ARZT & PRAXIS: Herr Dr. Vavrovsky, Sie sprechen von einer zunehmenden Komplexität in der ärztlichen Ausbildung. Welche Faktoren tragen dazu bei und warum braucht es aus Ihrer Sicht gerade jetzt neue Leitlinien?
Dr. Matthias Vavrovsky: Die ärztliche Ausbildung steht heute vor mehreren Herausforderungen, die in ihrer Gesamtheit eine neue Herangehensweise erfordern.
Erstens ist unser mehrstufiges Ausbildungssystem mit Basisausbildung, Sonderfach-Grundausbildung und Schwerpunktausbildung durch seine Struktur naturgemäß komplex. Die rechtlichen Vorgaben verteilen sich auf verschiedene Gesetze und Verordnungen – vom Ärztegesetz über die Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordnung bis hin zur Rasterzeugnis-Verordnung. Diese Fragmentierung macht es für alle Beteiligten schwierig, einen klaren Überblick zu behalten.
Zweitens findet die ärztliche Ausbildung hauptsächlich im klinischen Alltag statt und basierte bisher stark auf dem Prinzip „Learning by Doing“. Obwohl die fachlichen Anforderungen in den Rasterzeugnissen gut definiert sind, fehlt es oft an strukturierten Konzepten für die praktische Vermittlung dieser Inhalte. Die organisatorischen Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung sind zwar in den Gesetzen vorgegeben, werden aber häufig nicht konsequent umgesetzt – teils aus Unkenntnis, teils aufgrund fehlender Ressourcen.
Drittens haben wir es mit einer neuen Generation von Ausbildungsärzt:innen zu tun, die – völlig zu Recht – höhere Erwartungen an ihre Ausbildung stellt. Sie wünschen sich mehr Struktur, Transparenz und Begleitung auf ihrem Weg zum Facharzt bzw. zur Fachärztin. Dazu kommen die Veränderungen durch die Arbeitszeitgesetze, die zu einer Reduktion der Arbeitszeit geführt haben – eine absolut zeitgemäße und notwendige Entwicklung. Dadurch steht aber auch weniger Zeit für die Ausbildung zur Verfügung, was eine effizientere Vermittlung der Inhalte erfordert. Das alte System des „Schau zu und lerne“ entspricht nicht mehr den Anforderungen einer modernen Ausbildungskultur.
Hinzu kommt die zunehmende internationale Mobilität: Immer mehr österreichische Ärzt:innen absolvieren Teile ihrer Ausbildung im Ausland, während gleichzeitig Ärzt:innen aus anderen Ländern zu uns kommen. Dies erfordert Ausbildungsstandards, die international anschlussfähig sind, weshalb wir uns bei der Entwicklung auch an den Standards der World Federation for Medical Education (WFME) orientiert haben.
Die neuen Leitlinien waren genau zum jetzigen Zeitpunkt notwendig, um all diese Faktoren zu adressieren. Sie schaffen einen strukturierten Rahmen für die Organisation der Ausbildung, der einerseits klare Orientierung bietet und andererseits ausreichend Flexibilität für unterschiedliche Ausbildungssettings lässt. Sie helfen, die bestehenden rechtlichen Vorgaben in praktisch umsetzbare Handlungsempfehlungen zu übersetzen, sorgen für mehr Transparenz für alle Beteiligten und schaffen die Grundlage in Vorbereitung auf eine kompetenz-orientierte Ausbildung.
Was waren die Grundprinzipien bei der Entwicklung der neuen Standard- und Qualitätsleitlinien und wie gelingt die Balance zwischen internationalen Standards und österreichischer Praxis?
Bei der Entwicklung haben wir uns von mehreren Grundprinzipien leiten lassen. Erstens wollten wir keine zusätzlichen Vorschriften schaffen, sondern die bestehenden rechtlichen Vorgaben in praktikable Handlungsempfehlungen übersetzen. Zweitens war es uns wichtig, nicht nur Mindeststandards zu definieren, sondern auch Wege zur kontinuierlichen Qualitätsverbesserung aufzuzeigen. Und drittens sollten die Leitlinien eine gemeinsame Sprache für die Ausbildungsqualität etablieren – zwischen Ausbildungsärzt:innen, Ausbildungsverantwortlichen, Trägern und innerhalb der Standesvertretung.
Die Balance zwischen internationalen Standards und österreichischer Praxis war dabei tatsächlich eine Herausforderung. Wir haben uns an den Standards der World Federation for Medical Education orientiert und bewährte Praktiken aus Ländern wie Großbritannien, der Schweiz oder den Niederlanden analysiert. Diese internationalen Modelle haben wir gezielt an die Strukturen und Traditionen des österreichischen Ausbildungssystems angepasst.
Der Entwicklungsprozess selbst verlief in mehreren klar definierten Phasen. In der Analysephase haben wir internationale Standards gesichtet, nationale Vorgaben analysiert und bestehende Konzepte geprüft. Darauf aufbauend haben wir in der Entwicklungsphase regelmäßige Arbeitstreffen durchgeführt, Empfehlungen erarbeitet und diese in Leitlinien übergeführt.
Die Leitlinien beruhen auf einem dreistufigen Empfehlungssystem: MUSS, SOLL und KANN. Was versprechen Sie sich von dieser abgestuften Herangehensweise?
Das dreistufige System ist das Kernstück der Leitlinien und spiegelt unseren Ansatz wider, Verbindlichkeit mit Flexibilität zu verbinden.
Die MUSS-Empfehlungen (E1 – Starker Empfehlungsgrad) definieren die verbindlichen Standards, die auf gesetzlichen Vorgaben, eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder einem starken standespolitischen Konsens basieren. Sie schaffen Rechtssicherheit und stellen sicher, dass die grundlegenden Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Ausbildung erfüllt werden. Diese Empfehlungen bilden die Basis für die Qualitätskontrolle und sind ein Prüfkriterium bei Visitationen.
Die SOLL-Empfehlungen (E2 – Moderater Empfehlungsgrad) beschreiben bewährte Praktiken, die auf internationalen Best-Practice-Modellen, nationalen Expertenmeinungen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und einen soliden standespolitischen Konsens haben. Sie sind keine Pflicht, bieten aber einen klaren Entwicklungspfad für die Ausbildungsstätten und werden nachdrücklich empfohlen.
Die KANN-Empfehlungen (E3 – Flexibler Empfehlungsgrad) öffnen schließlich den Raum für Innovation und lokale Lösungen. Sie basieren auf Expertenmeinungen, aufstrebenden Praktiken und Konsensprozessen, regen zum Experimentieren mit neuen Ausbildungskonzepten an und würdigen die Vielfalt der Ausbildungslandschaft. Sie bieten Raum für Individualität und Entwicklungspotenzial.
Dieses abgestufte System ermöglicht es jeder Ausbildungsstätte, ihren eigenen Weg zur optimalen Ausbildungsqualität zu finden – angepasst an ihre spezifischen Gegebenheiten und Ressourcen. Gleichzeitig gibt es den Ausbildungsärzt:innen mehr Transparenz darüber, welche Standards sie erwarten können. Die Verteilung der Empfehlungen in unserem Dokument spiegelt diesen ausgewogenen Ansatz wider: 26 % sind MUSS-Empfehlungen, 67 % sind SOLL-Empfehlungen und 7 % sind KANN-Empfehlungen. Damit setzen wir klare Mindeststandards, geben aber gleichzeitig Raum für Entwicklung und Innovation.
Ein wichtiger Punkt ist die Definition struktureller Voraussetzungen, etwa bei Infrastruktur und personeller Ausstattung. Was sind hier zentrale Neuerungen?
Erstmals definieren wir konkret, welche Ressourcen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung notwendig sind. Die vielleicht wichtigste Neuerung betrifft die Ausbildungsverantwortlichen: Wir empfehlen, dass diese mindestens 20 % ihrer Arbeitszeit für ihre Ausbildungsaufgaben zur Verfügung haben sollten. Das mag auf den ersten Blick viel erscheinen, aber wenn man die vielfältigen Aufgaben betrachtet – von der Entwicklung von Ausbildungskonzepten über die Durchführung von Evaluierungsgesprächen bis hin zur laufenden Begleitung der Ausbildungsärzt:innen –, dann wird klar, dass dies das absolute Minimum ist.
Wir haben dabei ein klares Karrieremodell für Ausbildungsverantwortliche vor Augen, das auf drei Säulen basiert: 1. das notwendige Wissen und die Ausbildung in Bereichen wie rechtliche Grundlagen, Medizindidaktik und Feedback-Methoden; 2. die erforderlichen Zeitressourcen mit mindestens 20 % eines Vollzeitäquivalents; und 3. eine angemessene Vergütung, etwa durch Funktionszulagen oder eine Position als leitender Oberarzt.
Weitere wichtige Punkte betreffen die räumliche und technische Infrastruktur: Ausbildungsärzt:innen brauchen geeignete Arbeitsplätze, Zugang zu Fachliteratur und digitalen Ressourcen sowie Räumlichkeiten für Besprechungen und Selbststudium.
Auch die Integration von Simulationstraining ist ein zentraler Aspekt. Wo immer möglich, sollten Ausbildungsärzt:innen zunächst an Simulatoren üben können, bevor sie Fertigkeiten an Patient:innen anwenden.
Diese strukturellen Vorgaben stärken die Position der Ausbildungsverantwortlichen gegenüber den Trägern und geben ihnen eine solide Argumentationsgrundlage für die notwendigen Ressourcen. Interessanterweise liegen wir mit unserer 20 %-Empfehlung durchaus im internationalen Trend – vergleichbare Anforderungen finden sich beispielsweise auch in den Richtlinien des Accreditation Council for Graduate Medical Education in den USA.
Arbeitsplatzbasierte Assessments und kontinuierliches Feedback spielen in den neuen Leitlinien eine große Rolle. Wie können diese Instrumente den Ausbildungsalltag konkret verbessern?
Arbeitsplatzbasierte Assessments (AbAs) sind ein Paradigmenwechsel: weg von der bloßen Dokumentation von Zahlen und hin zu einer echten Kompetenzentwicklung im klinischen Alltag. Konkret bedeutet das: Ausbildungsärzt:innen erhalten unmittelbares Feedback zu ihrem Handeln in realen klinischen Situationen – sei es bei der Durchführung einer Visite, beim Patientengespräch oder bei praktischen Tätigkeiten. Erfahrene Ausbildungsfachärzt:innen beobachten gezielt und geben strukturierte Rückmeldung.
Wir haben verschiedene Typen von AbAs definiert, die unterschiedliche Aspekte abdecken: Mini-CEX für Kommunikation und klinische Untersuchung, DOPS für manuelle Tätigkeiten und Interventionen sowie EPAs (Entrustable Professional Activities) für anvertraubare professionelle Tätigkeiten. Diese AbAs sollten mindestens viermal pro Jahr durchgeführt werden und haben einen klar definierten Ablauf mit Vorbereitung, Beobachtung, Feedback und Dokumentation.
Der wesentliche Vorteil liegt darin, dass Feedback nicht erst am Ende eines Ausbildungsabschnitts erfolgt, wenn bestimmte Schwächen vielleicht schon zur Gewohnheit geworden sind, sondern kontinuierlich und zeitnah. Dadurch können Ausbildungsärzt:innen ihre Entwicklung aktiv reflektieren und gezielt an ihrer Kompetenzentwicklung arbeiten. Auch ermöglichen die AbAs eine differenziertere Beurteilung der Kompetenzniveaus und erlauben es, den Ausbildungsärzt:innen schrittweise mehr Verantwortung zu übertragen – vom reinen Beobachten (Niveau 1) über assistierendes Handeln unter direkter Supervision (Niveau 2), Handeln unter indirekter Supervision (Niveau 3) bis hin zum selbstständigen Handeln (Niveau 4).
Für die Ausbildungsfachärzt:innen bieten AbAs eine strukturierte Methode, um ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben. Das fördert eine Kultur des gegenseitigen Lernens und Lehrens und wertet die Ausbildungstätigkeit insgesamt auf. In Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden oder der Schweiz haben sich AbAs bereits als Standard etabliert und zu einer nachweislichen Verbesserung der Ausbildungsqualität geführt. Mit den Leitlinien wollen wir diesen Weg auch in Österreich beschreiten.
Die aktuelle fachärztliche Ausbildungsordnung gilt nun seit zehn Jahren. Ist es an der Zeit für eine Reevaluierung?
Nach zehn Jahren ist es definitiv an der Zeit, die fachärztliche Ausbildungsordnung einer umfassenden Reevaluierung zu unterziehen. Unsere neuen Leitlinien können dabei als wichtiger Baustein dienen. Sie definieren den organisatorischen und strukturellen Rahmen, in dem die inhaltliche Ausbildung stattfindet. Eine Überarbeitung der Ausbildungsordnung könnte nun die fachlichen Inhalte aktualisieren und gleichzeitig die in den Leitlinien definierten Qualitätsstandards integrieren.
Besonders wichtig wäre mir dabei, die Kompetenzorientierung zu stärken. Die Ausbildung sollte sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten konzentrieren, sondern auch auf die Entwicklung übergreifender Kompetenzen wie kritisches Denken, Kommunikationsfähigkeit oder Teamarbeit. Die kompetenzorientierte Ausbildung mit arbeitsplatzbasierten Assessments sehe ich als wichtigen strategischen Entwicklungsschritt.
Zu den weiteren strategischen Entwicklungslinien gehören für mich die Förderung von Kooperationen zwischen Ausbildungsstätten, die Etablierung von Rotationsverbünden und Kompetenzzentren sowie ein Karrieremodell für Ausbildungsverantwortliche. Mittelfristig wäre auch eine Zertifizierung von Ausbildungsstätten mit einem mehrstufigen System (Basis, Standard, Excellence) denkbar, um die Ausbildungsexzellenz weiter zu fördern.
Ein weiterer Aspekt, der bei einer Überarbeitung berücksichtigt werden sollte, ist die zunehmende Digitalisierung in der Medizin. Der kompetente Umgang mit digitalen Tools und die kritische Bewertung digitaler Gesundheitsdaten sollten fester Bestandteil der Ausbildung werden.
Die Österreichische Ärztekammer ist hier gefordert, diesen Prozess in Gang zu setzen und alle relevanten Stakeholder einzubeziehen – von den Fachgesellschaften über die Ausbildungsstätten bis hin zu den Ausbildungsärzt:innen selbst.
Vielen Dank für das Gespräch!