteschaft gibt es teilweise große Vorbehalte gegenüber dem Einsatz neuer kognitiver Systeme …

Wie bei jeder Neuerung gibt es natürlich auch hier Bedenkenträger. Aus meiner Sicht werden diese aber keinen Stand haben. Ich erinnere nur an die anfängliche Diskussion um bzw. Argumente gegen das Tragen eines Gurtes beim Autofahren – darüber spricht heute, wo die Fakten und Vorteile klar auf dem Tische liegen, kein Mensch mehr. Und genauso wird sich auch im medizinischen Bereich niemand einer sinnvollen Weiterentwicklung selbstlernender Systeme widersetzen können. Das wird kommen.
Für den Einsatz solcher Systeme sprechen meiner Meinung nach mehrere Argumente: So ist es beispielsweise Tatsache, dass es eine flächendeckende Versorgung mit hochspezialisierten Ärzten nicht gibt und auch nicht geben wird. Das gilt besonders für größere Länder wie Deutschland, aber auch kleinere wie Österreich. Die Patienten müssen oft weite Anfahrtswege auf sich nehmen – hier könnten telemedizinische Ansätze durchaus nützlich sein.
Ein zweites wichtiges Argument ist für mich die Qualität der Diagnostik. Diese hängt stark von vielen Faktoren ab, wozu insbesondere die Erfahrung des untersuchenden Arztes, die gesamte Arbeitslast und vieles andere mehr gehören. Das ist ganz normal – menschlich eben. Und hier können solche kognitiven Systeme ausgesprochen hilfreich sein, die dem Arzt mögliche Diagnosen inklusive Wahrscheinlichkeiten vorschlagen. In der Radiologie oder Dermatologie (Stichwort: Melanomfrüherkennung) gibt es bereits sehr leistungsfähige Algorithmen. Deren Vorteil ist unter anderem, dass sie die ganze Literatur verfügbar haben, was für den einzelnen Arzt kaum machbar ist.
Es geht bitte nicht darum, den Arzt zu ersetzen, sondern ihn zu unterstützen! Ich denke, das ist die größte Furcht mancher Kollegen, die in meinen Augen aber völlig unbegründet ist. Als Ärzte können wir von solchen Systemen nur profitieren.

 

Und wie sehen Sie die Problematik des Datenschutzes?

Das ist sicherlich ein wichtiges Thema und diesbezügliche Bedenken dürfen nicht leichtfertig abgetan werden. Aber ich würde den Aspekt des Datenschutzes nicht per se als Hemmschuh sehen. Ich bin mir sicher, dass hier Lösungen gefunden werden können, wenn man konstruktiv an die Sache herangeht, anstatt zu blockieren.

Neben Patientenversorgung und Forschung ist auch die Lehre ein wichtiger Teil Ihres Berufsalltags. Welche Herausforderungen sehen Sie hier?

Die neue Studienordnung ist natürlich auch bei den Kardiologen ein großes und wichtiges Thema. Wir sind bemüht, den jungen Assistenten ein möglichst klar strukturiertes Konzept zur Verfügung stellen zu können. Und gerade, weil wir das so ernst nehmen, haben wir am Ende des Curriculums sehr gut ausgebildete Ärzte.
Das gilt natürlich nicht nur für die Kardiologie, die ja nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern auch für alle anderen Fächer der Inneren Medizin. Wenn es darum geht, den jungen Ärzten eine gute Ausbildung zu bieten, müssen wir über den Tellerrand hinausschauen und die gesamte Breite der Inneren Medizin abdecken. Ziel ist es, dass ein Arzt – ein Kardiologe – nicht nur die Kurve im EKG sieht, sondern den gesamten Menschen von oben bis unten, und damit auch umgehen kann.

Wie beurteilen Sie die Nachwuchssituation in Ihrem Fach?

Anders als in vielen anderen Fächern, gibt es in der Kardiologie derzeit keinen Nachwuchsmangel. Im Gegenteil, wir haben sogar zu wenige Stellen für die vielen wirklich hervorragenden Bewerber, die wir gerne aufnehmen würden. Das liegt zum einen sicher am guten Leumund der Klinik, welche sich durch ein hervorragendes und nettes Team auszeichnet, von dem man viel lernen kann, und zum anderen an der generellen Bedeutung des Faches. So gehen etwa 50 % aller Todesfälle auf kardiovaskuläre Erkrankungen zurück.
Es ist ein sehr spannendes und innovatives Fach – in den letzten 20 Jahren hat sich therapeutisch enorm viel getan – und für manche mag auch eine gewisse technische Komponente (Stichwort: interventionelle Kardiologie) verlockend sein. Mit einer Ausbildung im Fach Kardiologie macht man aus meiner Sicht jedenfalls sicher nichts falsch, da man danach immer noch flexibel nach allen Seiten ist.

Sie engagieren sich auch im Bereich der ärztlichen Fortbildung …

Ja, regelmäßig. Kontinuierliche Fortbildung und der Austausch mit Kollegen sind für mich sehr wichtig. Als Vortragender oder Besucher bin ich regelmäßig bei nationalen und internationalen Kongressen, aber auch bei kleineren Fortbildungsveranstaltungen dabei. Sowohl die Recherche für meine eigenen Vorträge als auch das Zuhören bei den Kollegen hilft mir, stets auf dem Laufenden zu bleiben.

Was kennzeichnet Ihrer Meinung nach eine gute Fortbildung?

Persönlich ist mir die Möglichkeit zur Diskussion wichtig. Nach einem Vortrag, der viele neue Daten in kondensierter Form enthält, ist es für mich die Diskussion am Ende, die letztlich dazu führt, dass die wichtigsten Fakten noch einmal wiederholt, erklärt und nachhaltig eingraviert werden. Was für Fortbildungsveranstaltungen auch immer sehr hilfreich ist, sind Fallbeispiele aus der Praxis. Das interessiert die Zuhörer immer.

 

Interessant war jedenfalls auch das Thema Ihres Vortrags beim 2. Science Summit Kardiologie …

… Lebensstil und genetisches Risiko bei koronarer Herzkrankheit (KHK).
Kardiovaskuläre Risikofaktoren lassen sich in unabhängige Faktoren (z. B. Alter, familiäre Belastung, sprich, Genetik) und modifizierbare Faktoren (z. B. Adipositas, Diabetes, Hypertonie, Rauchen oder körperliche Inaktivität) einteilen. Letztere sind durch die Art des Lebensstils beeinflussbar. Welchen Anteil nun die Genetik an der Entwicklung einer KHK hat und welchen der Lebensstil, ist natürlich eine spannende Frage. Neuen Studien zufolge kann man von einem Verhältnis von etwa 1 : 1 ausgehen; wobei man immer im Kopf behalten muss, dass diese Beobachtungen an einer Gruppe gemacht wurden, also Durchschnittswerte darstellen, und nicht unbedingt 1 : 1 auf das einzelne Individuum umgelegt werden können.

Kann ein gesunder Lebensstil das genetische Risiko ausgleichen und umgekehrt?

Die Antwort ist ja. Bis zu einem gewissen Grad können Sie mit einem günstigen Lebensstil ein ungünstiges genetisches Risiko wiedergutmachen, allerdings nicht vollständig, es wird nicht auf null sinken. Umgekehrt gilt: Gute Gene schützen bis zu einem gewissen Grad bei ungesundem Lebensstil, trotzdem haben Sie ein höheres Risiko als Personen mit einem günstigeren Lifestyle.
Ein gesunder Lebensstil kann also einiges bewirken, ich möchte mich aber keinesfalls in die Ecke des Puritaners stellen lassen. Natürlich soll man die Dinge essen, die einem gut schmecken, auch wenn sie möglicherweise ein bisschen ungesund sind. Und auch gegen Alkohol in Maßen ist nichts zu sagen. Allein beim Rauchen bin ich kompromisslos, da gibt es nichts zu diskutieren. So hat eine rezente Metaanalyse von 141 Studien gezeigt, dass schon eine Zigarette pro Tag mit 50 % des Risikos assoziiert ist, das jemand hat, der eine Schachtel pro Tag raucht. Passivrauchen hat übrigens einen ganz ähnlichen Effekt, weshalb die Überlegung, das geplante Rauchverbot in der Gastronomie zu kippen, medizinisch gesehen völliger Unsinn ist.

Vielen Dank für das Gespräch!