Plötzlich im Rampenlicht

Schutzausrüstung für Spitäler, strenge Hygienemaßnahmen und Beatmungsgeräte haben zu einer nicht vorhersehbaren Nachfrage geführt. Massentests und Impfungen werden die Medizinprodukte-Betriebe weiterhin fordern, denn schließlich sind auch Schnelltests, Tupfer, Nadeln und Kanülen „typische Medizinprodukte“.
Doch nicht alle Betriebe der überaus heterogenen Branche zählen automatisch zu den Gewinnern der Krise. Welche Bedeutung die Branche tatsächlich hat und wie sie für künftige Herausforderung am besten aufgestellt sein muss, hat das Industriewissenschaftliche Institut (IWI) unter der Leitung von FH-Hon.-Prof. DDr. Herwig W. Schneider untersucht. Im Auftrag der AUSTROMED wurde eine Studie zum Thema „Medizinprodukte-Unternehmen als Wirtschafts- und Resilienzfaktor“ durchgeführt. Dabei wurde die volkswirtschaftliche Bedeutung der Medizinprodukte-Unternehmen in den Kontext aktueller Wettbewerbs- und Rahmenbedingungen sowie Herausforderungen vor dem Hintergrund der aktuellen COVID-19-Pandemie in den Mittelpunkt gestellt. „Ziel ist es, auf Basis dieser empirisch gestützten Informationsgrundlage die künftige Strategieentwicklung der AUSTROMED, zu unterstützen und klare Daten und Fakten für den Dialog mit den relevanten Stakeholdern zu haben“, gibt Mag. Philipp Lindinger, Geschäftsführer der AUSTROMED Einblick in die Motive für die Studie.

 

Zukunftsthema: Digitalisierung
Die Digitalisierung führt zu Veränderungen auf den Märkten: Sie schafft nicht nur neue technische Möglichkeiten, sondern auch völlig neue Geschäftsmodelle. Die Branche sieht durch den digitalen Wandel zahlreiche Wettbewerbspotenziale und fühlt sich auf künftige Herausforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung gut bzw. ausreichend vorbereitet.
Dennoch sind hohe Investitionskosten sowie fehlende finanzielle Ressourcen eine sehr häufige Hürde, vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen. Zudem bremsen Hürden in den Bereichen Datenschutz und -sicherheit sowie fehlende Erstattungsmodelle die Unternehmen bei Digitalisierungsvorhaben.

 

Wichtiger Impulsgeber

Die Medizinprodukte-Branche nimmt in der österreichischen Volkswirtschaft einen bedeutenden Platz ein. Sie ist mit anderen Wirtschaftsbereichen stark vernetzt und gibt mittelbare Impulse an die gesamte heimische Wirtschaft weiter. In ihrem gesamtwirtschaftlichen Umfeld lösen die Medizinprodukte-Unternehmen 2019 mittel- wie unmittelbar Umsätze von 16,66 Mrd. EUR sowie eine gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung von 4,51 Mrd. EUR aus und sichern pro Jahr in Summe rund 56.100 Arbeitsplätze in der österreichischen Volkswirtschaft. AUSTROMED-­Mitgliedsunternehmen sind als gewichtiger Kern der gesamten Branche dabei für gesamtwirtschaftlich rund 7,44 Mrd. EUR Umsatz, eine Wertschöpfung von 1,88 Mrd. EUR und die Absicherung von rund 22.700 Beschäftigungsverhältnissen verantwortlich. Darüber hinaus lassen sich aus der aktuellen empirischen Erhebung des IWI einige zentrale Aussagen zu aktuellen Themen- und Zukunftsfeldern herauslösen, die in direktem Zusammenhang mit der volkswirtschaftlichen und systemischen Bedeutung dieser Unternehmensgruppe stehen.

 

Die AUSTROMED-Mitgliedsunternehmen in Zahlen
Die AUSTROMED ist eine freiwillige Interessensvertretung mit derzeit rund 120 Mitgliedern. Diese Mitgliedsunternehmen sind insgesamt nicht nur repräsentativ für die Medizinprodukte-Branche, sondern generieren auch – gesamtwirtschaftlich betrachtet – fast die Hälfte des Umsatzes und der Arbeitsplätze ihres Sektors. Damit belegen auch die Zahlen: Wer mit der Medizinprodukte-Branche sprechen möchte, muss mit der AUSTROMED sprechen.

Nicht alle sind Krisengewinner

Die COVID-19-Krise trifft Medizinprodukte-Unternehmen in sehr unterschiedlicher Art und Intensität – viele von ihnen auch negativ. So rechnet rund die Hälfte der Unternehmen im Vergleich zum Vorjahr heuer mit einem schlechteren Umsatzergebnis. Negative Auswirkungen durch die Krise auf Umsatz und Auftragslage ziehen sich dabei durch alle Unternehmensgrößenklassen der Branche, wobei Klein- und Mittelbetriebe überdurchschnittlich betroffen sind. Nur eine kleine Gruppe – rund 20 Prozent der Medizinprodukte-Unternehmen – kann wirtschaftlich als Krisengewinner bezeichnet werden. „Zahlreiche Unternehmen der heimischen Medizinprodukte-Branche werden erst 2021 bzw. 2022, im Zuge einer schrittweisen Normalisierung der globalen Wirtschaft, wieder Vorkrisen-Niveau erreichen“, sagt Lindinger.

Das „alte“ und das „neue“ Normal

Die globale Wirtschaftswelt, in der sich Medizinprodukte-Unternehmen bewegen, ist ständigen Veränderungen ausgesetzt, deren Verständnis und Beherrschung zentral ist für die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. Dies trifft auf den Umgang mit Zukunfts- und Megatrends wie etwa die Digitalisierung ebenso zu wie auf den Umgang mit kurzfristig auftretenden Krisensituationen wie die aktuelle COVID-19-Pandemie. Dieses komplexer werdende Marktumfeld und sich rasch verändernde Rahmenbedingungen fordern die Unternehmen, insbesondere die Klein- und Mittelbetriebe, zu immer schnellerer Anpassung und Weiterentwicklung. „Es hat sich gezeigt, dass sich viele Unternehmen sehr rasch an die Herausforderungen der Krise anpassen konnten oder die digitale Transformation in ihren Prozessen abbilden können, dennoch sind einige Rahmenbedingungen trotz der letzten Monate unverändert vorhanden und belasten jetzt vielleicht noch mehr als bisher. Dazu zählen etwa die Verschärfung der Zertifizierungsvorschriften, die Erstattung von Medizinprodukten oder die Ausschreibungsbedingungen“, fasst Lindinger zusammen. Das beeinträchtigt nach wie vor die internationale Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Medizinprodukte-Betriebe. Gerade ein resilienter und zukunftsfähiger Standort erfordert jedoch ein entsprechendes Umfeld, innerhalb dessen die Unternehmen ihre Leistungskraft bestmöglich entfalten können.

Wettbewerbs- und Kostendruck steigen

Eine Verbesserung der heimischen Standortfaktoren bzw. Rahmenbedingungen ist vor allem auch aufgrund der Erkenntnis bedeutend, dass der Branche in den kommenden Jahren erhöhter Wettbewerbs- und Kostendruck drohen. Dieser kommt unter anderem von branchenfremden Unternehmen, die verstärkt in den (Wachstums-) Markt der Medizinprodukte vordringen. Diese haben oft starkes IT- und Daten-Know-how im Gepäck und drängen auf einen zunehmend digitalisierten Gesundheitsmarkt. Ein erhöhter Kostendruck droht in den kommenden Jahren auch der Medizinprodukte-Branche als Folge der Corona-Krise und der derzeit hohen Ausgaben für Krisen-Eindämmungsmaßnahmen. Hier muss die Branche wachsam sein und jene Assets und Leistungen hervorstreichen, die für einen resilienten und qualitativ hochwertigen Medizinprodukte-Standort entscheidend sind: Dazu gehören zum Beispiel die Beratungsqualität, die langjährige System- und Branchenkompetenz oder die Lager der Medizinprodukte-Händler, die sich in der Krise als wichtige Puffer bewährt haben.

Lockdown trifft auch Medizinprodukte-Branche

Das IWI hat sich im Rahmen der Studie nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mit der Medizinprodukte-Branche beschäftigt. Zu diesem Zweck wurden Unternehmen online zu ihrer Sichtweise der Corona-Krise, ihrer Folgenabschätzung und ihrem Ausblick befragt. Dabei zeigt sich: Etwa die Hälfte der Befragten rechnete im Herbst mit einer Verschlechterung des Jahresumsatzes im Vergleich zum Vorjahr. Schließlich waren insbesondere während des Lockdowns im Frühjahr 2020 viele geplante Eingriffe beziehungsweise Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte verschoben worden, ein Umstand der direkten Einfluss auf viele Sparten innerhalb der Medizinprodukte-Branche hat. Für mehr als 90 Prozent der befragten Unternehmen spielen internationale Lieferketten eine wichtige Rolle, dementsprechend groß war auch die Betroffenheit im Zuge der Grenzschließungen in der Krise. Insbesondere vorgelagerte Verbindungen seitens der Lieferanten waren bei rund 40 Prozent der befragten Unternehmen betroffen. „Als sinnvolle Strategien zur Erhöhung der Resilienz von Lieferketten sind die Verkürzung dieser Ketten beziehungsweise eine Relokalisierung sowie eine höhere Lagerhaltung und eine Verbreiterung der Lieferantenbasis ein möglicher Weg, aber sicher nicht für alle Betriebe leistbar“, betont Lindinger. Letztere – ebenso wie ein stärkerer Einsatz von digitalen Analyse- und Prognosetools zur Risikobewertung – wird insbesondere von Groß- und Mittelunternehmen als gute Strategie zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Lieferketten erachtet. Besonders betont wurde im Rahmen der Befragung auch die Bedeutung eines engen Kontaktes zum Kunden- und Lieferantennetz.

 

Medizinprodukte-Branche auf einen Blick
Insgesamt bewegen sich in Österreich derzeit knapp 600 Unternehmen im Medizinprodukte-Bereich. Sie generierten im Jahr 2019 einen Umsatz in der Höhe von 16,7 Milliarden Euro. An der Leistungskraft der Medizinprodukte-Unternehmen hängen rund 56.100 Arbeitsplätze. Das löst auch ein beträchtliches Steuer- und Abgabenvolumen aus. Medizinprodukte-Unternehmen sowie ihre Beschäftigten zahlten 2019 fast 1,4 Milliarden Euro an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.

 

Sehr viel abgewinnen können die Unternehmen einem Aufbau von strategischen Beständen für ausgewählte Medizinprodukte in Österreich. Dennoch sehen fast 90 Prozent die Gefahr, dass die Kosten dafür der Industrie aufgebürdet werden. Jedenfalls sind die Lager heimischer Medizinprodukte-Händler als kurzfristige Puffer auch nach Ansicht der meisten Unternehmen ein wesentlicher Faktor im System der österreichischen Versorgungssicherheit mit Medizinprodukten. Gut zwei Drittel der Unternehmen halten zur Erhöhung der Resilienz von Lieferketten auch einen stärkeren Datenaustausch von Akteuren im Gesundheitssystem – beispielsweise hinsichtlich Lagerbestände – für sinnvoll.

Sehr kritisch sehen die Unternehmen stärkere staatliche Eingriffe wie etwa Zölle, aber auch Subventionen. Nur für 35 Prozent der Befragten ist dies eine (sehr) sinnvolle Option. Die Internationalisierung in diesem Bereich ist ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Nur vier von zehn befragten Unternehmen gehen davon aus, dass es im Medizinprodukte-Sektor zu einer Abkehr von globalisierten Lieferketten kommt. Acht von zehn Unternehmen stimmen der Aussage zu, dass die Europäische Union in der krisensicheren Versorgung mit Medizinprodukten gemeinschaftlich vorgehen muss.

 

 

In der akuten Phase der Krise hat das langjährige Erfahrungs- und Systemwissen der Medizinprodukte-Branche dem heimischen Gesundheitssystem große Vorteile gebracht. Insgesamt ist die Branche nicht in ausreichendem Maße in eine Versorgungs- und Krisenplanung eingebunden.
Mit Beginn der Krise in Österreich gab es eine gute Vernetzung der Industrie, der prüfenden Stellen und der Politik. Jetzt gilt es, diese Vernetzung zu institutionalisieren, in eine nachhaltige Form zu bringen und eine mittelfristige Strategieentwicklung unter Einbindung der Medizinprodukte-Branche voranzutreiben.