Interview

Entstigmatisierung durch Thematisierung und Kontakt

ARZT & PRAXIS: Ganz grundsätzlich – wer ist ein:e Erfahrungsexpert:in?
Christopher Tupy: Je nach Definition kann das unterschiedlich sein, aber grundsätz­lich ist jede Person, die schon einmal eine psychische Erkrankung erlebt und durchlebt hat, ein:e Erfahrungsexpert:in. Ich persönlich beschäftige mich mit der Thematik insbesondere deshalb, weil ich diese Erfahrung auch in meinen Beruf mit einbringe, etwa in der Arbeit mit Klient:innen, Patient:innen, aber auch im Unterrichten und Forschen und nicht zuletzt in der politischen Interessenver­tretung. Der Hintergrund der Erfahrungsexpert:innen ist jedenfalls sehr heterogen und reicht von jemandem, der/die schon einmal Psychopharmaka oder Psychotherapie in Anspruch ge­nommen hat, bis hin zu Menschen mit einem längeren stationären Aufenthalt auf einer psychiatrischen Abteilung.

Seit wann engagieren Sie sich gegen die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und warum?
Begonnen habe ich im Jahr 2018, in dem Jahr, als auch die Kompetenzgruppe Entstigmatisierung1 entstanden ist. Bei­nahe von Anfang an bin ich Teil dieser Kompetenzgruppe. Dasselbe gilt für die politische Interessenvertretung.
Davor habe ich auf der einen Seite viel Inklusion von Menschen aus dem Familien- und Freundeskreis sowie vonseiten der Behandler:innen, auf der anderen Seite leider auch viel Selbststigmatisie­rung erlebt. Dabei habe ich die gesell­schaftliche Diskriminierung auf mich selbst übertragen, verbunden mit einem schlechten Gefühl, weil ich eine psy­chische Erkrankung erlebt habe.

In welchen Vereinen sind Sie tätig? Und woraus besteht dort Ihre Tätigkeit?
Ich engagiere mich im Verein Freiräume2, der sich aus den Trialogen gegründet hat. Zudem setze ich mich bei der IdEE Wien3 und dem Dachverband IdEE Austria4 ein. Bei meiner Tätigkeit im Advocacy-Be­reich, also als Interessenvertreter, geht es prinzipiell immer darum, bei politischen Entscheidungen auch die Stimme der von psychischen Erkrankungen Betroffenen mit einzubringen.

Welche Projekte eignen sich, um der Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen zu begegnen?
Einer der wichtigsten Zugänge ist, auf der Kontakthypothese* fußend, dass in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Gesundheits- und Sozialberufen trialo­gisch gearbeitet wird. Es geht also um eine Zusammenarbeit von im psycho­-sozialen Bereich Tätigen (Ärzt:innen, Psycholog:innen, Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter:innen), Erfahrungsexpert:innen und Angehörigen.
Im Endeffekt sollen ein besseres Mitei­nander und Verständnis, ermöglicht durch einen frühzeitigen Austausch – idealerweise auf Augenhöhe – erreicht werden. Als Erfahrungsexpert:innen können wir dazu beitragen, dass Men­schen mit psychischen Erkrankungen mit weniger Stigmatisierung begegnet und besser auf sie eingegangen wird. Ein Beispiel ist die vom Dachverband IdEE Austria in Wien organisierte Ver­anstaltung „Living Library“.5 Hier fun­gieren Menschen, die psychische Krisen durchlebt haben, durch ihre Erfahrungen als lebendige Bücher und er­zählen von ihrer jeweiligen persön­lichen Geschichte. Die Veranstaltung funktioniert nach dem Prinzip einer Leihbibliothek, nur dass man sich Menschen und keine Bücher ausborgt. Dieses vom persönlichen Kontakt le­bende Konzept ist sehr gut angenom­men worden und soll künftig auch auf die restlichen Bundesländer ausgeweitet werden.

Gibt es auch ein Projekt, das sich der medizinischen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen widmet?
Ja, ein Projekt, das sich mit förderlichen und hinderlichen Faktoren beim Zugang zur somatischen Gesundheitsversorgung beschäftigt, ist CoMitMenT.6
Ziel des Projekts ist es, Interventionen zu entwickeln, die Menschen mit psy­chischen Krankheitserfahrungen einen besseren Zugang zu medizinischen Ver­sorgungsstrukturen ermöglichen. Momentan ist es einfach oft so, dass Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose anders behandelt werden. Das geht nicht selten so weit, dass beispiels­weise Patient:innen mit Bauchschmerzen gleich an die Psychiatrie überwiesen werden, ohne dass irgendeine soma­tische Abklärung der Symptome erfolgt. Ähnliches passiert auch nach Unfallgeschehen. Auch hier kommt es vor, dass Patient:innen gleich Richtung Psychiatrie weitergeschickt werden, ohne vorher­ gehende diagnostische oder gar thera­peutische Maßnahmen.
Auch im professionellen Setting im Kran­kenhaus existiert Stigmatisierung und damit Diskriminierung.

„Als Erfahrungsexpert:innen können wir dazu beitragen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen mit weniger Stigmatisierung begegnet und besser auf sie eingegangen wird.“

Warum ist das so?
Teilweise liegt es vermutlich einfach auch an der Scheu, mit psychisch er­krankten Menschen in Kontakt zu treten. Dann wird unter Umständen auch von rationaler Vorgehensweise abgewichen. Ein Problem ist, dass es auch in der Aus­bildung für Gesundheitsberufe tatsäch­lich wenig Kontakt mit psychisch er­krankten Menschen gibt.

Für Medien existieren Empfehlungen des Projekts „stigmafrei“ für die Berichterstattung über psychische Erkrankungen und die davon betroffenen Menschen.7 Was kann man sprachlich und was können die Medien tun?
Die Empfehlungen wurden trialogisch erstellt und bieten eine gute Orientie­rung für einen sprachlich sensiblen Um­gang mit der Thematik. Medien müssen sich ihres Einflusses auf das gesellschaft­liche Bild von psychischen Erkrankungen bewusst sein und darauf achten, auf fundierte Information statt auf reiße­rische Headlines zu setzen. Ein Beispiel, wo das insgesamt schon gut funktioniert, ist die Suizid-Berichterstattung. Außerdem sind positive Erzählungen hilfreich, z. B. von Menschen, die eine psychische Erkrankung überwunden haben.
Um die Kommunikation insgesamt zu verbessern, wäre es im Allgemeinen wichtig, nicht über, sondern mit Betrof­fenen zu sprechen. Nur so kann klar werden, welche Worte problematisch, welche verletzend sind.
Oft können auch gut gedachte oder gut gemeinte Rahmenbedingungen stigma­tisierend sein. Ein Beispiel verdeutlicht die große Rolle der richtigen Sprache: Menschen mit psychischen Erkrankungen sind dezidiert von der UN-Be­hindertenrechtskonvention erfasst. Das ist eigentlich eine gute und vernünftige Sache, denn das Bundesbehinderten­gleichstellungsgesetz ermöglicht es, dass Menschen etwa einen erleichterten Zu­gang zum Arbeitsmarkt haben oder dass ihnen andere Vorteile wie eine höhere Familienbeihilfe oder ein besserer Ar­beitnehmerschutz zuteilwerden. Voraussetzung ist die Beantragung bzw. das Vorweisen eines Behindertenpasses. Allerdings ist das Wort „Behinderung“ einerseits stigmatisierend und anderer­seits betrachten sich Menschen mit einer psychischen Erkrankung meist nicht als „behindert“. Deshalb werden solche Angebote oftmals nicht oder nur sehr ungern genutzt.

Was würden Sie Menschen mit psychischen Erkrankungen für den Umgang mit der damit verbundenen Stigmatisierung raten?
Wichtig ist zu akzeptieren, dass man eine psychische Erkrankung hat. Diese Akzeptanz ist auch Grundlage dafür, zu lernen, auch mit einer Erkrankung zu sich selbst zu stehen. Die jeweilige Diagnose dient als Richtschnur, um zu sehen, woran man an sich selbst arbeiten kann.
Dann kann es hilfreich sein, darüber offen zu reden und seine Umgebung nicht im Unklaren zu lassen.
Oft wird in der Gesellschaft ein Bild von Menschen mit psychischer Erkrankung vermittelt, die am Rande der Gesellschaft stehen und nicht ernst zu nehmen und faul sind. Eine große Gefahr, die sich aus diesem Bild ergibt, ist die internali­sierte Stigmatisierung bzw. die Selbststigmatisierung. Diese Entwicklung muss man überwinden. Hier gibt es institutionelle Angebote, um das Empowerment zu fördern, um ein selbst­ bestimmtes, sinnerfülltes Leben mit der Rückgewinnung der Handlungsmacht zu erlangen, die den Betroffenen auf­grund ihrer Erkrankung oft abgespro­chen wird. Wichtig ist, die Angebote, von denen es sicherlich mehr geben könnte, auch wahrzunehmen.

Was würden Sie Ärzt:innen im Umgang mit Menschen mit psychischer Erkrankung empfehlen?
Die beste Herangehensweise ist eine möglichst vorurteilsfreie. Die Patient:innen benötigen einen Rahmen, in dem sie sich wohlfühlen können. Dazu ge­hört, die Anliegen der Patient:innen ernst zu nehmen. Das bedeutet nicht, dass man z. B. eine Bildgebung anordnen muss, wenn ein:e Patient:in davon über­zeugt ist, dass ihm/ihr ein Chip oder Ähnliches implantiert worden ist. Man sollte sich aber mit den Patient:innen auseinandersetzen und sie, wenn man selbst nicht helfen kann, an jemanden überweisen, der oder die es kann. Patient:innen einfach wegzuschicken sollte nicht passieren, sondern es sollte ein Zugang gefunden werden. Ziel sollte sein, dass die psychische Erkrankung in der Behandlung keinen Unterschied macht.
Ein weiterer zentraler Punkt ist Weiter­bildung. Wir sind als Erfahrungsexpert:innen momentan prinzipiell im psychiatrischen Bereich tätig und nicht in anderen Fachdisziplinen. Es gibt aber eine Vielzahl an Weiterbildungsmög­lichkeiten. Allein das Besuchen eines Trialogs kann schon sehr wertvoll sein. Zudem wäre es auch wichtig, dass der persönliche Kontakt zu Menschen mit psychischen Erkrankungen bereits im Studium und in der Ausbildung sicher­ gestellt wird.

Vielen Dank für das Gespräch!