Interview

Epilepsietherapie als multimodales Konzept

ARZT & PRAXIS: Was unterscheidet die medikamentöse Epilepsietherapie bei Kindern von jener bei Erwachsenen?


Assoz. Prof.in Dr.in Anastasia Male-Dressler: Die medikamentöse Epilepsietherapie gestaltet sich bei Kindern anders als bei Erwachsenen. So gibt es altersgebundene Epilepsie-Syndrome: In verschiedenen Altersklassen existieren unterschiedliche Neurotransmitter-Ausprägungen. Aus diesem Grund werden bestimmte Epilepsie-Syndrome wie die BNS(Blitz-Nick-Salaam, Anm.)-Epilepsie im ersten Lebensjahr oder das Lennox-Gastaut-Syndrom im zweiten bis dritten Lebensjahr mit GABA-ergen Substanzen behandelt. Das kann sich im Laufe der Kindheit ändern. Sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter wird prinzipiell zwischen fokalen und generalisierten Anfällen unterschieden. Danach richtet sich grundsätzlich die Wahl des Medikaments. Für die meisten Präparate gibt es nach unten hin (für Säuglinge und Kleinkinder) Altersbeschränkungen, sodass nicht alle im Erwachsenenalter zugelassenen Substanzen zur Verfügung stehen. Teilweise basiert die Anwendung auf extrapolierten Daten von Erwachsenen, da nur wenige randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs) im Kindesalter durchgeführt werden. Während für neuere Medikamente RCTs zur Verfügung stehen, mussten für das häufig und schon jahrzehntelang eingesetzte Phenobarbital keine Zulassungsstudien durchgeführt werden; es ist aber mittlerweile als Mittel der ersten Wahl bei Neugeborenenanfällen bewiesen und würde im Erwachsenenalter nie eingesetzt werden. Wir bewegen uns deshalb therapeutisch oft im Off-Label-Bereich, vor allem bei sehr kleinen Kindern. Andererseits gibt es auch Medikamente, die nur im Kindesalter – als Orphan Drugs – zugelassen sind, etwa bei seltenen Syndromen.

Zu den neuesten Entwicklungen zählen Cannabinoide. Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Substanzgruppe gemacht?

Das am besten untersuchte Cannabinoid bei Epilepsie ist Cannabidiol. Hier haben wir eine vergleichsweise gute Datenlage gegenüber anderen verwendeten Medikamenten, insbesondere für spezielle Epilepsie-Syndrome wie Dravet-Syndrom, Lennox-Gastaut-Syndrom und Epilepsie bei tuberöser Sklerose. Meiner Erfahrung nach wirkt Cannabidiol sehr variabel. Wir erleben überraschende Erfolge genauso wie Kinder, die gar nicht gut darauf ansprechen. Wir wissen momentan noch wenig über den antikonvulsiven Mechanismus und ob eine neuroprotektive Wirkung eintritt. Viele Eltern berichten von positiven Effekten auf das Verhalten und die Entwicklung, die schwer zu messen sind. Zusätzlich müssen wir davon ausgehen, dass Cannabinoide wahrscheinlich stärker mit anderen Antikonvulsiva inter-agieren und auch mehr von der Nahrungsaufnahme abhängen als bisher verwendete Substanzen. Eine Herausforderung ist deshalb die richtige Einbeziehung in ein bereits bestehendes Therapieregime.

Wann kommen diese neuen Medikamente zur Anwendung?

Derzeit befinden sie sich noch nicht in der Erstlinie. Es gibt noch keine Daten bzw. Hinweise, dass Cannabinoide den Erstlinien-Therapieoptionen überlegen wären. Aber sie stehen für genetische Enzephalopathien wie das Dravet-Syndrom, das Lennox-Gastaut-Syndrom oder Epilepsie bei tuberöser Sklerose nach Versagen der Standardtherapie zur Verfügung, derzeit an dritter bzw. vierter Stelle – je nachdem, welche Medikation die betroffenen Kinder und Jugendlichen bereits bekommen haben. Wobei für das Dravet-Syndrom und das Lennox-Gastaut-Syndrom gilt, dass sie als therapieresistente Epilepsie-Syndrome definiert sind, bei denen man nur in Einzelfällen unter der Standardtherapie Anfallsfreiheit erzielt. Vor diesem Hintergrund könnte es sinnvoll sein, Studien durchzuführen, um den frühen Einsatz von Cannabinoiden zu untersuchen, damit möglichst frühzeitig eine effektive Therapie angewendet werden kann. Auch wenn bereits bekannt ist, dass ein Medikament, das an zweiter oder dritter Stelle zum Einsatz kommen würde, nicht vertragen wird, könnte die Cannabinoid-Therapie vorgezogen werden. In der Initialphase ist eine langsame Dosissteigerung besonders wichtig, eventuell sogar langsamer als in der Fachinformation empfohlen, da Cannabidiol müde machen kann, was auf die Therapieadhärenz auch negative Auswirkungen haben kann. Weiters muss berücksichtigt werden, dass auch die Nahrung die Aufnahme von Cannabidiol beeinflussen kann, da Cannabidiol besser resorbiert wird, wenn es gemeinsam mit einer hochkalorischen und fettreichen Nahrung eingenommen wird. Man sollte daher die Einnahme mit einer Mahlzeit kombinieren und insbesondere bei speziellen Diättherapien wie der ketogenen Diät aufpassen.

Bei welchen antikonvulsiv wirkenden Substanzen ist besondere Vorsicht geboten?

Dazu zählen z. B. Benzodiazepine, mTOR-Inhibitoren, eine ketogene Diättherapie, aber auch Carbamazepin-Derivate. Benzodiazepine und eine fettreiche Ernährung erhöhen die Wirkung von Cannabidiol, sodass niedrigere Dosierungen eingesetzt werden können; bei Carbamazepin-Derivaten kann durch eine Reduktion des Wirkspiegels bei gleichzeitiger Erhöhung der Abbauprodukte eine Toxizität auftreten.

Welche medikamentösen Therapien sind obsolet?

Das ist eine wichtige Frage. Man könnte meinen, dass alte Substanzen komplett abgelöst wurden, weil neue Medikamente mit besserer Verträglichkeit und ähnlicher Wirksamkeit zur Verfügung stehen. Das stimmt aber nicht ganz. So verwenden wir beispielsweise Phenobarbital oder Primidon, das im Körper auch zu Phenobarbital abgebaut wird, im Allgemeinen fast nicht mehr. Phenobarbital ist aber im Klinikbereich nach wie vor die erste Wahl bei neonatalen Anfällen. Erst kürzlich hat eine Studie gezeigt, dass Phenobarbital für diese erste Anfallsgruppierung wesentlich effektiver ist als das ebenfalls untersuchte Levetiracetam. Im weiteren Verlauf kann aber durchaus recht rasch auf die neuere Substanz geswitcht werden. Das ist natürlich ein Sonderfall, der fast ausschließlich die Therapie an spezialisierten Kliniken betrifft, die neonatale Anfälle behandeln. Für die niedergelassenen Kolleg:innen ist wichtig zu wissen, dass man nicht zu lange bei Phenobarbital bleiben sollte. Als Nischenpräparate finden alte Substanzen aber durchaus Verwendung, da wir in der Epilepsietherapie zunehmend den pathogenetischen Hintergrund kennen und berücksichtigen. Dieser Umstand kommt u. a. bei genetischen Enzephalopathien zum Tragen. Hier können ältere, bereits bekannte Substanzen zur Anwendung gelangen, die in anderen Indikationen bereits etabliert sind und bei denen man beispielsweise im Tierversuch erkannt hat, dass sie auch für eine spezielle Epilepsieform therapeutisch genutzt werden können. Dieses „Repurposing“ wird eingesetzt, wenn die Standardmedikation versagt.

Kann das Auftreten epileptischer Enzephalopathien mit einer adäquaten, rechtzeitigen Therapie verhindert werden?

Grundsätzlich muss gesagt werden, dass epileptische Enzephalopathien nicht nur epileptischer Natur sind – vor allem dann nicht, wenn eine genetische Grunderkrankung vorliegt –, sondern es liegt unabhängig von der Epilepsie eine Enzephalopathie vor. In der Regel ist es so, dass auch bei sehr guter Einstellung der Epilepsie die Konstellation der Grunderkrankung bzw. der Epilepsie eine Einschränkung für das betroffene Kind darstellt bzw. ein besonderes Bedürfnis im kognitiven Bereich besteht. Auch bei einer überwundenen bzw. gelösten Epilepsie kann ein kognitives Defizit bestehen bleiben. Trotzdem bedeutet jeder epileptische Anfall ein zusätzliches Defizit, weshalb die Epilepsie in jedem Fall frühzeitig und suffizient therapiert werden muss. Die frühe Diagnostik spielt deshalb eine besondere Rolle. Dazu ist es wichtig, auf Risikofaktoren zu achten: So wissen wir, dass Frühgeborene ein erhöhtes Risiko aufweisen, insbesondere bei einer stattgehabten intrakraniellen Blutung. Hier sind regelmäßige Kontrollen in den ersten Lebensjahren indiziert, um EEG-Veränderungen darstellen zu können, bevor epileptische Anfälle auftreten. Das sind wahrscheinlich auch unsere dankbarsten Patient:innen, da wir hier eine echte Anfallsprävention betreiben können. Bei genetischen Enzephalopathien tun wir uns schwerer, aber auch in diesen Fällen ist es so, dass das Outcome umso besser ist, je früher und aggressiver therapiert wird. Wesentlich ist die Ermittlung der Ursache, wobei eine ausführliche Diagnostik unter Berücksichtigung des Pathomechanismus und der genetischen Untersuchung die Grundlage darstellt. Wir wissen beispielsweise beim Dravet-Syndrom, dass gewisse Therapien besonders gut wirken; andere antikonvulsive Therapien dürfen nicht gegeben werden, weil sie Anfälle verschlechtern. Zu den kontraindizierten Präparaten zählen Phenobarbital, Carbamazepin und dessen Derivate oder auch Lamotrigin, die zu chronischen Anfallsserien oder sogar zu einem Status epilepticus führen können. Bei tuberöser Sklerose gibt es auch Präparate, die besonders gut wirken. Präzisionstherapeutische Ansätze beinhalten Immunsuppressiva, da sie sowohl epileptische Anfälle verhindern als auch das Tumorwachstum eindämmen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Therapie?

Die Zukunft liegt in der Präzisionsmedizin. Hierunter fallen sowohl ganz neue als auch die zuvor beschriebenen Substanzen, die im Sinne eines Repurposing für neue Indikationen verwendet werden können. Ein neues Repurposing-Produkt, das beim Dravet-Syndrom voraussichtlich ein Gamechanger sein wird, ist Fenfluramin. Diese Substanz wurde ursprünglich als Appetitzügler verwendet und in weiterer Folge aufgrund kardiovaskulärer Nebenwirkungen vom Markt genommen. In der ursprünglichen Indikation war es allerdings zehnfach höher dosiert und wurde primär von Erwachsenen mit einem kardiovaskulären Risikoprofil eingenommen. In vielfach geringerer Dosis zeigt Fenfluramin beim Dravet-Syndrom eine gute Wirksamkeit in Bezug auf die Anfälle und fungiert daneben auch als kognitiver „Enhancer“. Der Wert der Präzisionsmedizin zeigt sich schon jetzt: Wir hatten hier an der Klinik kürzlich eine Patientin, die nach 17 Jahren unter Phenobarbital anfallsfrei wurde, weil eine genetische Testung gezeigt hat, dass sie dafür infrage kommt. Wie schon erwähnt, wird sonst Phenobarbital in dieser Altersgruppe nicht mehr eingesetzt.

Was ist Ihnen im Zusammenhang mit der Therapie der kindlichen Epilepsie noch wichtig?

Therapie muss man als multimodales Konzept sehen. Das gilt ganz allgemein, aber besonders bei neurologischen Erkrankungen. Es darf nicht nur ein medikamentöses Konzept verfolgt werden, sondern es braucht einen funktionellen Therapieansatz im Sinne einer intensiven Förderung. Dazu zählen Frühförderung, Frührehabilitation, Physiotherapie, Ergotherapie und auch Heilpädagogik. Wir haben nicht nur medikamentös, sondern auch im Bereich der Rehabilitation mehr Möglichkeiten denn je: Es gibt viele neue Rehabilitationszentren in Österreich sowie Intensivtherapien, die für Kinder mit einem besonderen Bedürfnis auch bewilligt werden. Entsprechende Angebote sollten den Familien aktiv vorgeschlagen werden.

Vielen Dank für das Gespräch!