So selbstverständlich, wie ein Stethoskop zu bedienen

Wie wird der aktuelle Digitalisierungsschub an der MedUni Wien er- und gelebt?

Wir haben drei Kernaufgaben – Lehre, Forschung und Patientenbetreuung – und darüber hinaus die gesamte Administration. In all diesen Feldern ist die Digitalisierung ein zentrales Thema, nicht erst seit Ausbruch der Pandemie. Massive Veränderungen, wie gelehrt wird, haben wir natürlich hauptsächlich in den letzten zwei Jahren erlebt. Online studieren ist mittlerweile Alltag. Nicht nur wie, sondern auch was gelehrt wird, hat sich deutlich verändert. Die nächste Generation Ärzte ist mit ganz anderen Technologien konfrontiert als die davor. In der Forschung wäre personalisierte Medizin ohne Digitalisierung nicht möglich. Die Grundlagenforschung, neue Diagnosetools, Supportsysteme in der Therapie und auch Kommunikation zwischen Arzt und Patienten sowie erste Anwendungen in der Patientenbetreuung sind durch digitale Anwendungen anders als noch vor einigen Jahren. Und wir stehen damit erst am Anfang der Möglichkeiten, die noch kommen werden.

Welche digitalen Kompetenzen brauchen Mediziner in der Forschung und bei der Arbeit am Patienten heute?

Noch sind wir nicht so weit, das konkret zu formulieren. Aber wir wissen mit Sicherheit jetzt schon, dass es Handlungsbedarf gibt und Investitionen in die digitale Kompetenz braucht. Junge Mediziner müssen nicht nur ein Stethoskop richtig anwenden können, sie müssen auch lernen, die neuen Tools im Berufsalltag einzusetzen. Sie müssen auch wissen, wie Algorithmen funktionieren und die Potenziale und Gefahren erkennen, die Datenpools mit sich bringen. Curricula werden sich auf diese Mensch-Maschine-Interaktion umstellen müssen, das ist ein laufender Prozess.

Müssen Ärzte dann auch Techniker sein?

Es stehen den Ärzten jetzt schon – beispielsweise mit Big-Data-Analysen oder Genomsequenzierungen – unglaublich mächtige Technologien zur Verfügung. Nicht jedem Algorithmus kann man blind vertrauen, wenn man nicht weiß, wie er zustande kommt. Damit verbunden ist natürlich der Wunsch verstehen zu wollen, welche künstliche Intelligenz (KI) angewendet wird und welche Daten interpretiert werden. Denn diese Ergebnisse müssen vom Arzt an den Patienten kommuniziert werden und die Ärzte tragen die Verantwortung für ihre Entscheidungen.

Welchen Stellenwert hat der Mensch – der Arzt als Anwender, der Patient als „Ergebnis“ von Digitalisierung – aus Ihrer Sicht?

Das große Versprechen der Digitalisierung ist, dass Prozesse einfacher und schneller, Fehler vermieden werden, und damit auch mehr Zeit für die Arzt-Patient-Beziehung bleibt. Wir hoffen, dass dieses Versprechen auch gehalten wird.
Einstellen müssen wir uns auch darauf, dass nicht nur Ärzte, sondern Patienten selbst mit den neuen Tools „arbeiten“, denn Patienten erfassen einen Großteil der Daten selbst in ihrem privaten Umfeld. Das heißt, wir müssen darauf achten, dass wir auch in die digitale Kompetenz der Bevölkerung investieren.

Wie geht die MedUni mit der ­gesellschaftlichen Technologieskepsis um?

Eine aktuelle Eurobarometer-Umfrage aus dem Mai 2021 hat die Einstellung der europäischen Bürger gegenüber Wissenschaft und Technologie abgefragt. Man würde erwarten, dass sich durch Pandemiethemen wie Impfstoffforschung oder Schnelltestentwicklung doch einiges zum Positiven gewendet hätte. Doch Österreich liegt im Gegensatz zu Großbritannien oder der Schweiz weit abgeschlagen. Wir haben hierzulande eine tief verankerte Technologieskepsis. Ich sehe die Verantwortung, Bewusstsein zu schaffen und aufzuklären, auch, aber nicht nur bei den Universitäten. Wir machen sehr viel, wie Tage der offenen Tür, Minimed-Vorträge, die Lange Nacht der Forschung – das wird auch gut angenommen, dennoch können wir die Bevölkerung nicht überzeugen. Um das Desinteresse zu beseitigen, braucht es noch viel mehr Anstrengungen von der Politik und den Medien.

Patienten beklagen jetzt schon, dass ihnen im Gesundheitswesen wenig Zeit und ­Aufmerksamkeit geschenkt wird. Degradiert zum „Blinddarm in Zimmer 2“, werden Patienten jetzt überhaupt nur mehr zu einem anonymen Datensatz?

Die Gefahr sehe ich nicht. Die Medizin ist „kleiner geworden“, das heißt, wir haben uns zuerst auf Organe fokussiert, dann auf Zellen und jetzt sind wir bei den Genen angelangt. Das ist keine Anonymisierung, sondern eine weitere revolutionäre Technologie, um uns im Verständnis von Zusammenhängen, Krankheiten und Diagnosen weiterzubringen.

Braucht Präzisionsmedizin noch mehr ­Digitalisierung? Befeuern sich die beiden Themen gegenseitig?

Wir sehen das fast synonym. Präzisionsmedizin, personalisierte Medizin und präzise Dia­gnosen und Therapieentscheidungen sind ohne Genomics-Technologien – also den Wissenschaftszweig, der sich mit der Erfassung und Analyse aller DNA-Sequenzen eines Genoms beschäftigt – und Big Data nicht denkbar. Wir sehen die Bedeutung auch schon in den Investitionen und dem Stellenentwicklungsplan abgebildet. Das schließt etwa das derzeit in Bau befindliche Center for Translational Medicine and Therapeutics, das Institute for Precision Medicine und eine neue Professur für Präzisionsmedizin ein. Dazu kommt moderne IT-Infrastruktur und ein Anschluss an Österreichs schnellen Hochleistungscomputer, den von mehreren Universitäten und Forschungsinstitutionen betriebenen „Vienna Scientific Cluster“ (VSC). Durch die Nähe zum AKH werden diese Forschungsergebnisse rasch den Patienten zugutekommen. Zudem wird das neue Zentrum auch vielversprechende Forscher und deren Ansätze nach Wien holen.

Was braucht es, um Österreich als Forschungsstandort für Digital Health weiterzuentwickeln?

Die große Kunst wird sein, dass wir kluge Köpfe hier in Österreich halten und neue dazu holen. Diesen Forschern muss man auch ein gutes Umfeld schaffen, sie brauchen neben Infrastruktur auch eine kompetitive Förderlandschaft. Hier können wir uns von Ländern wie der Schweiz noch einiges abschauen. Neben finanziellen Ressourcen und der Infrastruktur muss auch der regulatorische Rahmen passen. Das heißt zum Beispiel Regeln über den Zugang zu Daten für die Forschung, aber auch die neuen Medizinprodukte-Verordnungen.

Gibt es für Sie persönlich Leuchtturm­projekte, die „Digital Health“ aktuell ­breitenwirksam repräsentieren?

Es gibt inhaltlich eine Fülle an Themen, von denen ich zwei stellvertretend für viele andere herausgreifen möchte. Menschen, die an Diabetes mellitus erkrankt sind, haben ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken, außerdem stehen einige Diabetes-Medikamente im Verdacht, das Risiko ebenfalls fallweise zu erhöhen. Wissenschaftler der Universitätsklinik für Innere Medizin III und dem Institut für die Wissenschaft Komplexer Systeme der MedUni Wien konnten zeigen, dass man diese Risiken mit einer optimierten, personalisierten Therapie heutzutage praktisch ausschalten kann. Ein anderes Projekt kommt aus der Dermatologie, wo künstliche Intelligenz zur Unterstützung menschlicher Expertise eingesetzt wird. In einem von den Studienautoren Tschandl und Kittler kreierten Experiment mussten 302 Ärzte dermatoskopische Bilder von gutartigen und bösartigen Hautveränderungen zuerst ohne und dann mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz auswerten. Die Forscher konnten zeigen, dass eine gut funktionierende KI in der Lage ist, in einem telemedizinischen Szenario gutartige Hautveränderungen herauszufiltern. In weiterer Folge konnte anhand von realen, prospektiv erhobenen Daten demonstriert werden, dass selbst unerfahrene Untersucher mit KI-Unterstützung auf Expertenniveau telemedizinische Diagnosen stellen können. In einem abschließenden Experiment wurde auch gezeigt, dass Menschen lernen können, von der KI generierte Konzepte als diagnostische Hinweise zu nutzen, um damit, unabhängig von der KI, ihre eigenen Fähigkeiten zu verbessern.