Sexualmedizin – mit Fortbildung gegen die Ausbildungslücke

ARZT & PRAXIS: Frau Dr. Bragagna, Sie sind Ärztin für Allgemeinmedizin und Psycho­somatik sowie Psycho- und ­Sexualtherapeutin. Wie sind Sie zu Ihrem Spezialgebiet, der Sexualmedizin, gekommen?

Dr. Elia Bragagna: Früher hieß es, alle Sexualstörungen seien psychisch bedingt, deshalb machte ich während meines Medizinstudiums zunächst eine Psychotherapieausbildung und danach eine Fortbildung in Sexualberatung und Sexualpädagogik. Damals herrschte auch die Ansicht, Sexualstörungen seien psychosomatisch bedingt, und so erwarb ich ein Diplom für Psychosomatische Medizin. All das genügte aber nicht. Weil Sexualstörungen immer auch das Paar betreffen, ging ich an die Abteilung für Sexualforschung der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, um dort die Sexualtherapiefortbildung zu absolvieren.
Ab 2002 leitete ich die Sexualambulanz für Frauen und Männer im Wilhelminen­spital in Wien und merkte, dass meine bisherigen Ausbildungen sehr psycholastig waren und mir wichtiges sexualmedizinisches Wissen fehlte. In der Vergangenheit wurde oft ausgeblendet, dass viele Erkrankungen, Medikamente oder Operationen Sexualstörungen verursachen können. Also begann ich, mich selbst zu schulen, internationale Tagungen zu besuchen, mich mit Kollegen auszutauschen. Das Ganze gipfelte 2004 in der Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Sexualmedizin (ASSM) und der Akademie für Sexuelle Gesundheit (AfSG) 2009.

Zur Akademie für Sexuelle Gesundheit:
Was steckt dahinter?

Meine Intention bei der Gründung der AfSG war es, „sexuelle Gesundheit“ gemäß den Empfehlungen der WHO (2000) für alle Menschen zugänglich zu machen. Dazu gehört in erster Linie auch, Ärzte durch entsprechende Aus- und Weiterbildung zu befähigen, sich um die sexuelle Gesundheit ihrer Patienten zu kümmern. Ärzte müssen wissen, welche Erkrankungen, Stressoren, Operationen, Therapien und medikamentöse Behandlungen Sexualstörungen verursachen können, um diese verhindern oder zumindest beheben zu können. Zum Teil wussten die Patienten mehr als die Ärzte – deshalb dachte ich mir, dass man die Ärzte besser schulen müsste.

Wird das Thema sexuelle Gesundheit in der Ausbildung nicht ausreichend behandelt?

Nein, überhaupt nicht! Wir Ärzte lernen das an der Uni nicht, werden praktisch ohne sexualmedizinisches Wissen entlassen. In Wien bieten jetzt Kollegen, die die AfSG bereits absolviert haben, einen Block an, in dem Basiswissen zur Sexual­medizin vermittelt wird. Alle anderen lernen das gar nicht.
Stellen Sie sich vor, Sie operieren und wissen nicht, ob Sie dabei vielleicht bestimmte für Sex wichtige Nerven oder Gefäße zerstören! Oder Sie verabreichen Medikamente und leiten Therapien ein, die Sexualstörungen verursachen können. Darüber hinaus müssten Ärzte vor allem kontrasexuelle Erkrankungen erkennen – ein bekanntes Beispiel: ­Diabetes – und die Patienten darauf ­hinweisen, dass ihre Erkrankung mit Störungen der Sexualität einhergehen kann und was man dagegen machen kann.

Im Bereich der Fortbildung tut sich aber einiges?

Die Ausbildungsinhalte der AfSG ­wurden mittlerweile von der Ärzte­kammer, sprich, der Österreichischen Akademie der Ärzte, übernommen und in ein Zertifikat bzw. ein Diplom für Sexualmedizin übergeführt. Die Ärztekammer hat zum Glück die Wichtigkeit dieses Spezialgebietes erkannt, das heute bereits im Bewusstsein vieler Ärzte ist.
Am liebsten wäre mir aber, dass es diese Fortbildung gar nicht braucht und die Ärzte schon an der Universität eine gute Ausbildung in diesem Bereich bekommen. Turnusärzte hätten im Krankenhaus, wo sie mit schwer kranken Patienten und verschiedensten kontra­sexuellen Erkrankungen konfrontiert sind, die besten Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln. Ab wann darf ­jemand, der einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hatte, wieder Sex haben? Mit welchen Konsequenzen für die ­Sexualität ist nach einer Bestrahlung des kleinen Beckens zu rechnen? Solche Sachen muss ein Arzt wissen! Ärzte in Ausbildung sollten das im Krankenhaus lernen und üben können, sodass sie hinterher nicht gezwungen sind, privat für entsprechende Fortbildungen zu zahlen.

Wer ist das Zielpublikum für das ­Zertifikat „Basismodul Sexualmedizin“?

Prinzipiell alle Ärzte. Das ÖÄK-­Zertifikat vermittelt sexualmedizinisches Basiswissen und befähigt die Absolventen, angstlos und seriös mit dem Thema umzugehen. Kontrasexuelle Erkrankungen, Operationen und Medikamente, die zu Sexualstörungen führen, werden besprochen und es wird aufgezeigt, wie man diese beheben und den Patienten helfen kann.
Das Zertifikat kann man in der Regel in einer viertägigen Präsenzveranstaltung erlangen. Vorab sind bestimmte Basisinhalte über einen E-Learning-Teil, bestehend aus Fachartikeln und Fachfilmen, zu erarbeiten. Vor Ort werden dann reale Szenarien geübt: Wie erhebe ich eine Sexual­anamnese, und zwar in der Zeit, die mir zur Verfügung steht? Das sind in der Praxis oft nicht mehr als zehn ­Minuten. Sexualpädagogen erklären die sexuelle Entwicklung von ­Jugendlichen und welche Störungen hier vorkommen können. Ebenfalls besprochen wird, was ein Arzt bei Verdacht auf sexuelle Übergriffe tun kann bzw. tun sollte. Weitere Inhalte sind natürlich ganz klassisch die männlichen und weiblichen Sexual­störungen, aber auch die Paraphilien. Schmerzhafter Geschlechtsverkehr ist beispielsweise auch einer der Schwerpunkte. Das wird in der Realität kaum gut behandelt: 60 % der Frauen konsultieren mehr als drei Ärzte, ehe sie Hilfe finden.

Für wen eignet sich das ÖÄK-Diplom „Sexualmedizin“?

Voraussetzung für das Spezialdiplom sind das ÖÄK-Zertifikat „Basismodul Sexualmedizin“ sowie das Diplom „Psychosoziale Medizin“ (PSY I), denn ohne Kenntnisse der psychosozialen Zusammenhänge macht die Spezialisierung keinen Sinn. Das Diplom nimmt zweieinhalb Jahre in Anspruch. Ein Diplomkurs mit 19 Teilnehmern wurde bereits durchgeführt und abgeschlossen. Der nächste Kurs wird voraussichtlich 2017 starten, je nachdem, wie viele Ärzte sich dafür interessieren. Die Teilnehmerzahl ist mit maximal 30 limitiert.
Das Zertifikat wird hingegen jedes Jahr im Rahmen der „Sexualmedizinischen Woche“ angeboten, die heuer vom 12. bis 17. September in Wien stattfinden wird.

Was hat die „Sexualmedizinische Woche“ abseits des Zertifikats zu ­bieten?

Parallel und unabhängig vom ÖÄK-Zertifikat „Basismodul Sexualmedizin“ gibt es heuer jeden Tag einen Workshop in Zusammenarbeit mit ausgewählten Fachdisziplinen. Einmal geht es z. B. um Sexualmedizin in der Onkologie, wo die Auswirkungen onkologischer Erkrankungen auf die Betroffenen und auf die Sexualität sowie die Behandlung dieser Sexualstörungen thematisiert werden. Ein anderer Workshop beschäftigt sich mit praxisnaher Sexualmedizin aus der Sexualpädagogik. Auch sexualmedizinische Aspekte aus der Inneren Medizin sind Thema eines Workshops. Hier werden praktische Fragen beantwortet: Wie kann man Patienten medikamentös so einstellen, dass erst gar keine Sexual­störungen entstehen? Wie können Blutgefäße geschont werden? Wie geht man mit Herzpatienten und Sexualstörungen um? Außerdem gibt es noch Workshops zur Sexualmedizin aus der Urologie und zur Sexualmedizin aus der Gynäkologie.

Welche anderen Fortbildungs­veranstaltungen würden Sie an ­Sexualmedizin interessierten Kollegen empfehlen?

Sicherlich zu empfehlen sind die Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Sexualmedizin (ESSM) sowie der Sexologen-Kongress der European ­Federation of Sexology (EFS). Diese finden jedes Jahr in einem anderen ­europäischen Land statt. Das Schöne an solchen internationalen Kongressen ist die Möglichkeit zur Vernetzung und man trifft dort wirklich die führenden ­Experten auf dem Gebiet der Sexual­medizin.

Welche relevanten Fortbildungs­-formate gibt es abseits von Präsenz­veranstaltungen?

Wie schon gesagt, müssen als Vorbereitung für das Zertifikat grundlegende theoretische Inhalte mittels E-Learning- Fortbildung erarbeitet werden. Hier gibt es bereits verschiedene DFP-Angebote und weitere Inhalte werden derzeit zusammengestellt. Geplant sind z. B. eine Übersicht über die verschiedenen Sexualstörungen sowie ein Beitrag darüber, wie verschiedene ­Erkrankungen Sexualstörungen auslösen können.
So ist es beispielsweise wichtig, dass ein Arzt versteht, was eine Querschnitts­lähmung, bei der wichtige Nerven durchtrennt wurden, für die Sexualität von Patienten bedeutet. Was können diese Patienten sexuell noch? Häufig betroffen sind junge Männer – die kann man mit dieser Situation nicht alleine lassen. Sie müssen lernen, ihren Körper neu zu entdecken. Ähnliches gilt für junge Frauen mit Multipler Sklerose, deren Körpergefühl sich im Zuge der Erkrankung zum Teil verändert; sie können schmerzempfindlicher werden oder auch stumpfer. Auch sie müssen neu lernen, mit ihrem Körper umzu­gehen, und brauchen dazu Hilfe von Ärzten, die vor allem keine Angst haben, über dieses Thema zu sprechen.

Warum engagieren Sie sich persönlich im Bereich der Fortbildung?

Weil ich erlebt habe, wie schrecklich es ist, wenn Patienten keinen kompetenten Ansprechpartner haben. Bevor ich mich massiv an die Medien gewandt habe, wussten viele Patienten nicht, wohin sie sich mit ihren Beschwerden wenden können. Die meisten werden nicht ­einmal darüber aufgeklärt, dass durch bestimmte Operationen oder die Einnahme von Antidepressiva ihre Sexualität gestört werden kann. Und wenn sie sich an einen Arzt wenden, wird ihnen oft gesagt, dass sie eigentlich gar nichts haben.
Die Universität hat hier versagt und lässt Ärzte ohne sexualmedizinisches Wissen auf Patienten los. Zwei Hilflose stehen einander gegenüber – das ist nicht nur für die Patienten schlimm, sondern auch beschämend für die Ärzte. Ich sehe es als meine Verpflichtung an, hier zu helfen und Fortbildung zu betreiben.

Was kennzeichnet Ihrer Meinung nach eine gute Fortbildung?

Eine gute Fortbildung vermittelt Inhalte so, dass sie in die Realität, in die Praxis umsetzbar sind. Es ist zwar nett, viele Daten und theoretische Konzepte präsentiert zu bekommen, aber wenn es für den Alltag nichts bringt, ist das wenig sinnvoll.

Wie bilden Sie sich persönlich am liebsten fort?

Ich gehe schon gerne zu großen wissenschaftlichen Kongressen, wo neue Forschungsergebnisse präsentiert werden, und überlege mir dann, inwiefern das für meinen praktischen Alltag von ­Relevanz sein könnte. Ich mag also das Wissenschaftliche, aber auch das Praktische – am liebsten eine gute Mischung aus beidem. Häufig lese ich auch Original­publikationen. DFP-Literaturstudium und E-Learning mache ich ebenfalls gerne, der Vorteil liegt hier für mich in der freien Zeiteinteilung, das ist mir wichtig. In Zukunft möchte ich mich auch mehr mit dem Thema Fortbildung am Handy beschäftigen. Das stelle ich mir praktisch vor, z. B. beim Zugfahren.

Das Jahr 2016 steht beim MedMedia Verlag unter dem Motto „Wertschätzung und Anerkennung“. Was verbinden Sie als Ärztin mit diesen Schlagworten?

Wertschätzung bedeutet für mich, in der eigenen Arbeit gesehen zu werden, ­etwas bewirken zu können. Mit einer Sexualstörung umzugehen erfordert von meinen Patienten viel Veränderung und Vertrauen. Wenn ich also sehe, dass meine Patienten mit meiner Begleitung weiterkommen, dann fühle ich mich wertgeschätzt.