„Ich möchte wieder Arzt sein können“

Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied hat aus Leidenschaft Medizin studiert. Nun arbeitet sie als Allgemeinmedizinerin in Wien-Floridsdorf. Die berufliche Realität hat sie eingeholt: „Ich ersticke in Papierkram, alles Bürokratie. Ich habe das Gefühl, meinen Beruf nicht so ausüben zu können, wie ich mir das vorstelle. Ich habe Medizin studiert, um mit Menschen zu arbeiten, und nicht, um täglich mit Papier zu kämpfen. Ich will zum Beispiel auch keine Streitereien wegen ABS (Anm. d. Red.: Arzneibewilligungssystem) mehr, sondern mehr Zeit für meine Patienten haben.“
Momentan spürt Schmied besonders die sich verändernde Spitalslandschaft in Wien: „Ich spüre den Niedergang der Spitäler. Patienten kommen ohne Rezept, Überweisung, Medikamente und ohne Arztbrief. Nachuntersuchungen, Wundbehandlung oder Nahtentfernungen übernehmen wir ohne Weiteres, doch hätte ich gerne schriftliche Informationen zum Procedere bzw. zur Mitgabe der notwendigen Verbandstoffe.“

 

 

Dr. Amin Watti betreibt in 1160 Wien eine allgemeinmedizinische Kassenordination: „Ich fühle mich sehr wohl, auch wenn mir natürlich gewisse Dinge missfallen, zum Beispiel wenn Patienten aus dem Krankenhaus entlassen werden und im Kurzbrief nicht einmal die Labor­befunde oder der Grund für allfällige Therapieänderungen enthalten sind. Dadurch muss man sich die Informationen aus den Fingern saugen.“

 

 

Mehr Kommunikation notwendig – „gegen Honorar“

Generell sei der Austausch über den individuellen Patienten zwischen dem stationären und dem niedergelassenen Bereich verbesserungswürdig, kritisieren beide. Dr. Ursula Klaar arbeitet in einer internistisch-kardiologischen Gruppenpraxis in Wien-Favoriten. Sie war lange Zeit im AKH tätig und kennt beide Seiten sehr gut. „Spitalsärzte haben oft keine Ahnung, was im Kassenbereich machbar ist, da einiges gar nicht angeboten und honoriert wird. Wir Niedergelassenen wissen vice versa nichts vom Druck und von den lokalen Gegebenheiten in den Spitälern. Ebenso wünsche ich mir mehr Kommunikation mit den allgemeinmedizinischen Kollegen.“ ELGA, meint Klaar, werde die Optimierung der Kooperation zwischen den Schnittstellen pro Patient nicht verbessern, weil es nicht dafür konzipiert wurde, sondern der Leistungserfassung und Kontrolle diene. Klaar spürt auch die prekäre Situation in den Krankenhäusern: „Ich bekomme Patienten aus überforderten Notfallambulanzen zugewiesen, die eigentlich gleich aufgenommen gehört hätten.“

 

 

Schmied berichtet über ein in Floridsdorf initiiertes Netzwerk von Ärzten: „Das bringt sehr viel, man kann sich gut besprechen. Aber diese Form der Zusammenarbeit – sowohl zwischen Allgemeinmedizinern untereinander als auch mit Fachärzten – sollte honoriert werden, da sich die Kassen am Ende des Tages viel Geld sparen.“ Klaar dazu: „Da stimme ich absolut zu. Es ist notwendig, dass man die Kollegen in seinem Netzwerk kennt, auch die in den Spitälern. Ganz wichtig ist zudem, dass die Kommunikation miteinander für alle eine ausgezeichnete Burn-out-Prävention ist!“
Auch hält Klaar es für notwendig, dass die aufzuwendende Zeit pro Patientenbetreuung ein zu berücksichtigender Wert wird, in der Personalplanung der Spitäler genauso wie bei der Honorierung der Niedergelassenen. Auch die benötigte Zeit für Interaktion zwischen den Schnittstellen sollte berücksichtigt werden, weil es dafür Personalressourcen braucht, die aber anderswo eingespart werden. Sie kann sich eine verpflichtende Optimierung der Patienten­kom­munikation für alle Seiten vorstellen – „mit einem Kostenposten, denn das würde das System letztlich nachhaltig billiger machen, weil es unnötige Ambulanzzuweisungen, Doppelbefunde, Transporte, Rehospitalisierungen etc. spart und Qualität optimiert. Zu diesen Kostenoptimierungen wäre aber die Zusammenlegung aller Kostenträger zu einer Einheit sinnvoll, um intransparente Kostenverschiebungen zwischen den Systemen zu vermeiden.“
Dr. Susanna Michalek, Kassenärztin in Wien 23 und Bezirksärztevertreterin, arbeitet derzeit in einem Jobsharing-Modell und „genießt das parallele Arbeiten“. Auch sie kritisiert das Entlassungsmanagement vieler Spitäler: „Sie kümmern sich nicht um uns Allgemeinmediziner.“ Die Bewilligungsverfahren für Medikamente seien mühsam, man werde oft nicht einmal zurückgerufen.
Watti erlebt häufig, dass es für ausgeschriebene Stellen keine Interessenten gibt. „Das wundert mich nicht, denn die jungen Kollegen lesen oft nur Schlechtes über die Arbeit im niedergelassenen Bereich: viel zu viel Bürokratie, zu geringes Gehalt und so weiter. Dadurch entsteht eine große Verunsicherung unter den jungen Kolleginnen und Kollegen.“ Außerdem seien viele nur schlecht auf ihre Tätigkeit als Allgemeinmediziner vorbereitet: „Sie wissen oft nicht, was sie wie tun sollen. Die Lehrpraxis ist hier ein idealer Einstieg.“ Dem stimmt auch Schmied zu: „Ich habe in der Lehrpraxis unglaublich viel gelernt.“

 

 

 

Wie sieht es mit der Wertschätzung von Kollegen aus?

Schmied kritisiert, dass der Ruf der Allgemeinmediziner unter den fachärztlichen Kollegen eher schlecht sei. Die gängigen Vorurteile reichen von „die überweisen eh nur“ bis hin zu „die kennen sich nicht aus“. Schmied: „Wir erfahren definitiv keine oder zu geringe Wertschätzung von ihnen. Ohne die Wertschätzung meiner Patienten könnte ich nicht weiterarbeiten!“
Klaar fürchtet PHC-Zentren, die von Konzernen geführt werden: „Sie werden es billiger machen und der niedergelassene Bereich wird merkantilisiert werden.“ Sie warnt vor dem zunehmenden Taylorismus in der Medizin – ein Thema, das auch vor Kurzem im New England Journal of Medicine aufgegriffen wurde. „Als Arzt kann man keine Fließbandarbeit leisten. Die Medizin muss sich aber immer stärker der Ökonomie unterwerfen. Kliniken werden zu Fabriken, Patienten sind keine Patienten mehr, sondern Kunden oder Konsumenten, und aus Ärzten und Pflegekräften entwickeln sich medizinische Leistungserbringer. Das darf und kann so nicht sein! Wir arbeiten mit Menschen, nicht Maschinen!“
Ein großes Problem in der täglichen Praxis sei, so Schmied, „die geringe Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Wenn wir hier ansetzen, dann wird es irgendwann auch weniger Ambulanzbesuche geben, weil die Menschen nicht mit jedem Schnupfen oder Husten ins Spital gehen. Damit müssen wir schon in den Kindergärten und Schulen beginnen.“ Klaar regt in diesem Zusammenhang das pädagogische Aufklärungspotenzial diverser U-Bahn-Zeitungen an, grundlegend über den menschlichen Körper zu informieren.
Watti kritisiert, dass die Patienten nach entsprechender Verordnung über den Hausarzt direkt CT- oder MR-Untersuchungen machen können. Watti: „Dadurch entsteht ein enormer Druck vonseiten der Patienten auf die nieder-gelassenen Kollegen und als Folge eine unnötige Anzahl an Untersuchungen. Diese Verordnungen sollten chefarztpflichtig sein.“

Wünsche an die Zukunft?

Michalek wünscht sich mehr interdisziplinäre und interprofessionelle Vernetzung mit den Heimhilfen, Apotheken, und Physiotherapeuten: „Außerdem wollen wir unser Wissen für Studenten im klinischen praktischen Jahr oder in der Lehrpraxis weitergeben, aber das muss auch finanziell ermöglicht werden.“
Dr. Manfred Weindl ist Bezirksärztevertreter von Wien-Alsergrund und „immer noch Vertragsarzt der Gebietskrankenkasse mit allen Nachteilen. Ich kenne Kollegen, die sich nach der Rückgabe oder dem Verlust der Kassenverträge durchaus besser fühlen. In meinem nun fast 20-jährigen Vertragsleben mit der WGKK hat es Zeiten gegeben, wo man sich noch als Vertragspartner geschätzt fühlte. Mit konstruktiver Kommunikation über anstehende Probleme, auf die sogar eingegangen wurde, und ohne ständige Untergriffe gegen die Ärzteschaft via Presse oder einem dubiosen Spitzelwesen namens Mystery Shopping.“ Er würde sich gerne „in ein wohlwollendes System eingebettet fühlen, ohne Mys­tery Shopping, dafür mit mehr Zeit für Patienten und auch mit besseren Honoraren“.

 

 

Auch Klaar meint, dass die Wichtigkeit, die Wertschätzung und somit die Honorierung vor allem auch bei den (bes­tens auszubildenden) Allgemeinmedizinern optimiert werden müssen, bevor die Gesellschaft von ihnen eine Effektivitäts- und Qualitätssteigerung der individuellen Grundversorgung wie auch des Schnittstellenmanagements fordert. Allgemein zu erwägen sei zudem eine Adaptierung der Deckelungen an moderne State-of-the-Art-Behandlungspfade, wenn nicht ein Wegfall überhaupt diskutiert werden müsste.
Mystery Shopping ist auch für Schmied ein No-go: „Es geht gar nicht, motivierte und verantwortungsvoll arbeitende Ärzte unter Generalverdacht zu stellen.“

 

 

„Unsere Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch!“

Wohl kaum jemand wird dem Befund widersprechen, dass der Druck auf uns Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat. Ursachen dafür gibt es viele: In Spitälern spielt zum Beispiel die oft fehlende Einsicht des Managements eine Rolle, dass man in kürzerer Zeit und mit zu wenig Personal nicht gleich viel leisten kann wie mit mehr Arbeitsstunden und mit ausreichend vielen Mitarbeitern. Fazit: Viele Spitäler fahren ihre stationären und ambulanten Leistungen zurück und Patienten, bei denen das möglich ist, suchen im niedergelassenen Bereich ärztliche Unterstützung.
Dort manifestieren sich allerdings die Konsequenzen der fehlenden politischen Bereitschaft, den kassenärztlichen Bereich entsprechend seiner Bedeutung aufzuwerten. Stichwörter sind hier Deckelungen und Degressionen, die zu künstlichen Leistungsbegrenzungen führen. Wenn ein „psychosomatisch orientiertes Diagnose-und Behandlungsgespräch“ nur in einem Bruchteil der Fälle abgerechnet werden kann, sind der „Zuwendungsmedizin“ Grenzen gesetzt. Deshalb: weg mit den Deckeln, hin zu einer Versorgung, die sich am realen Patientenbedarf orientiert.
Eine weitere Forderung: Abschaffung der von den Kassen vorgeschriebenen bürokratischen Maßnahmen – wie der Chefarztpflicht –, die Patienten nichts bringen, unnötig Zeit kosten und für zusätzlichen Druck sorgen; aber auch Schluss mit dem skandalösen „Mystery Shopping“, das Misstrauen sät und die Versorgung behindert.
Um dem Versorgungsbedarf einer größer und älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden, braucht Österreich 1.400 zusätzliche Kassenärzte, davon 300 in Wien – denn schon heute würde ohne Wahlärzte vieles nicht mehr funktionieren. Kassenverträge müssen also für Ärzte wieder ausreichend attraktiv werden.
Ein klares Konzept für eine Weiterentwicklung der niedergelassenen Versorgung hat die Ärztekammer mit dem Projekt „Primärversorgung 2020“ vorgelegt: ein System von niedergelassenen Ärzten, Gruppenpraxen und erweiterten Gruppenpraxen, die untereinander gut vernetzt sind. Dieses Modell ist sowohl für den städtischen als auch für den ländlichen Bereich adaptierbar. Es berücksichtigt die individuellen beruflichen Präferenzen von Ärztinnen und Ärzten und verbessert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Lösungsvorschläge für aktuelle Versorgungsprobleme, aber auch für viele Probleme, die Ärztinnen und Ärzten die Arbeit erschweren, liegen also bereits auf dem Tisch. Gefordert ist die Politik, sie im Interesse von Arzt und Patient umzusetzen.

Dr. Johannes Steinhart, ÖÄK-VP