Nützt’s nix, schadet’s nix?

ARZT & PRAXIS: Sie leiten das Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung an der MedUni Graz. Welche Schwerpunkte haben Sie gesetzt?

Univ.-Prof. Dr. Siebenhofer-Kroitzsch: Das Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung (IAMEV) mit aktuell rund 20 Mitarbeitern wurde 2015 auf „Ground Zero“ neu gegründet und ist in den Bereichen Lehre der Allgemeinmedizin im Studium Humanmedizin, Versorgungsforschung und evidenzbasierte Medizin tätig, um die Qualität und Effektivität der medizinischen Versorgung in der Allgemeinmedizin zu verbessern und zu stärken. Das IAMEV fungiert als Drehscheibe und Schnittstelle zwischen den niedergelassenen Hausärzten und den Kliniken des Universitätsklinikums Graz und verfolgt den translationalen Forschungsansatz einer nachhaltigen Versorgungsforschung. Das Besondere an unserem Institut ist, dass praktisch tätige Hausärzte und Fachärzte, aber auch Wissenschafter aus verwandten Disziplinen wie Public Health, Gesundheitsmanagement, Psychologie und Life Sciences/Naturwissenschaften in einem Team zusammenarbeiten.

Welche Projekte zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in Österreich werden aktuell am Institut durch-geführt?

Mithilfe des multidisziplinären Teams verzahnt das IAMEV die evidenzbasierte Medizin mit der Versorgungsforschung. Dadurch sind beispielsweise evidenzbasierte Behandlungspfade für COPD, unspezifischen Rückenschmerz und Adipositas in der Primärversorgung oder die Initiative „Gemeinsam gut entscheiden“ („Choosing Wisely Austria“) und das Projekt EVI (Evidenzbasierte Informationen zur Unterstützung von gesundheitskompetenten Entscheidungen) entstanden. Allen gemeinsam ist das übergeordnete Ziel, Über- und Fehlversorgung entgegenzusteuern und die Gesundheitskompetenz in Öster-reich zu steigern. Was wir im Rahmen der Projekte Choosing Wisely und EVI umsetzen wollen, ist primär die Wissensaufbereitung, sowohl für Patienten als auch für Ärzte.

Medizin wird immer komplexer und damit unübersichtlicher. Kann man da überhaupt den Überblick bewahren und gleichzeitig evidenzbasiert arbeiten?

Sie haben recht, Medizin wird immer komplexer und es ist aus meiner Sicht unmöglich, den Überblick zu bewahren. Wir wissen, dass allein täglich in medizinischen Datenbanken wie PubMed Tausende neue Artikel gelistet werden. Wir können mit den bereits genannten Projekten nur kleine Puzzlesteine zum besseren Verständnis für saubere Medizin für unsere Ärzte, das Gesundheitspersonal und unsere Patienten liefern.

Wie soll man als Arzt den Informationserwerb grundsätzlich gestalten?

Nützen Sie möglichst viele Informationskanäle und lesen Sie nicht nur kostenfreie Streuzeitschriften, die sich über die Pharmaindustrie finanzieren, da auch wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass sich Empfehlungen für oder gegen eine Therapie maßgeblich von anzeigenfreien, meist kostenpflichtigen Zeitschriften unterscheiden. Daher empfehle ich dem zeitknappen Leser, beispielsweise das arznei-telegramm zu abonnieren, wo man innerhalb weniger Minuten einen objektiven Überblick über Neues in der Medizin quer durch viele Fachbereiche – gerade für die Allgemeinmedizin – erhält.

Sie sind Teil des Teams hinter der Plattform „Gemeinsam gut entscheiden – Choosing Wisely Austria“. Worum geht es bei diesem Projekt?

Choosing Wisely Austria – Gemeinsam gut entscheiden ist ein wissenschaftliches Kooperationsprojekt unseres Instituts an der Medizinischen Universität Graz und Cochrane Österreich am Department für EbM und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems, finanziert über die steirischen und niederösterreichischen Gesundheitsfonds und die Gesundheitskassen. Die Initiative leitet sich von der amerikanischen „Choosing Wisely“-Kampagne ab mit dem Ziel, Entscheidungen im klinischen Alltag zu unterstützen, die einer Überversorgung entgegenwirken. So sollen unnötige Tests und Behandlungen reduziert und die Arzt-Patienten-Kommunikation verbessert werden. Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass „mehr“ nicht immer „besser“ sein muss und dass die Feststellung „hilft’s nix, schadet’s nix“ so nicht stimmt.

Wie funktioniert das?

Wir Wissenschafter von den Institutionen stellen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Fachgesellschaften für die unterschiedlichen Fächer der Medizin die jeweils Top-5-Untersuchungen und -Behandlungen, die wenig Nutzen, aber viele Nachteile bringen können, (Empfehlungen gegen eine gezielte medizinische Maßnahme) zusammen und bündeln diese in einfach verständlichen Broschüren für Patienten. Mittlerweile haben wir bereits drei Broschüren jeweils gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Public Health (ÖGPH), der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) und der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) veröffentlicht, zwei weitere in Zusammenarbeit mit den Gynäkologen und den Nephrologen stehen vor der Fertigstellung.

Wie wählen Sie die Empfehlungen aus?

Wir filtern die vorhandenen Empfehlungen nach ihrem Evidenzgrad bzw. ihrer Qualität. Wenn sie sich qualifizieren, werden sie dem Vorstand einer bestimmten Fachgesellschaft vorgelegt, der dann eine Auswahl trifft. Damit unterscheiden wir uns von unseren US-amerikanischen Kollegen, die die Auswahl der Empfehlungen alleine den Fachgesellschaften überlassen.

Lassen Sie uns noch ein Projekt von Ihnen näher beleuchten. Was hat es mit EVI auf sich?

Beim steirischen Projekt EVI erhält die steirische Bevölkerung über Hausarztpraxen und Gesundheitszentren evidenzbasierte Gesundheitsinformationen, um ihnen eine informierte Gesundheitsentscheidung zu ermöglichen. Im Rahmen von EVI haben wir daher eine Sammlung von geprüften, evidenzbasierten Gesundheitsinformationen zusammengestellt und in 100 Praxen der Steiermark verteilt, die sowohl in Form einer Papierbox – der sogenannten EVI-Box – als auch elektronisch auf der EVI-Homepage verfügbar sind.

Was ist mit dem Begriff „Gesundheitskompetenz“ gemeint?

Eine allgemeine Definition lautet, dass Gesundheitskompetenz die Fähigkeit einer Person beschreibt, sich selbst Wissen anzueignen und damit Entscheidungen treffen zu können, die der eigenen Gesundheit förderlich sind. Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Menschen selbstständig die Gesundheit betreffende Informationen und Wissen aufnehmen, verarbeiten und umsetzen können.

Braucht es die Wissensvermittlung bereits in der Schule?

Ja, gerade in Schulen kann man viel erreichen, indem kritisches Denken gefördert wird. Seit 2018 existiert auch ein eigenes Schulprojekt mit Beteiligung unseres Instituts, das HELI-D (Health Literacy und Diversity) für Schüler der Sekundarstufe I, mit dem Ziel der Entwicklung eines Programms zur Förderung der Gesundheitskompetenz von Schülern mit hoher Diversität (wie Migrationshintergrund und/oder Behinderung). Gerade solche Schulprojekte sind wichtig und wir hätten viele Ideen für österreichische Schüler an der Hand, aber es fehlen uns die finanziellen Mittel hierzu. Wichtig ist natürlich auch die Einbindung der Universitäten, und die Themen Gesundheitskompetenz und evidenzbasierte Medizin (EbM) fließen kontinuierlich in alle unsere Vorlesungen und Seminare ein.

Ist die EbM heute angekommen bzw. schon Teil der klinischen Praxis?

Ich denke doch, dass mittlerweile bekannt ist, dass EbM keine „Kochbuchmedizin“ ist, sondern nur möglich ist, wenn Ärzte auch über sehr viel klinisch-praktische Erfahrung verfügen. Gleichzeitig sollte klar sein, dass gute ärztliche Arbeit ohne wissenschaftliche Basis nicht geleistet werden kann. Das Zeitalter reiner Fallberichte und der bestimmenden Eminenz im weißen Mantel ist hoffentlich vorbei.

Vielen Dank für das Gespräch!