Er kommt, der Facharzt für Allgemeinmedizin!

ARZT & PRAXIS: ÖGK-Obmann Andreas Huss machte jüngst mit der Forderung von sich hören, dass „jeder Arzt, der will“, einen Kassenvertrag bekommen solle. In einer Presseaussendung haben Sie diese Forderung kritisch hinterfragt. Warum?

Dr. Edgar Wutscher: Diese Forderung war für mich überraschend, um nicht zu sagen, verblüffend und muss eigentlich jeden Funktionär sprachlos machen. Sie steht in einem deutlichen Gegensatz zur Realität der letzten Jahre. Denn, wann immer wir mit dem Wunsch nach Kas­senstellen zur ÖGK bzw. ihren Vorläu­fern gegangen sind, ist auf das mangeln­de Budget verwiesen worden. Jetzt wird plötzlich – laut Huss – das Füllhorn ausgeschüttet. Das nenne ich fast schon populistisch, und es steht eben auch im Widerspruch zur gesamten Verhandlungserfahrung zwischen Kammer und Kasse.

Wie viele Stellen müssten denn besetzt werden?

Wir bräuchten zur optimalen Versor­gung noch ungefähr 1.200 Kassenstellen, wobei ich gleich eines dazusagen muss: Wenn eine Kassenstelle so attraktiv ist, warum sind dann so viele Stellen unbe­setzt? Diese Frage dürfte sich in der ÖGK allerdings niemand stellen. Hier liegt nämlich das Problem: Die jungen Kol­leginnen und Kollegen haben kein brennendes Interesse mehr daran, eine Kassenstelle zu bekommen. Es braucht also eine Änderung im System.

Meinen Sie damit auch die Honorierung ärztlicher Leistungen?

Ich denke, wir dürfen nicht jammern. Natürlich gibt es einzelne Positionen, die die Leistung definitiv nicht abgelten. Man muss hier aber das große Ganze sehen, was aber nicht bedeutet, dass auch im Bereich der Honorarordnungen dringender Handlungsbedarf besteht.

Sie haben in Ihrer Presseaussendung bekundet, dass das Wahlarztsystem „wunderbar“ funktioniere. Ist es nicht ein Problem, dass für Leistungen beim Wahlarzt mitunter deutlich mehr verlangt wird, als es der Kassentarif vorsieht?

Wahlarzt bedeutet, dass sich der Patient seinen Arzt aussuchen kann, und jeder Wahlarzt hat grundsätzlich die Entschei­dungsfreiheit, wie er seine Rechnung gestaltet, wobei das Honorar den Privathonorartarif nicht wesentlich über­schreiten sollte. Die Rechnungsbeträge, die die Wahlärzte im Großen und Ganzen stellen, orientieren sich an den Kassentarifen. Im Schnitt kommen 20 bis 30 Euro heraus, wenn der Patient einmal pro Quartal zum Wahlarzt geht. Aber auch bei vergleichsweise hohen Rechnungen ist der Patient darüber informiert und nimmt das für die Leistung in Kauf. Andernfalls würde er ja nicht wiederkommen. Das ist eben ein Teil der freien Wirtschaft. Ich möchte nicht der hohen Tarifgestaltung das Wort reden, nur muss es möglich sein, dass in einem vernünftigen Rahmen Wahl­ärzte ihre Honorare selbst festlegen. Und der Patient sagt: „Das ist es mir wert“, aber vor allem auch: „Das ist mir auch der Arzt wert.“ Das ist, finde ich, ein schöner Aspekt.

Ist der Kassentarif schlicht zu niedrig?

Das Problem beim Kassentarif liegt nicht so sehr in der Höhe selbst, sondern eher in den Limitierungen. Das zeigen bei­spielsweise Laborabrechnungen der Kassenärzte: So werden pro Patient in Tirol nur 2 Euro pro Quartal bezahlt. Wenn Sie nun 1.000 Patienten pro Quar­tal haben, können Sie um maximal 2.000 Euro Laboruntersuchungen durchfüh­ren. Das führt zu einem schnellen Errei­chen des Limits und danach arbeitet der Arzt praktisch umsonst – das gilt nicht nur in diesem Bereich. Die Limitie­rungen sind auch mit ein Grund, dass ein Kassenvertrag von jungen Kolle­ginnen und Kollegen als unattraktiv bewertet wird.

Wie beurteilen Sie die aktuell gültige Regelung, die vorsieht, dass Patienten im Rahmen der Kostenerstattung maxi­mal 80 % und nicht 100 % des Vertrags­partnertarifs rückerstattet werden?

Zuerst muss man festhalten, dass auch diese 80 % kaum erreicht werden, da seitens der Kasse alle Limitierungen, die ein Kassenarzt hat, maximal miteinbe­rechnet werden, und von diesem Betrag werden dann 80 % rückerstattet. Das bedeutet unterm Strich, dass der Patient fast nie 80 % des Vertragspartnertarifs erhält. Ich war auch einige Jahre als Wahlarzt tätig und muss sagen, dass es mitunter beschämend ist, welche gerin­gen Beträge den Patienten erstattet werden.

Zu ärztlichen Leistungen, die grundsätz­lich nicht durch die Sozialversicherung finanziert werden, zählen Vorsorgemaß­nahmen wie Erwachsenenimpfungen. Hier bezahlen Patienten neben dem Impfstoff auch ein Impfhonorar (eine Ausnahme bildet die MMR-Impfung). Wäre eine Kostenübernahme der (emp­fohlenen) Impfstoffe und der Impfung durch den Arzt nicht ein sinnvoller Bei­trag zur Gesundheit der Bevölkerung?

Überhaupt keine Frage! Damit rennen Sie bei mir eine offene Tür ein. Leider hören wir seit Jahren, dass im ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz; Anm.) festgeschrieben steht, dass nur die Krankenbehandlung und keine vorbeugenden Behandlungen von den Kassen getragen werden. Die kurative Medizin wird also bezahlt. Einige Bun­desländer haben allerdings die Reißlei­ne gezogen, sodass zumindest ein Teil der Impfungen über Länderbudgets finanziert wird.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Möglichkeit, Impfen als Kassenleistung abzurechnen, zwar einen wirklich win­zigen Betrag ausmachen würde, aber gleichzeitig einen höchst effektiven Beitrag zur Krankheitsverhinderung darstellen und wiederum eine Kostener­sparnis herbeiführen würde. Es bräuchte tatsächlich nur eine kleine Änderung im ASVG für einen großen Schritt in Richtung suffizienter Versorgung un­serer Patienten. Dass das nach wie vor nicht geschehen ist, finde ich völlig unverständlich.

Kommen wir zum Thema Allgemein­medizin. Wie beurteilen Sie die aktuelle Nachwuchs- und Ausbildungssituation?

Seitens der Bundessektion Allgemein­medizin der ÖÄK stehen wir natürlich dafür ein, dass die Ausbildung kontinu­ierlich weiterentwickelt und verbessert wird. Grundsätzlich liegen wir im eu­ropäischen Vergleich hinsichtlich der Inhalte der Ausbildungsordnung wirk­lich sehr weit vorne. Wo es hakt, ist u. a. auch die Tatsache, dass es viele Ausbildner gibt, die an der Ausbildung eines Allgemeinmediziners wenig Interesse zeigen.
Wir haben dem Ministerium einen Vor­schlag übermittelt, der vorsieht, dass wir stufenweise bis zum Jahr 2030 bzw. 2032 auf eine Ausbildungsdauer von 5 Jahren kommen, von denen 2 Jahre in der Lehrpraxis zu absolvieren sind. Denn am besten wird die Allgemeinme­dizin dort gelernt, wo sie stattfindet. Stufenweise muss dieser Prozess deshalb erfolgen, damit wir keine Besetzungs­probleme herbeiführen.
Ein wesentliches Nachwuchsproblem sehe ich darin, dass die Allgemeinme­dizin weder im Studium noch in der weiterführenden Ausbildung ausrei­chend präsent ist. Es ist wichtig, den werdenden Ärzten zu zeigen, dass die Allgemeinmedizin eine lohnende Dis­ziplin ist. Die Praxis zeigt uns ein wei­teres Problem: Wenn Ärzte in Ausbil­dung hoch qualifiziert sind, wird der Ausbildner Interesse daran haben, die­se Leute auch zu behalten, und entspre­chende Facharztausbildungsstellen im eigenen Haus bzw. an der eigenen Abteilung anbieten. Dadurch gehen der Allgemeinmedizin gute Leute verloren. Deshalb sind wir auch dabei, Lösungen zu entwickeln, um diesen Kolleginnen und Kollegen ein gutes Angebot zu machen bzw. als Disziplin einfach prä­senter zu sein.

Stichwort Ausbildung: Manche Fächer wurden im Zuge der Ärzte-Ausbildungs­ordnung (ÄAO) 2015 zu Wahlfächern degradiert, darunter auch die HNO-Heilkunde, die Neurologie und die Der­matologie. Ist das nicht angesichts der klinischen Relevanz dieser Disziplinen problematisch?

Jetzt muss ich Sie fragen: Sind Ihnen diese drei Fächer wirklich aufgefallen oder wurden Sie von jemandem darauf aufmerksam gemacht?

Nein, mir ist das tatsächlich bei der Vorbereitung aufgefallen …

Das finde ich großartig. In den drei letzten Verhandlungen im Gesund­heitsministerium, an denen wir teilge­nommen haben und die sich zum einen mit dem Facharzt für Allgemeinmedi­zin und zum anderen mit der Weiter­entwicklung der Ausbildung insgesamt befasst haben, waren das genau die drei besprochenen Punkte. Hier kam sogar seitens des Ministeriums der Einwand, dass dieser Umstand so nicht länger tragbar sei, und es gibt die übereinstimmende Feststellung, dass diese drei Fächer wieder Teil der näch­sten Ausbildungsordnung sein sollen. Für mich war der Wegfall dieser Fächer bereits 2015 unverständlich. Die Be­gründung des Ministeriums bzw. der Länder war damals, dass man zu wenige Fachärzte in den Abteilungen dieser Disziplinen hätte, um die Leute auszubilden – rückblickend beinahe ein Wahnsinn!

Apropos Facharzt für Allgemeinmedizin – wann dürfen wir damit rechnen?

Wenn der liebe Gott mir wohlgesonnen ist, dann haben wir zum Jahreswechsel den Facharzt für Allgemeinmedizin. Es wird auch von sehr kompetenten Leu­ten im Ministerium unterstützt, dass wir das heuer noch in trockene Tücher bekommen.

Eine letzte Frage zur Allgemeinmedizin: Wie könnte man dem Landärztemangel entgegenwirken bzw. gibt es bereits Lösungsmodelle, die sich bewähren?

Jetzt darf ich Sie verblüffen: Wenn man Österreich insgesamt betrachtet, dann haben wir mehr offene Kassenstellen für Allgemeinmedizin in den Städten als im ländlichen Bereich. Aber im ländlichen Bereich fällt es natürlich viel mehr auf und kann auch schlechter kompensiert werden. Es macht einen Unterschied, ob in einer kleineren Gemeinde einfach kein Arzt mehr tätig ist oder ob in einer Stadt ein paar Ärzte von vielen fehlen.
Ein wichtiger Punkt ist das Angebot neuer Formen der Zusammenarbeit. So gibt es nun die Möglichkeit der Anstel­lung Arzt beim Arzt sowie das Jobsha­ring. Gemeinschaftspraxen sind sicherlich ein guter Weg. Das Problem, das ich hier doch öfter sehe, ist allerdings, einen Partner zu finden, auf den man sich verlassen und mit dem man gut zusam­menarbeiten kann. In der Bundeskurie in Bregenz im Juni 2021 wurde u. a. eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit Möglichkeiten der Zusammenarbeit in den Praxen befasst. Was ich als besonders attraktive Möglichkeit sehe, ist eine aus dem ärztlichen Funkbereitschaftsdienst heraus zu entwickelnde Gesellschaft, wie es beispielsweise in Wien geplant ist. Der Unterschied wäre, dass wir seitens der Ärztekammer einen solchen Dienst für Orte organisieren würden, in denen es keinen Kassenarzt gibt. Die notwendige organisatorische Arbeit könnte etwa eine Tochtergesellschaft der ÄK übernehmen. Unser Gedanke ist, dass man den dort tätigen Ärzten auch die Attraktivität der Arbeit an diesen Orten näherbringt. Im besten Fall könnten dann diejenigen, die für eine solche Gesellschaft arbeiten, in der Folge eine Ordination in einer dieser Regionen übernehmen.
Für alle diese Maßnahmen braucht es Zeit, aber auch die Bereitschaft, büro­kratische Hürden – vor allem seitens der Kassen – zu beseitigen. Ein rezentes Beispiel illustriert das Problem ganz gut: Vorarlberg hat ein massives Problem mit der augenärztlichen Versorgung. Einige Augenärzte haben sich gemeldet und gesagt, dass zwar keiner von ihnen alleine eine Kassenstelle übernehmen könne, aber dass sie sich die Arbeit aufteilen und jeweils einige Stunden pro Woche arbeiten könnten, um die Ver­sorgung zu verbessern. Für die Kasse kam das überhaupt nicht infrage. Sie beharrt auf dem Standpunkt, dass ent­weder eine Stelle übernommen wird oder nicht, nach dem Motto: ganz oder gar nicht. Dieses Verharren in gewissen bürokratischen Strukturen ist oft ein wesentlicher Mitgrund, warum die Versorgung nicht funktioniert.

Vielen Dank für das Gespräch!