Zwei Welten, die sich (nicht) verstehen

ARZT & PRAXIS: Herr Dr. Joklik, warum haben Sie sich auf den Bereich Medizinrecht spezialisiert?

Dr. Andreas Joklik: An und für sich habe ich in einer Wirtschaftskanzlei begonnen, wo ich primär gesellschaftsrechtliche Themen bearbeitet habe. Am Beginn meiner anwaltlichen Laufbahn hat sich das Thema der Gruppenpraxen etabliert. Über das Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht und über diesen Themenkreis habe ich mich dann auf den medizinischen Bereich spezialisiert, weil ich gesehen habe, dass hier deutlicher Beratungsbedarf besteht. Über die Bereiche der Gesellschaftsgründungen und medizinischen Fragestellungen kommt man dann automatisch zu anderen Rechtsfragen, insbesondere in den Haftungsbereich. Zufällig habe ich dann auch eine Ärztin geheiratet und somit war der Weg quasi vorgezeichnet.

Mit welchen Fällen haben Sie im Bereich des Medizinrechts am häufigsten zu tun?

Zum einen habe ich mit dem klassischen Arzthaftungsrecht zu tun, wobei ich betonen muss, dass ich ausschließlich die Behandlerseite berate und vertrete. Zum anderen bin ich im vergleichsweise neuen Bereich der Partnerschaften tätig, bei dem es darum geht, wie Ärztinnen und Ärzte zusammenarbeiten können. Wesentliche Themenschwerpunkte sind dabei vor allem Gruppenpraxen, aber auch die neuen Primärversorgungseinheiten – zusätzlich besteht hier ja nun auch die Möglichkeit der Anstellung von Ärztinnen und Ärzten untereinander, die seit Ende 2019 praktisch relevant ist.

Das war ja nicht unumstritten, gerade von Kammerseite her …

Eine Sorge der Standespolitik war beispielsweise – nicht ganz zu Unrecht –, dass sich, wenn Ärzte andere Ärzte anstellen können, große Einheiten herausbilden; mit der Konsequenz, dass der junge, nachkommende Arzt nur noch die Möglichkeit hat, sich im Krankenhaus oder in einer dieser großen, neu geschaffenen Einheiten anstellen zu lassen. Und im Bereich der Radiologie zum Beispiel ist es – aus anderen Gründen – in der Vergangenheit tatsächlich auch so gekommen. Daher kamen Zweifel von verschiedener, zum Teil auch der Kammer- und Kassenseite her auf, wobei ja nicht alle mitgezogen haben; die Zahnärztekammer hat bis dato bei der Anstellungsmöglichkeit nicht mitgezogen.

Welche Ärztegruppe ist erfahrungsgemäß am gefährdetsten, wenn es um Klagen geht?

Aus meiner Sicht sind es all jene, die sich im Bereich der Schönheitsmedizin bewegen. Der Patient kommt mit einer gewissen Erwartung, die oftmals nicht erfüllt wird und auch nicht werden kann. Dann wird der Behandelnde oftmals zu Unrecht geklagt, weil das Ergebnis nicht der Vorstellung des Patienten entspricht.
Ansonsten sind natürlich eher die chirurgischen Fächer gefährdet; das trifft dann genauso die HNO, die Gynäkologie usw., also alle Bereiche, wo operiert wird.
Wobei Haftung immer zwei Schienen bedeutet: strafrechtliche Haftung und zivilrechtliche Haftung. Die zweite Schiene, die zivilrechtliche Haftung – und dazu gehört vor allem der Schadenersatz –, ist die in der anwaltlichen Praxis viel häufiger vorkommende. Schadenersatzklagen werden einerseits wegen angeblicher Fehlbehandlung oder – der häufigste Fall – wegen eines angeblichen Aufklärungsfehlers eingebracht.

Umgekehrt: Welche Patientengruppen sind besonders „klagefreudig“?

Eine der Komponenten, die die Anzahl der Prozesse im medizinischen Bereich hat steigen lassen, ist die Gruppe der rechtsschutzversicherten Patienten. Normalerweise trägt man bei einem Schadenersatzfall als Kläger das Prozesskostenrisiko. Man muss im Falle, dass man das Verfahren verliert, nicht nur die eigenen, sondern auch die gegnerischen Anwaltskosten sowie die Gerichtskosten tragen. Dieser Umstand hat natürlich einen gewissen abschreckenden Charakter. Das hat durchaus einen Grund, denn es soll aus Sicht des Gesetzgebers wirklich nur in Fällen geklagt werden, wo es ein entsprechendes Substrat gibt. Die Rechtsschutzversicherung nimmt dem Patienten dieses Risiko. In der Medizin steht bei Prozessbeginn selten fest, ob es zu einem Behandlungsfehler oder – noch problematischer – zu einer Aufklärungspflichtverletzung gekommen ist. Im zweiten Fall steht dann häufig Aussage gegen Aussage. Der Faktor Rechtsschutzversicherung hat die Klagefreudigkeit meiner Ansicht nach in den letzten Jahrzehnten gesteigert. Um einen Fußballvergleich heranzuziehen: Für den rechtsschutzversicherten Patienten ist das wie ein Elfmeter ohne Tormann; er kann ja einmal versuchen, den Ball zu versenken – ohne jegliches Risiko.
Darüber hinaus gibt es einfach Personen, darunter auch Patienten, die über ein sogenanntes „verdichtetes Rechtsbewusstsein“ verfügen, und gerade bei ärztlichen Behandlungen gibt es selten aus wissenschaftlicher Sicht ein ganz eindeutiges Richtig oder Falsch.

Sollte man sich angesichts dieser Aussichten bereits bei der Ordinationsgründung nach einer Rechtsvertretung umsehen?

Natürlich kann ich darauf gar nicht anders antworten als mit einem klaren „Ja“ – aber ich meine es auch so! Nämlich aus folgenden Gründen: Einerseits wollen Ärztinnen und Ärzte heutzutage – Stichwort Work-Life-Balance – nicht alleine eine Ordination gründen. Wenn ein Standort übernommen wird, egal, ob alleine oder in Form einer Gruppenpraxis, braucht es für den Gründungsakt (der Gesellschaft) und den damit einhergehenden Kaufvertrag des Ordinationsstandortes auf jeden Fall eine Rechtsbegleitung. Als Käufer einer Ordination tritt man, vereinfacht gesagt, automatisch in sämtliche Rechte und Pflichten des Veräußerers ein; so müssen beispielsweise alle Arbeitsverhältnisse übernommen werden, es kann mietrechtliche Fragestellungen geben etc. Ich hatte beispielsweise einen Fall, bei dem nach der Übergabe der Ordination eine Pensionszugabe an einen Mitarbeiter aufgetaucht ist, in die der Nachfolger eintreten musste. Wie erwähnt, ist ein ebenfalls sehr wichtiges Thema in diesem Zusammenhang das Mietrecht, das in Österreich besonders komplex ist.

Seit 2011 ist die Haftpflichtversicherung für freiberuflich tätige Ärzte Pflicht. Ist sie auch für angestellte Ärzte sinnvoll?

Auch hier eine ganz klare Antwort: definitiv ja! Einfaches Praxisbeispiel: Sie sind angestellter Assistenzarzt in einem Krankenhaus. Es herrscht der landläufige Glaube, dass man hinsichtlich etwaiger Klagen sicher ist, wenn man angestellt ist, und dass der Krankenanstaltsträger haftet. Das stimmt so nicht, denn der Patient hat zwei Möglichkeiten: Er kann denjenigen auf Schadenersatz klagen, mit dem der Behandlungsvertrag besteht – das ist der Rechtsträger der Krankenanstalt. Er kann aber durchaus auch direkt – über die sogenannte deliktische Haftung – denjenigen klagen, der ihm den Schaden zugefügt hat, und das ist dann die Ärztin oder der Arzt selbst. Anwälte von Patienten klagen oftmals gleich beide, sodass beide solidarisch für den Schaden haften. Wir sehen in der Praxis, dass dieser Weg zunimmt, einfach auch aus prozesstaktischen Gründen mit der Intention, einen Keil zwischen Krankenhausträger und Behandler zu treiben, ganz nach dem Motto: „Jeder ist sich im Extremfall dann doch selbst der Nächste.“
Weiteres Ungemach droht der Ärztin oder dem Arzt in diesem Beispiel durch einen zumindest rechtlich – wenn auch eingeschränkt – möglichen Regress des Arbeitgebers am Arbeitnehmer.
Einschränkend muss man in diesem Fall dazusagen, dass der Regress insbesondere in öffentlichen Spitälern so gut wie nicht vorkommt, auch weil es politisch nicht opportun ist. Zudem gibt es für kleinere Schadenersatzfälle eine Art Schutz, das Dienstnehmerhaftpflichtgesetz, das darauf abzielt, dass der Arbeitgeber nicht jeden kleinen vom Angestellten verursachten Schaden von ebenjenem zurückverlangen kann. Bei größeren Schadensfällen, gerade wenn grobe Fahrlässigkeit im Spiel ist, ist der Regress aber durchaus denkbar.
Worauf ich in diesem Zusammenhang gerne noch hinweisen würde: Eine abgeschlossene Versicherung sollte nicht nur die Haftpflicht, sondern auch den Strafrechtsschutz beinhalten. Wenn einem Arzt ein so schwerwiegender Fehler unterläuft, dass damit eine strafbare Handlung wie beispielsweise eine Körperverletzung verbunden ist, wird der Betroffene nicht nur auf Schadenersatz geklagt, sondern – wie bereits erwähnt – auch vom Staat verfolgt (das ist die erwähnte strafrechtliche Schiene). Ist das der Fall, bekommt man auch im Falle eines Freispruchs nicht alle Anwaltskosten ersetzt. Deswegen ist ein Versicherungspaket sinnvoll, das auch die strafrechtliche Komponente abdeckt, zumal sich die zusätzlichen Kosten in einem durchaus überschaubaren Rahmen bewegen.

Bleiben wir gleich beim Jungmediziner: Hatten Sie schon einmal einen Fall von Einlassungsfahrlässigkeit?

Ja, da hatten wir einige, und zwar ganz klassisch, wie in der Frage angedeutet, in der Ausbildungssituation, wo einem in Ausbildung befindlichen Arzt eine Aufgabe übertragen wird, die er eigentlich alleine noch nicht durchführen dürfte. Das ist insbesondere im Operationsbereich ein wiederkehrendes Problem. Ein anderes Feld sind schönheitsmedizinische Eingriffe, bevor es das relativ junge ästhetische Operationsgesetz gab. Dieses Gesetz regelt jetzt den Umgang mit Schönheitsoperationen. Davor durfte jeder entsprechende Eingriffe durchführen, der dazu die Befähigung hatte. Nachdem in Österreich der Allgemeinmediziner mit dem Ius practicandi sozusagen die größte Befähigung hat, haben viele Allgemeinmediziner in ihrer Ordination ambulante schönheitsmedizinische Eingriffe vorgenommen. Wenn ein Arzt eine Aufgabe übernimmt, die er zwar berufsrechtlich ausüben darf, für die er aber keine entsprechende Ausbildung genossen hat, dann ist auch das eine Form der Einlassungsfahrlässigkeit. Da gab es mitunter wilde Fälle, wo in einfach ausgestatteten „Hinterhofordinationen“ Fettabsaugungen oder Ähnliches durchgeführt wurden.
Was in der Praxis in diesem Bereich ein wirklich großes Problem darstellt, sind die Delegationsfälle. Es kommt oft vor, dass Ärztinnen und Ärzte Vertretern anderer Gesundheitsberufe, mit denen sie zusammenarbeiten, gewisse Tätigkeiten übertragen möchten. In Österreich existiert allerdings einerseits ein weitreichender Arztvorbehalt und andererseits dürfen Aufgaben nur dann übernommen werden, wenn sie durch die Ausbildung gedeckt sind. Die Einlassungs- bzw. Übernahmefahrlässigkeit liegt dann zwar nicht aufseiten der Ärztin oder des Arztes, sondern bei den Angehörigen der anderen Gesundheitsberufe; für die Anordnung ist sie/er aber durchaus haftbar.

Welche Vorgehensweise raten Sie einem Arzt, um am ehesten zu verhindern, dass er Sie als Angezeigter/Angeklagter aufsuchen muss?

Nur kurz zur Begriffsdefinition: Angeklagt ist man im Strafrecht. Wenn eine Anzeige vorliegt, ist man angezeigt; wird weiter ermittelt, ist man beschuldigt; wenn der Staatsanwalt schlussendlich Anklage erhebt, ist man Angeklagter. Das ist die strafrechtliche Schiene. Im Zivilrecht, wenn es etwa um Schadenersatz geht, spricht man vom Beklagten.
Was kann man Ärztinnen und Ärzten nun mitgeben? Wahrscheinlich sollte ich das als Anwalt nicht sagen, aber man sollte sich von den vielen rechtlichen Diskussionen nicht verwirren lassen, sondern primär den Hausverstand nutzen. Habe ich beim Durchführen oder auch beim Delegieren einer Tätigkeit ein gutes Gefühl oder bin ich mir unsicher? Wenn man hier sozusagen auf sein Bauchgefühl hört, ist man oft gut beraten – insbesondere, wenn das Bauchgefühl schlecht ist, sollte jedenfalls bei der Rechtsabteilung oder bei einer Anwältin bzw. einem Anwalt rückgefragt werden. Aus juristischer Sicht ist die Dokumentation das Verteidigungsmittel schlechthin. Man weiß nie, welcher der Tausenden Patienten vielleicht irgendwann einmal zum Kläger wird. Die strittige Causa kann mitunter jahrelang zurückliegen, und dann wird man sich vielleicht noch an den Fall, nicht aber an jedes Detail erinnern können. Mein Berufsstand, der dann die Patientinnen und Patienten vertritt, hofft und sucht natürlich solche Dokumentationslücken, um genau dort einhaken zu können. Der Oberste Gerichtshof hat, vereinfacht gesagt, wiederholt ausgesprochen – und das ist damit ständige Rechtsprechung –, dass für all das, was in der Dokumentation nicht enthalten ist, grundsätzlich die Vermutung gilt, dass es nicht stattgefunden hat. Natürlich kann die Ärztin oder der Arzt auch bei mangelhafter Dokumentation versuchen, sich frei zu beweisen, indem etwa Zeugen befragt werden. Aber um noch einmal einen Fußballvergleich heranzuziehen: Man fängt bei Gericht mit mangelhafter Dokumentation mit einem 0-zu-2-Rückstand an. Das ist insbesondere bei der Aufklärungspflicht ein großes Thema: Denn tritt bei einer an sich lege artis durchgeführten Operation eine Komplikation auf, die schlicht und ergreifend Teil des Operationsrisikos ist, ist die Ärztin oder der Arzt trotzdem haftbar, wenn davor nicht aufgeklärt wurde bzw. nicht nachgewiesen werden kann, aufgeklärt zu haben.

Gibt es noch einen Aspekt, den Sie gerne ansprechen würden?

Ich halte es für eine große Problematik in unserem Gesundheitswesen, dass Ärztinnen und Ärzte fürchten müssen, für wirklich jeden Schritt, den sie machen, rechtlich belangt werden zu können. Aus Angst, irgendetwas zu übersehen, wird eine Unzahl an Untersuchungen durchgeführt – nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus Angst vor einer Klage. Ich bin zwar kein Gesundheitsökonom, aber das verursacht meiner Meinung nach einfach nur sehr hohe Kosten mit überschaubarem Nutzen.
Dieses Problem könnte teilweise durch spezifischere Regelungen für den Behandlungsvertrag, dessen Inhalt gesetzlich nicht festgelegt ist, durch den Gesetzgeber behoben werden; dies auch im strafrechtlichen Bereich, wo es erste Ansätze dazu gibt. Für andere Verträge wie Kauf- oder Mietverträge gibt es ja durchaus gesetzliche Rahmenbedingungen, und auch in Deutschland beispielsweise ist der Behandlungsvertrag detaillierter gesetzlich geregelt.
Und vielleicht noch ein versöhnlicher Abschlusssatz: Ich weiß, dass unsere Berufsgruppen, also Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie Ärztinnen und Ärzte, nicht unbedingt ein friktionsfreies Verhältnis pflegen. Allerdings muss man sich nicht vor uns fürchten und die Erfahrung zeigt, dass – und ich kann das auch aus meinem privaten Umfeld sagen (lacht) – das Zusammenleben gut funktioniert. Vor allem dann, wenn man nach den zuvor angesprochenen Vorgehensweisen handelt.

Vielen Dank für das Gespräch!