Dort sein, wo alles nur besser werden kann.

ARZT & PRAXIS: Herr Dr. Rösch, Österreich hat während der aktuellen Pandemie zeitweise krisenähnliche Zustände des Gesundheitssystems erlebt. In anderen Regionen dieser Welt finden Krisen ganz anderen Ausmaßes statt; jüngstes Beispiel ist Afghanistan. Wie beurteilen Sie die dortige aktuelle Lage aus Sicht von Ärzte ohne Grenzen?

Dr. Michael Rösch: Ärzte ohne Grenzen ist seit vielen Jahren in Afghanistan tätig und bietet – wie an allen anderen Einsatzorten – medizinische Hilfeleistungen kostenlos an, und zwar an fünf verschiedenen Orten: Kandahar, Kundus, Chost, Lashkar Gah und Herat. Ärzte ohne Grenzen bietet medizinische Hilfe in unterschiedlichen Settings an: im Unfallkrankenhaus in Kundus, in Lashkar Gah in einer Entbindungsstation, und nachdem sich das afghanische Gesundheitssystem seit vielen Jahren in einem prekären Zustand befindet und das staat-liche Gesundheitssystem momentan komplett zusammengebrochen ist, werden die Gesundheitseinrichtungen bzw. -angebote von Ärzte ohne Grenzen überaus stark nachgefragt – wir werden fast überrannt. Dazu kommt, dass sich die Ernährungssituation dramatisch verschlechtert hat. So ist die Zahl der Kinder, die zur stationären Ernährung aufgenommen werden müssen, in letzter Zeit um ein Drittel gestiegen. Es ist auch so, dass die wenigen privaten Gesundheitsanbieter teilweise ihre Arbeit eingestellt haben und dort, wo sie weiterarbeiten, sich die Menschen diese Hilfe nicht leisten können.

Auf Ihrer Homepage ist zu lesen: „Wir sind da, wo alles nur besser werden kann.“ Oft sind das aber auch Orte, wo jeder wegwill. Wie steht es um die Sicherheit Ihrer Mitarbeiter und Einsatzkräfte?

Insgesamt ist das Sicherheitsthema für NGOs im Allgemeinen und für Ärzte ohne Grenzen im Speziellen in den letzten Jahren immer problematischer geworden. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen wird es für unsere Mitarbeiter in bestimmten Regionen immer gefährlicher. Beispielsweise wurde 2015 unser Spital in Kundus von den US-Streitkräften beschossen, und dies, obwohl die Koordinaten bekannt waren. Und der Beschuss wurde auch fortgesetzt, nachdem ein Hilferuf aus dem Spital ergangen war.
Abgesehen davon hat Ärzte ohne Grenzen relativ strikte Sicherheitsregeln. Bevor es überhaupt zu einem Einsatz kommt, wird eine Sicherheitsanalyse durchgeführt, und erst, wenn entsprechende Kriterien an einem Ort erfüllt sind, gehen wir dorthin. Dann ist es unbedingt erforderlich, dass sich alle der Sicherheitslage entsprechend an die ausgegebenen Regeln halten. Es gibt Einsätze, bei denen man sich in einem bestimmten Sektor relativ frei bewegen kann, wie es bei mir beispielsweise in Nigeria der Fall war. Dort war das Krankenhaus etwa 1,5 km von unserer Unterkunft entfernt und in einem Umkreis von etwa 300 Metern um unser Wohnhaus konnten wir uns relativ frei bewegen, konnten einkaufen oder auch Lokale besuchen. In Haiti wiederum war unser Spital zwar nur 200 Meter von unserem Wohnhaus entfernt; diese kurze Distanz durften wir aber nicht zu Fuß zurücklegen. Wir mussten jeden Tag mit dem Jeep hin- und herfahren und durften ansonsten unseren Compound nicht verlassen.

Wie wird ein solcher Compound gesichert?

Der Compound ist umzäunt und durch ein Tor passierbar, das von unbewaffneten Wachen kontrolliert wird. Es hat sich herausgestellt, dass der sicherste Schutz für unsere Mitarbeiter unsere gute Reputation ist – und der Rückhalt in der Bevölkerung. Wichtig ist, zu erwähnen, dass alle Parteien, die in einen bewaffneten Konflikt involviert sind, von uns gleichermaßen medizinisch versorgt werden. Einzige Bedingung ist, dass niemand bewaffnet ins Spital kommt. Das ist der beste Schutz, weil so auch alle Beteiligten Interesse daran haben, dass Ärzte ohne Grenzen seiner Arbeit nachgehen kann.

Sie arbeiten nach den Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Allerdings erfordert Ihre Arbeit die Zusammenarbeit mit anderen NGOs, aber auch mit Behörden, staatlichen Organisationen oder militärischen Einsatzgruppen. Wie lassen sich die genannten Prinzipien unter diesem Aspekt aufrechterhalten?

Je nach Kontext ist das ganz unterschiedlich. Es ist natürlich so, dass wir mit den bestehenden Regierungen zusammenarbeiten müssen. Wir müssen den gesetzlichen Bestimmungen Folge leisten, insbesondere jenen im Gesundheitsbereich. Selbstverständlich versuchen wir, mit den vorhandenen Akteuren im Gesundheitssystem eng zu kooperieren und nicht mit bestehenden Strukturen in Konkurrenz zu treten. Es kann durchaus vorkommen, dass wir staatliche Spitäler nur unterstützen. Das war beispielsweise 2018 in Gaza der Fall. Im Rahmen dieses Notfalls (Proteste an der Grenze zu Israel, Anm.) wurden pro Tag bis zu 300 Menschen in den Unterschenkel geschossen. Dort haben wir etwa mit Genehmigung der palästinensischen Gesundheitsbehörde gemeinsam mit den palästinensischen Kollegen operiert, vor Ort also personell und mit unseren Ressourcen unterstützt.
An anderen Orten gibt es oft gar keine medizinische Infrastruktur. Dort errichtet Ärzte ohne Grenzen eigene Spitäler, aber auch dort versucht man, so gut wie möglich mit den bestehenden Strukturen zusammenzuarbeiten.
Es gibt aber auch Situationen, aus denen sich Ärzte ohne Grenzen wieder zurückziehen muss, weil die Organisation instrumentalisiert wird oder weil wir die Sicherheit unserer MitarbeiterInnen und PatientInnen nicht mehr gewährleisten können. Vor einigen Jahren war das beispielsweise im Südsudan der Fall.

Was muss man mitbringen, um bei Ihnen ärztlich tätig sein zu können? Muss man eine abgeschlossene Ausbildung haben?

Ein Arzt in Ausbildung wird bei uns keinen Vertrag bekommen. Wir müssen uns an die gesetzlichen Bestimmungen in den jeweiligen Ländern halten, und um frei praktizieren zu können, braucht man eine abgeschlossene Ausbildung. Dazu kommt, dass man bei einem Einsatz oft der einzige Arzt vor Ort ist. Im Normalfall sind daher neben der abgeschlossenen Ausbildung auch drei Jahre Berufserfahrung als fertiger Facharzt bzw. Arzt für Allgemeinmedizin Grundvoraussetzung.

Wie bereiten sich Ihre Mitarbeiter und insbesondere das medizinische Personal auf ihren Auslandseinsatz vor?

Von Ärzte ohne Grenzen gibt es zunächst einmal die allgemeine Vorbereitung, einen Kurs vor dem ersten Einsatz, bei dem Wissen über Ärzte ohne Grenzen vermittelt wird. Dabei wird auch versucht, auf spezielle Situationen einzugehen. Und dann gibt es die berufs-spezifischen Vorbereitungen, z. B. für Chirurgen, wo auf die Arbeitsbedingungen unter prekären Verhältnissen eingegangen wird. Dabei wird u. a. gezeigt, wie man mit einfachsten Mitteln operiert, oder auf die jeweiligen medizinischen Geräte, die Ärzte ohne Grenzen verwendet, geschult.
Zusätzlich bereitet man sich persönlich auf den jeweiligen Einsatzort vor. Dazu gibt es sehr viel Literatur in den digitalen Bibliotheken von Ärzte ohne Grenzen. Vor Ort hat man darauf – eine gute Internetverbindung vorausgesetzt – natürlich auch Zugriff. Ansonsten lädt man sich die benötigten Inhalte vorher herunter. Gleichzeitig besteht auch die Möglichkeit, die Zentralen von Ärzte ohne Grenzen telefonisch oder per Mail zu kontaktieren und medizinische Probleme zu besprechen.

Wie sind Sie personell aufgestellt? Haben Sie ausreichend (ärztlichen) Zulauf?

Wir haben Zulauf, aber leider nicht genügend. Im Speziellen bräuchten wir mehr GynäkologInnen, ChirurgInnen und KinderärztInnen, aber auch AllgemeinmedizinerInnen, und wir wären froh, wenn wir insgesamt mehr Bewerbungen hätten. Aber auch an Personal aus dem nicht ärztlichen Gesundheitsbereich besteht Bedarf: Wir benötigen Pflegekräfte, Hebammen oder auch PsychologInnen. Natürlich brauchen wir auch Einsatzkräfte in anderen Bereichen wie der Logistik oder Sanitärtechnik. Es gibt kaum einen Bereich, wo wir nicht mehr Personal gebrauchen könnten.

Wie gestalten sich Bezahlung, Versicherung etc.?

Angestellt wird man von Ärzte ohne Grenzen und ist auch entsprechend sozial-, kranken- und pensionsversichert. Ich habe während meiner Einsätze monatlich in etwa 1.200 Euro netto erhalten; zusätzlich werden Kost und Logis gestellt. Nachdem ich immer nur auf relativ kurzen Einsätzen bin, spielt dieser Punkt für mich persönlich keine große Rolle, aber es gibt KollegInnen, die Jahrzehnte ausschließlich für Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Für diese ÄrztInnen ist es natürlich wichtig, dass sie ein entsprechendes bzw. höheres Gehalt bekommen. Reich wird man damit selbstverständlich nicht, aber man ist im Alter abgesichert.

1.200 Euro sind im Vergleich zum Gehalt eines Facharztes in Österreich nicht sehr viel …

Natürlich, aber ich betrachte die Differenz zu meinem üblichen Gehalt sozusagen als persönliche Spende an Ärzte ohne Grenzen. Wichtig zu erwähnen ist aber, dass die lokalen ÄrztInnen vor Ort ein ähnliches Gehalt bekommen, und die müssen davon auch leben können. Die Erfahrung zeigt, dass das vergleichsweise niedrige Gehalt eher kein Hindernis darstellt, mit Ärzte ohne Grenzen auf Einsatz zu gehen, sondern eher die mangelnde Freistellung durch den Dienstgeber. Wenn man auf einen kürzeren Einsatz geht, wird man im Allgemeinen aber auch nicht kündigen wollen. Das führt dazu, dass viele für ihren Einsatz ihre Urlaubszeit konsumieren.
Ich habe bei meinem Einsatz letzten Dezember zum ersten Mal erlebt, dass ich von einem Dienstgeber freigestellt und weiterhin bezahlt worden bin. Dafür bin ich dem Herz-Jesu-Krankenhaus Wien sehr dankbar. Bei meinen anderen Einsätzen habe ich regulär gekündigt, bin auf Einsatz gegangen und habe dann – meistens beim selben Arbeitgeber – eine Neuanstellung bekommen. Ich will dieses „Modell“ jetzt keinesfalls propagieren, aber was ich mir wünschen würde, wäre eine größere Bereitschaft seitens der Spitalserhalter, KollegInnen dabei zu unterstützen, auf Einsatz zu gehen – auch im Sinne eines karitativen Akts.

Apropos karitativer Akt: Trotz Pandemie ist das Spendenaufkommen von Ärzte ohne Grenzen Österreich von 2019 bis 2020 von 24,3 Mio. auf 31,1 Mio. angewachsen. Wie erklären Sie sich diesen erfreulichen Zuwachs von über 20 %?

Einerseits haben wir 2019 eine neue Fundraising-Strategie entwickelt, bei der wir gezielter auf verschiedene Spendergruppen eingehen, und es hat sich bereits Anfang 2020 gezeigt, dass diese neue Strategie Wirkung zeigt und das Spendenaufkommen deutlich gestiegen ist. Dieser Trend hat sich fortgesetzt und wurde durch den COVID-Notfall noch weiter verstärkt. Plötzlich haben Menschen, die regelmäßig Einmalspenden tätigen, außertourlich nochmals gespendet. Zusätzlich konnten neue Spender rekrutiert werden.
Die COVID-Krise hat ganz unterschiedliche psychologische Auswirkungen. Eine davon könnte sein, dass Menschen vermehrt das Bedürfnis verspürt haben, zu helfen. Zudem war zu Beginn der Krise die Medienpräsenz von Ärzte ohne Grenzen als Expertenorganisation für Epidemien relativ hoch, Stichwort Ebola-Epidemie in Westafrika – hier hat Ärzte ohne Grenzen maßgeblich dazu beigetragen, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Diese Expertise bei Epidemien hat Ärzte ohne Grenzen in der Bevölkerung sichtbarer gemacht.
Wir freuen uns natürlich über die Entwicklung des Spendenaufkommens, gehen aber nicht davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzen wird. Auch Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen werden die ökonomischen Auswirkungen der aktuellen Krise zu spüren bekommen, und wir werden wohl froh sein müssen, wenn wir die Spenden des Vorkrisenniveaus erreichen.

Ein letzter Punkt, der von Pharmaherstellern eher kritisch bzw. ambivalent gesehen wird: Seit 1999 existiert die Ärzte-ohne-Grenzen-Medikamentenkampagne („Access Campaign“), die den weltweiten Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten fordert. Was hat sich seit Start der Kampagne auf diesem Gebiet getan?

Ich glaube, das Wichtigste, was sich neben der Verbilligung der HIV-Medikation getan hat, ist, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit überhaupt präsent ist. Dadurch ist auch zunehmend ein gewisser Druck auf die Pharmaunternehmen entstanden, sich in der Sache zu bewegen. Ärzte ohne Grenzen war die erste Organisation, die diese Thematik in die Medien gebracht hat.
2010 wurde der Patent-Pool für HIV-Medikamente ins Leben gerufen. Damit wurden die neuen, wirksamen Medikamente in der südlichen Hemisphäre mit einem Schlag verfügbar und haben seither Millionen Menschen das Leben gerettet.
Natürlich wäre es wünschenswert, dass wir Ähnliches im Rahmen der COVID-Bekämpfung erleben. Erstens in Bezug auf die Impfungen: Dabei geht es nicht nur um die Patente, sondern auch um den Technologietransfer. Die Weitergabe des Wissens um die Herstellung der Impfstoffe ist genauso wichtig wie der Wegfall der Patente. Zweitens ist davon auszugehen, dass in weiterer Folge Medikamente gegen einen schweren COVID-Verlauf auf den Markt kommen werden, und hier werden wir vor demselben Problem stehen wie ursprünglich bei der HIV-Medikation.

Vielen Dank für das Gespräch!
Mehr Informationen zur Arbeit von Ärzte ohne Grenzen unter:
www.aerzte-ohne-grenzen.at/mitarbeiten-im-einsatz