„Verantwortlich sind wir alle“

Wird die Pandemie einen echten ­„Wendepunkt“ in der Gesundheitspolitik einleiten oder kehren wir nach dem Krisenmodus wieder in die alte Normalität zurück – zum Beispiel hinsichtlich E-Medikation, Krankschreiben per Telefon oder Telemedizin? Viel, was sich während der letzten Monate sehr gut bewährt hat, scheint wieder zurückzukommen. Wo konkret wünschen Sie sich, dass wir Gesundheit neu denken, wo wird „Altes“ bleiben?

Ich sehe hier zwei Aspekte: Die Telemedizin hat sich gut bewährt. Auch Online-Videosprechstunden wurden gut angenommen. Hier gilt es, zwischen der Sozialversicherung und der Ärztekammer entsprechende Modalitäten zu erarbeiten, um Telesprechstunden nachhaltig als ergänzendes Zusatzangebot zu verankern, wobei ich sagen muss, dass eine Telesprechstunde den direkten Arzt-Patienten-Kontakt nicht vollständig ersetzen können wird. Denn aus dem direkten Kontakt können sich wichtige Rückschlüsse für Diagnose und Behandlung ergeben. Den medizinischen Blick gibt es ja tatsächlich. Und ein Abhören oder eine ­Kontrolle des Gehörgangs funktioniert online natürlich nicht. Aber auch die Frage der Betten- und Intensivbettenkapazitäten in Spitälern ist aufbauend auf den Erfahrungen der Corona-Pandemie sicher in einem anderen Licht zu führen als bisher. Generell hoffe ich sehr, dass nun völlig unbestritten ist, dass wir ein starkes Gesundheitssystem mit deutlichen Reserven für Krisensituationen brauchen.

Was sind aus Ihrer Sicht bis jetzt die wichtigsten Learnings für die Gesundheitspolitik aus den letzten Monaten im Zeichen der Pandemie?

Wir haben im Kampf gegen die Pandemie einige wichtige Erkenntnisse für die Zukunft gewinnen können. Wichtig ist, dass wir vorausschauend stärker in die Digitalisierung investieren und diese voranbringen. Das Contact-Tracing ist nach wie vor eine der wichtigsten Maßnahmen, um die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen. Um die Kontaktpersonen der Verdachtsfälle und bestätigten Fälle möglichst schnell ausfindig zu machen und ehestmöglich nachzuverfolgen, setzt das Gesundheitsministerium auf eine elektronische Lösung.
Es hat sich gezeigt, dass auch im EMS, dem elektronischen Meldesystem, Verbesserungen notwendig waren: So ist jetzt eine deutlich schnellere Erkennung der neuen positiven Fälle im EMS möglich.
Aber auch beim Personal braucht es auf allen Ebenen eine vorausschauende Planung: Wir brauchen künftig Strukturen, um kurzfristig Personal rekrutieren zu können.
Auch das europäische Vergaberegime muss man sich anschauen. Das Vergabeprozedere braucht eigene Regelungen, um Verfahren abkürzen zu können und flexibler bei Beschaffungen von wichtigen Materialien agieren zu können. Und wir brauchen eine starke Krisensicherheit – etwa durch Unabhängigkeit und Lagerbildung bei der Versorgung mit Schutzmaterialien, aber auch Krisensicherheit beim Bezug von Medikamenten.

Das Schlagwort „Versorgungssicherheit“ stand oft im Mittelpunkt der Diskussion – wie realistisch kann sich ein Land überhaupt auf derartige Krisen vorbereiten? Wer trägt die Verantwortung dafür, wer muss dabei mitarbeiten?

Man kann sich auf Krisen immer nur bis zu einem gewissen Grad vorbereiten. Grundsätzlich sind wir in Österreich gut aufgestellt. Die Zivilschutzverbände leisten beispielsweise hervorragende Arbeit. Was es brauchen wird, sind regelmäßige Übungen auch für Gesundheitskrisen, wie es sie beispielsweise für atomare Bedrohungen oder Tunnelkatastrophen schon gibt. Hier muss praxisnah das Zusammenspiel aller Stakeholder – in der Verwaltung, in den Gesundheitseinrichtungen und in der Politik – regelmäßig geübt werden und aus diesen Übungsszenarien müssen dann Ableitungen für die Praxis getroffen werden. Auch die Bevorratung von Schutzausrüstungen schauen wir uns an. Verantwortlich sind wir im Prinzip alle: alle politischen Ebenen, die Gesundheitsdienste­anbieter, aber auch jeder von uns. Denken Sie nur daran, dass ein zeitgerecht angelegter Notvorrat zu Hause schon Sinn machen kann und man im Ernstfall dann nicht die Supermärkte stürmen muss.

Sie haben immer wieder an die ­Eigenverantwortung der Menschen appelliert. Haben wir die Chance, dass auch Themen wie Prävention künftig mit mehr Eigenverantwortung angegangen werden?

Ich will grundsätzlich und im Normalfall keine Gesundheitspolitik mit dem Zeigefinger, die dem Menschen vorschreibt, was er zu tun und lassen hat. Ich will die Menschen informieren und ermuntern, selbst das Heft in die Hand zu nehmen – auch in Fragen der Gesundheit. Selbst in der Pandemie war immer unser Ansatz: „So viel Freiheit wie möglich, so viele Einschränkungen wie nötig.“ Eigenverantwortung im Gesundheitsbereich funktioniert mal besser, mal schlechter. Schauen Sie sich die Vorsorgeuntersuchungen an. Im Jahr macht rund eine Million Österreicher eine allgemeine Vorsorgeuntersuchung – aus freien Stücken. Zusätzlich dazu gibt es von der Sozialversicherung für definierte Zielgruppen eine Einladung, eine Ermunterung, keine Verpflichtung zu einer Vorsorgeuntersuchung. Beim Thema „Impfen“ schaut die Lage nicht ganz so rosig aus. Die meisten gehen zwar brav zur Zeckenimpfung, aber bei der Influenza oder auch bei Masern haben wir nicht die Durchimpfungsrate, die ich haben möchte. Hier braucht es ein Zusammenspiel zwischen den niedergelassenen Haus- und Fachärzten, die ihre Patienten kennen, den Krankenversicherungen und dem Gesundheitsministerium, um die Leute noch stärker über die Sinnhaftigkeit und den Nutzen einer präventiven Impfung zu informieren. Jeder, der im Fernsehen die Auswirkungen einer COVID-19-Infektion gesehen oder im eigenen Familienkreis erlebt und einen Funken von Verstand hat, wird sich impfen lassen, sobald eine Impfung am Markt ist.

Knappe Ressourcen waren in den letzten Jahren immer wieder ein Thema in der Gesundheitspolitik. Dennoch haben sich in der Krise die intra- und extramurale Sektoren als stressresistent gezeigt. Wird Corona auch einen Endpunkt für die Idee markieren, Gesundheit ökonomischem Denken ­unterwerfen zu können?

Gerade in der Corona-Zeit hat sich gezeigt, was wir an unserem umlagefinanzierten Gesundheitssystem haben. Ohne dieses System, bei dem alle Menschen den gleichen Anspruch auf eine Behandlung „state of the art“ oder „lege artis“ haben, egal, wie viel sie in die Sozialversicherung eingezahlt haben, hätten wir englische oder amerikanische Zustände. Die leidige Diskussion über eine Überkapazität an Akut- und Intensivbetten hat sich wohl erübrigt. Aber es braucht im Gesundheitswesen natürlich auch ökonomischen Hausverstand. Es wird wohl jedem einleuchten, dass nicht in jedem Krankenhaus Großgeräte wie zum Beispiel ein Nierensteinzertrümmerer oder eine Anlage für eine Herzkatheteruntersuchung notwendig sind. Und natürlich ist es sinnvoll, wie es beispielsweise die Steiermark vormacht, in einer Region wohnortnah spezialisierte Schwerpunktkrankenhäuser zu etablieren. Nicht jedes Spital muss jede Leistung anbieten. Das ist nämlich auch eine Frage der Qualität. Wollen Sie in einem Spital operiert werden, das vielleicht nur dreimal im Jahr eine Hüftoperation durchführt?

Die Bedeutung von Medizinprodukten im Rahmen einer Gesundheitsversorgung ist in den letzten Monaten in das Bewusstsein der Bevölkerung und der Politik gerückt. ­Medizinprodukte-Betriebe haben in der Beschaffung von Hygieneausrüstung viel geleistet und waren sehr flexibel bei der Beschaffung. Wie wird der weitere Verlauf der Pandemie die öffentliche Beschaffung von Medizinprodukten beeinflussen?

Aufgrund der COVID-19-Krise waren kritische Artikel, insbesondere Schutzausrüstung, in den vergangenen Monaten am Weltmarkt schwer verfügbar. Dies insbesondere deshalb, da durch die COVID-19-Pandemie etablierte Lieferkanäle vor allem versorgungsrelevanter Medizinprodukte teilweise unterbrochen waren. Daher ist der Bund kurzfristig durch eine zentrale Beschaffung eingesprungen. Dieser bundesweit koordinierte Notbeschaffungsprozess wurde mittlerweile beendet und für die Bedarfsträger (Krankenanstalten, niedergelassener Bereich etc.) ein Prozess über die Bundesbeschaffungsgesellschaft GmbH (BBG) eingerichtet. Für eine zukünftige Beschaffung kritischer Artikel wie unter anderem Medizinprodukte und Arzneimittel ist zur Erhöhung der Versorgungssicherheit eine Produktion in Österreich und Europa und deren Abnahme von großer Bedeutung. Gleichzeitig wird dadurch die Wertschöpfung optimiert.

Für wie lange Zeit müssen Medizinprodukte aus dem Bereich Hygiene vorrätig sein?

Dies ist einerseits von der weiteren Entwicklung der COVID-19-Pandemie und andererseits vom Verbrauch der jeweiligen Bedarfsträger wie Krankenanstalten oder dem niedergelassenen Bereich abhängig.

Für welche spezifischen Krankheitsbilder sollen die Gesundheitseinrichtungen und die Medizinprodukte-Branche darüber hinaus entsprechende Produkte vorhalten?

Eine Einschätzung ist schwierig und hat nach medizinischen Gesichtspunkten von Ärzten zu erfolgen, da diese Frage differenziert betrachtet werden muss.

Wer übernimmt die Kosten für die ­Beschaffung und die Lagerhaltung im Falle einer Pandemie?

Grundsätzlich tragen die Bedarfsträger die Kosten für die Beschaffung und die Lagerhaltung selbst. Im Rahmen der Pandemie wurden bestimmte Kosten vom Bund übernommen (gemäß Zweckzuschussgesetz). Es ist zentral, hier in Zukunft eine gute Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung beizubehalten, um die Krisensicherheit des Gesundheitssystems zu gewährleisten.

Wie ist die Versorgungssicherheit im ­europäischen Kontext zu verstehen? Ist der Aufbau von Pandemielagern in ­Österreich der Weisheit letzter Schluss?

Neben Maßnahmen auf nationaler Ebene bedarf es gesamteuropäischer Anstrengungen, um die weltweite Krise bestmöglich zu überstehen. Daher nimmt Österreich auch an europäischen Initiativen, zum Beispiel gemeinsame Beschaffung – Joint Procurement, teil.

Wie wird sichergestellt, dass alle anderen Personen in jenen Zeiten gut versorgt werden, in denen der Fokus des gesamten ­Gesundheitssystems auf die Bekämpfung einer Pandemie gelenkt ist?

Jeder von uns – dazu zählen auch Ärzte, Manager von Gesundheitseinrichtungen und Politiker – war zum ersten Mal mit einer konkreten Pandemie, und noch dazu mit einem völlig unbekannten Virus, konfrontiert. Da gab es keine Blaupause. Die Versorgung im niedergelassenen Bereich hat auch in der Krise weitgehend gut funktioniert. Die niedergelassenen Ärzte haben schnell und innovativ gehandelt, um eine Versorgung ihrer Patienten zu gewährleisten. Es gab innovative Ansätze im Termin- und Wartezimmermanagement oder es wurden Rezepte aus dem Fenster der Ordination gereicht, um den Schutz vor einer Infektion zu gewährleisten und die Versorgung trotzdem sicherzustellen. Plötzlich hat auch die E-Medikation problemlos funktioniert und wurde von Ärzten und Patienten und als wirkliche Serviceverbesserung angenommen. Was wir gelernt haben, ist, dass nicht fast alle planbaren Operationen abgesagt werden müssen, sondern dass wir hier auch eine Versorgung aufrechterhalten können. Aber wer hat im März gewusst, dass wir nicht alle Intensivbetten brauchen werden?

Wie kann für den weiteren/nächsten Krisenfall hohe Kompetenz in der Koordination bzw. im Schnittstellenmanagement aufgebaut werden? Wer kann/muss diese Rolle übernehmen?

Das staatliche Krisenmanagement hat sich gut bewährt. Das Zusammenspiel zwischen Bund, Ländern, Gemeinden, Gesundheitsdiensteanbietern hat weitgehend gut und unkompliziert funktioniert. Dennoch werde ich in den nächsten Wochen das Krisenmanagement in meinem Haus neu ordnen und personell besser ausstatten.

Angenommen, wir schreiben das „Ende der Pandemie“ – was hat sich in der heimischen Gesundheitspolitik für Sie positiv verändert?

Wir haben leider noch auf längere Sicht kein Ende der Pandemie und daher ist es schwierig, jetzt ein Resümee zu ziehen. Allerdings hat sich eines gezeigt: Wenn es hart auf hart geht, gibt es weder Regierung und Opposition, noch Bund und Länder, sondern ein gemeinsames „Wir“. Und das macht mich schon froh und lässt mich optimistisch in die Zukunft blicken. Die Bedeutung des Gesundheitssystems wird heute viel höher eingeschätzt, auch ist das Bewusstsein heute viel größer, dass dies auch mit Kosten verbunden ist – und dass schlussendlich in unserem Leben nichts wichtiger ist als unsere Gesundheit.

Fotos: Oliver Miller-Aichholz