Von Cholera bis COVID

Die Gesellschaft der Ärzte in Wien – aus Tradition aktuell
ARZT & PRAXIS: Was sind die wesentlichsten Aufgaben bzw. Ziele der Gesellschaft der Ärzte?

Univ.-Prof. Dr. Beatrix Volc-Platzer: Die Hauptaufgabe der Gesellschaft hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1837 nicht wesentlich geändert: Austausch von Erfahrung, Information und Wissen. Initial war es eine Seuche, die zur Gründung geführt hat – die Cholera. Es sind oft die großen, eine Gesellschaft bedrohenden Probleme, die zur Etablierung solcher Wissensgemeinschaften führen. Damals wurde in vielen, heute selbstverständlichen Bereichen Pionierarbeit geleistet. So geht beispielsweise die Gründung des ersten chemisch-pathologischen Laboratoriums im Allgemeinen Krankenhaus auf die Initiative unserer Gesellschaft zurück, und zwar als Ausdruck der Aufgeschlossenheit und der Haltung in Fragen des wissenschaftlichen Fortschritts. Innovationen dieser Größenordnung werden wohl nicht mehr so leicht gelingen; der frühe Aufbau einer Infrastruktur, mit der wir unsere Präsenzveranstaltungen online zugänglich machen konnten, ist aber ein gutes Beispiel für den weitergetragenen Gedanken hinter der Gesellschaftsgründung. Dementsprechend sind wir auch auf Social Media gut aufgestellt: Man findet uns auf Facebook, Twitter, Instagram oder auch auf YouTube.

Die Gesellschaft der Ärzte in Wien bietet eine breite Fortbildungspalette. Wie beurteilen Sie vor allem in dieser Hinsicht das letzte, von der Pandemie geprägte Jahr?

Das letzte Jahr hat uns – wie so vielen – sehr zu schaffen gemacht. Es hat aber auch Stärken in den Strukturen unseres Hauses zutage gefördert, wie diese Pandemiesituation ja auch insgesamt Stärken und Schwächen innerhalb einer Gesellschaft offenbart. Unser Vorteil ist, dass wir seit den 1990er-Jahren den konsequenten Aufbau eines E-Learning-Programms mit der entsprechenden technischen Infrastruktur forciert haben, denn Freitag, der 13. März 2020, war wirklich der Black Friday für die Präsenzveranstaltungen im Billrothhaus. Nach einer kurzen Schreckstarre konnten wir aber die nun nicht mehr durchführbaren Präsenzveranstaltungen ziemlich rasch kompensieren und zunehmend mehr Webinare anbieten. Beginnend mit dem Wintersemester hatten wir einen deutlichen Anstieg an Webinarteilnehmern zu verzeichnen. Wir haben einen COVID-19-Schwerpunkt entwickelt. Wirklich gut gelungen ist uns das COVID-19-Update – Meet the Experts. Mastermind war hier Sylvia Knapp, die auch Vizepräsidentin der Gesellschaft ist. Vortragende Experten des ersten Webinars zu diesem Thema waren Christoph Wenisch, Günter Weiss, Barbara Friesenecker und Thomas Staudinger. Letztlich haben wir unsere Zuhörerzahl durch die COVID-Situation verdoppelt bis verdreifacht. Rezent hatten wir im Rahmen unseres COVID-19-Updates eine Veranstaltung mit Florian Krammer, der aus dem Mount Sinai Hospital zugeschaltet war und mit Sylvia Knapp von der MedUni Wien sprach. Die Technik dafür war indes hier im Haus angesiedelt. Und wir schaffen es auch, Webinare sehr lebhaft zu gestalten. Das elektronische Format bietet hier durch die Chatfunktion sogar einen gewissen Vorteil: So können etwa Fragen durch einen erfahrenen Moderator gesammelt, neu formuliert weitergegeben und daher in größerer Zahl beantwortet werden.Ein Highlight des letzten Jahres war der Festvortrag von Josef Penninger zur Jahreshauptversammlung am 28. Oktober 2020, die uns noch als Hybridveranstaltung gelungen ist; er selbst hat über eine Stunde gesprochen und ebenso lange wurde noch diskutiert, was beides für einen Festvortrag sehr unüblich ist und das enorme Interesse widerspiegelt.

Was zeichnet das Fortbildungsangebot der Gesellschaft aus?

Die Idee der interdisziplinären Vernetzung, des Informationsaustausches, des Wissenstransfers, sowohl für die Studenten als auch für Ärzte in Ausbildung und für alle, die praktisch oder in der Forschung tätig sind. Das gelingt am besten über unsere hauseigenen Veranstaltungen, bei denen das angeregte Diskutieren ein wichtiger Bestandteil ist. Unterstreichen möchte ich auch den Brückenschlag zur Forschung, der u. a. durch den intensiveren Kontakt mit der Medizinischen Universität Wien ermöglicht wird. Unser Anspruch ist es, dass sich jedes Mitglied im Angebot der Gesellschaft wiederfindet. Wir befinden uns allerdings in einem Spannungsfeld: Wir müssen uns in einem Feld zwischen Ärztekammer, Akademie der Wissenschaften, den medizinischen Universitäten und einem Wildwuchs an Fortbildungsveranstaltungen, die von unterschiedlicher Seite angeboten werden, behaupten.

 

 

Wer kann Mitglied werden?

Man kann bereits als Student eine Studentenmitgliedschaft, die übrigens kostenlos ist, erwerben. Ordentliche Mitglieder sind Ärztinnen und Ärzte, die auch bei der Generalversammlung stimmberechtigt sind. Darüber hinaus können Absolventen unterschiedlicher Studien wie der Naturwissenschaften, aber auch Historiker oder Absolventen der Pflegewissenschaften außerordentliche Mitglieder werden. Zudem gibt es fördernde Mitgliedschaften und Firmenmitgliedschaften sowie Mitgliedschaften von Fachgesellschaften.

Wie ist es um den Nachwuchs bestellt?

Ich würde sagen, wir sind auf einem guten Weg. Wenn man sich die Mitgliederverteilung nach Altersgruppen in Zehnerschritten ansieht, dann ist der größte Teil zwischen 51 und 60 Jahre alt. Die zweitgrößte Gruppe sind bereits die unter 30-Jährigen. Zudem ist unsere Mitgliederzahl gerade im letzten Jahr deutlich gewachsen: Wir hatten vor der Pandemie zwischen 2.700 und 2.800 Mitglieder, aktuell liegen wir bei knapp 3.000.

Wie finanziert sich die Gesellschaft der Ärzte in Wien?

Den Grundstock bilden die Mitgliedsbeiträge. Zu einem sehr guten Teil finanzieren wir uns aus den Vermietungen des Billrothhauses für medizinische, aber auch kulturelle Veranstaltungen, wie z. B. Konzerte. Wir haben unser Haus aber auch schon an Filmgesellschaften vermietet. Die ausbleibenden Präsenzveranstaltungen waren daher für die Gesellschaft ein bedeutender finanzieller Verlust. Die Gesellschaft ist Eigentümerin des Billrothauses, einer denkmalgeschützten, unbelasteten Liegenschaft, die hin und wieder Begehrlichkeiten von Investoren weckt; es ist aber das klare Ziel der Gesellschaft, dieses Haus zu erhalten. Zudem arbeiten wir momentan an unserem Status als spendenbegünstigte Organisation.

Es gibt immer wieder Vorschläge, Mediziner zum Dienst an der Öffentlichkeit zu bewegen bzw. sogar zu verpflichten. Jüngstes Beispiel sind privatordinierende Ärzte in Griechenland, die im Rahmen der Pandemie in Spitälern zur Arbeit herangezogen werden. Was halten Sie von solchen Vorstößen?

Im Grunde genommen ist der Entschluss, als Arzt tätig zu sein, auch eine Einstellungssache und eine Frage der Haltung. Es gibt ja auch viele Kollegen, die ihre Zeit und ihr Wissen einsetzen, um in Entwicklungsländern medizinisch zu helfen. Wenn ich gebraucht werde, habe ich ärztlich zu handeln, genau wie in einer Erste-Hilfe-Situation. Das von Ihnen angeführte Vorgehen halte ich also für durchaus legitim. Man darf ja auch nicht vergessen, dass unser Studium vom Staat bzw. vom Steuerzahler ermöglicht wurde.

Wäre angesichts vieler Absolventen, die ins Ausland abwandern, auch die Verpflichtung, nach dem Medizinstudium eine Zeit lang hier in Österreich ärztlich tätig zu sein, denkbar?

Auch das ist eine Frage, die durchaus gestellt werden darf, wenn es die Situation erfordert. Zur Problematik, dass die jungen Kollegen aufgrund der besseren Ausbildungssituation ins Ausland gehen, ist zu sagen, dass man natürlich ein gutes Ausbildungskonzept bieten muss. Das ist nicht einfach und geht nicht nebenbei, sondern hier sind die Ausbildner und natürlich auch die Abteilungsleiter gefordert. Wir haben im Donauspital 2013 einen Ausbildungskatalog erstellt, der dann von vielen Abteilungen übernommen wurde. Die Gewährleistung einer guten Patientenversorgung, einer korrekten dienstrechtlichen Situation und der guten Ausbildung ist eine große Herausforderung und macht das Primariat zu einem Fulltime-Job. Es geht bei der Ausbildung nicht um das Wissensniveau der Ausbildner (das ist im Allgemeinen sowieso hoch), sondern um die strukturierte Wissensvermittlung.

Gibt es überhaupt genügend Ressourcen bei den ausbildenden Ärzten?

Das ist eine Frage der Personalbesetzung. Der Ausbildungsverantwortung muss auch im Personalplan Rechnung getragen werden.

Sie haben von 2001 bis 2020 die Abteilung für Dermatologie im Donauspital in Wien geleitet. Man bekommt manchmal den Eindruck, dass die Erlangung eines Primariats als nicht mehr so attraktiv wahrgenommen wird wie früher …

Die Gestaltungsräume sind kleiner geworden. Es ist viel Organisatorisches und Administratives hinzugekommen. Dazu hat auch die Digitalisierung beigetragen, insbesondere der Übergang von analog zu digital ist schwierig. Entsprechende Programme weisen oft Kinderkrankheiten auf, das bindet viel Zeit und man fragt sich dann schon: Was mache ich noch von dem, wofür ich ausgebildet und angetreten bin? Die Leitung einer Abteilung erfordert sehr viel Engagement und persönlichen Einsatz, darüber muss man sich im Klaren sein. Daher ist es wichtig, sich Freiräume zu erkämpfen und Abläufe, soweit möglich, zu vereinfachen. Und Mitarbeiter an ihre Aufgaben heranzuführen und dieselben natürlich auch zu delegieren. Wenn man die Leute selbst gut ausbildet, ihnen eine gute, nicht unbedingt nur medizinische Fort- und Weiterbildung ermöglicht, stellt man auch sicher, dass die Fachärzte wiederum die Turnus- und Assistenzärzte gut ausbilden. Betonen möchte ich aber auch, dass gute Ausbildung nicht nur eine Bring-, sondern auch eine Holschuld ist.

Sie sind die erste Präsidentin der Gesellschaft der Ärzte. Frauen besetzen in Österreich zwar zunehmend Leitungspositionen, sind aber noch deutlich in der Minderheit, auch in der Medizin. Braucht es Ihrer Meinung nach gesonderte Maßnahmen, um diesem Umstand zu begegnen?

Ich würde das gar nicht so sehr betonen; die erste Frau hier, die erste Frau da … Man muss allerdings schon sagen, dass die Gesellschaft der Ärzte länger keine weibliche Führungsperson gehabt hat, als die Wiener Philharmoniker gebraucht haben, um die erste Frau aufzunehmen. Aber auch in den Gremien der Gesellschaft der Ärzte und nicht nur im Präsidium sind durchaus einige Frauen vertreten. Im Grunde genommen geht es mir aber nur um den Dienst an der Sache, weshalb ich das Amt der Präsidentin auch erst jetzt im Ruhestand übernommen habe. Es ist jedenfalls ein gutes Zeichen, dass einmal eine Frau Präsidentin ist, denn so wird vielleicht auch die Situation in der Medizin insgesamt besser abgebildet. Ich glaube allerdings, dass man sich, was die Gleichberechtigung und die Chancengleichheit betrifft, schon ein bisschen zurücklehnen kann. Die Gesellschaft ist auf einem guten Weg, auch was Frauen in Führungspositionen betrifft. Ein aktuelles Beispiel ist der Umstand, dass die in den letzten Jahren berufenen Ordinarii der MedUni Wien überwiegend Frauen sind. Dass die Infrastruktur, die mit der Medizin aber nichts zu tun hat, verbessert werden könnte, ist klar. Ich glaube aber, wir sind insgesamt auf einem sehr guten Weg. Was Frauen, die Führungspositionen anstreben, allerdings bewusst sein muss: Der Einsatz ist sehr hoch, auch bei guter Infrastruktur. Kurz gesagt: Frauen ohne Familie haben meines Erachtens die gleichen Chancen wie Männer. Mit Familie wird man eine gewisse Doppelbelastung immer in Kauf nehmen müssen. Wobei ich bei der mir nachfolgenden Generation durchaus sehe, dass Väter zunehmend Aufgaben im Sinne einer partnerschaftlichen Aufteilung übernehmen. Bei mir selbst war genau das vor mittlerweile 35 Jahren der Fall – damals allerdings noch eine rare Ausnahme.

Haben Sie noch ein Anliegen, das Sie abschließend gerne thematisieren würden?

Bei Durchsicht der wichtigsten Werke der wertvollen historischen Bibliothek, die z. B. den Lancet – von der ersten Ausgabe bis heute lückenlos – oder die Erstausgabe der Traumdeutung von Sigmund Freud enthält, ist mir die Idee zu einer Veranstaltung gekommen, die am 12. November 2021 stattfinden wird und die ich an dieser Stelle gerne vorstellen würde. Der Titel lautet „Lust und Seuche: von Paracelsus bis Anthony Fauci“. Parallel zu einer hochkarätig besetzten Fortbildungsveranstaltung wird es eine Ausstellung mit einzelnen Büchern geben, eventuell ergänzt durch Exponate aus der Nitze-Leiter-Sammlung, die eine der größten Endoskopie-Sammlungen weltweit darstellt. Es soll um die (Kultur-)Geschichte der sexuell übertragbaren Erkrankungen gehen, aber auch um die dermatologisch-venerologischen Aspekte von COVID-19. Die Veranstaltung wird in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für sexuell übertragbare Erkrankungen und dermatologische Mikrobiologie (ÖGSTD) unter ihrem derzeitigen Präsidenten Georg Stary durchgeführt.

Vielen Dank für das Gespräch!