Zielorientierte Zusammenarbeit

Seit 1. Januar 2021 ist Matthias Krenn erneut Vorsitzender des Verwaltungsrates der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Zuvor verantwortete er die Überleitung der Gebietskrankenkassen in die neue Struktur. Die umfassenden Leistungsharmonisierungen und der Ausbau der Primärversorgung sind für ihn eine gute Grundlage für eine serviceorientierte Ausgestaltung der medizinischen Versorgung in Österreich. Dabei soll auch der Einsatz digitaler Technologien wie etwa der Telemedizin forciert werden. Welche Rolle dabei moderne Medizinprodukte spielen, welche Herausforderungen es aktuell zu bewältigen gibt und welche Innovationen nach der Pandemie noch Platz im Gesundheitssektor haben, diskutiert Krenn mit AUSTROMED-Präsident Gerald Geschlössl und AUSTROMED-Geschäftsführer Mag. Philipp Lindinger.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht ­Medizinprodukte im Gesundheitswesen?

Hochqualitative Medizinprodukte leisten einen wertvollen Beitrag für das Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft. Sie tragen in allen Phasen der Versorgungskette, von Prävention über Therapie bis Rehabilitation, dazu bei, die Lebensqualität auf einem hohen Niveau zu erhalten. Zudem sind die Medizinprodukte-Unternehmen mit ihren Investitionen in Forschung und Entwicklung ein wichtiger Treiber für Innovationen, die letztendlich auch der besseren und effizienteren Versorgung und somit dem Gesundheitswesen dienen.

Wie definieren Sie den Begriff ­Versorgungssicherheit?

Versorgungssicherheit im Sinne einer kontinuierlichen Gewährleistung des notwendigen Bedarfs, auch und insbesondere in Krisenzeiten, ist eine zentrale Herausforderung, wie die gegenwärtige COVID-19-Pandemie verdeutlicht. Für den Bereich der Medizinprodukte gilt es, im Dialog der Stakeholder eine Definition, klare Kriterien, davon abgeleitete Zielvorstellungen und in der Folge konkrete Maßnahmen zu erarbeiten. Es liegt schließlich im gemeinsamen Interesse von Wirtschaft, Politik, Sozialversicherung und Interessenvertretungen, die Resilienz zu erhöhen und Österreich nachhaltig „krisenfit“ zu machen.

Welche Rolle spielen dabei ­Medizinprodukte-Unternehmen?

Da Medizinprodukte bei fast jedem therapeutischen und diagnostischen Vorgang eine Rolle spielen, ist die Zuverlässigkeit der Medizinprodukte-Unternehmen ein wesentliches Element der Versorgungssicherheit im Gesundheitswesen. Mit ihrem hohen Anteil an der Wertschöpfung sind die Medizinprodukte-Betriebe auch ein Garant für Beschäftigung und die Sicherung von Arbeitsplätzen. Die fast 600 Unternehmen umfassende Branche zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus, von einigen international agierenden Unternehmen mit einem breiten Produktportfolio bis zu vielen hochspezialisierten kleinen und mittelständischen Betrieben.

Welche Bedeutung hat Österreich als Wirtschaftsstandort für diese Branche?

Zukunftsorientierte Wirtschafts- und Standortpolitik muss optimale Rahmenbedingungen schaffen, um Neugründungen sowie Betriebsansiedlungen zu fördern und Investitionen zu erleichtern. Dazu gehören neben einem wettbewerbsorientierten Umfeld eine Bildungs- und Forschungsinfrastruktur, die international ausgerichtet ist, und die Verminderung von Verwaltungsaufwand, etwa durch digitale Prozesse. Das Bekenntnis der Medizinprodukte-Unternehmen zum heimischen Wirtschaftsstandort beweist, dass Österreich aus Branchensicht attraktiv ist. Gleichzeitig sollten verstärkt Anstrengungen unternommen werden, um diese gute Position weiter auszubauen, denn Stillstand wäre Rückschritt.

Wo sehen Sie große Herausforderungen für eine sichere Versorgung im Gesundheitswesen?

Herausforderungen ergeben sich durch anlassunabhängige allgemeine Entwicklungen wie den zunehmend höheren Anteil älterer Menschen und den Trend zu steigenden Gesundheitskosten, auch durch die Zunahme von sogenannten Zivilisationskrankheiten. Gleichzeitig bietet etwa die Digitalisierung bzw. der verstärkte Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie neue Chancen. So forcieren wir in der Österreichischen Gesundheitskasse etwa die Telemedizin als wertvolle Ergänzung in der medizinischen Versorgung. Zu den allgemeinen kommen unerwartete Herausforderungen, die rasches Handeln verlangen. Die COVID-19-Pandemie hat etwa gezeigt, wie anfällig internationale Lieferketten für protektionistische Politik, etwa durch Grenzschließungen und Ausfuhrverbote, sind.

Was braucht es kurz- und mittelfristig, um diesen Herausforderungen begegnen zu können?

Es bedarf eines hohen Maßes an Kooperationsbereitschaft zwischen den Staaten sowie innerstaatlich zwischen den Akteuren im Gesundheitsbereich. Ein partnerschaftlicher Umgang bietet eine gute Basis, um bei Bedarf gemeinsam und schnell handeln zu können. Mittelfristig sollten wir in Betracht ziehen, Produktionskapazitäten im Inland auszuweiten und strategische Bestände an ausgewählten Medikamenten und Medizinprodukten vorrätig zu halten, um auch in Zeiten erhöhter politischer Spannungen die Freiheit und Unabhängigkeit in der Gesundheitsversorgung weitgehend erhalten zu können.

Welchen Beitrag leisten Medizinprodukte zur Versorgungssicherheit in und außerhalb von Pandemiezeiten?

Die Medizinprodukte-Branche hat mit ihren Produktionskapazitäten und Lagervorräten einen relevanten Beitrag geleistet, um etwa bei der persönlichen Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal die Folgen der Lieferengpässe durch die COVID-19-Pandemie zu mildern. Um die Versorgungssicherheit weiter zu erhöhen, sollten einheimische regionale Betriebe noch stärker eingebunden und so die Lieferantenbasis weiter verbreitert werden.

Das aktuelle Refundierungs- und ­Zulassungssystem für Medizinprodukte ist zum Teil durchaus intransparent. Wo sehen Sie hier Verbesserungsbedarf, wie könnten nächste Schritte aussehen?

Medizinprodukte unterliegen einer Vielzahl von österreichischen und europäischen Regelungen, etwa im Hinblick auf die Prüfung von Qualität und Konformität. Sicherheit und Vertrauen der Patienten sowie der beschaffenden Institutionen sind das höchste Gut, zugleich sollte verstärkt Wert darauf gelegt werden, durch klare, verständliche und leicht anwendbare Regeln für Unternehmen die Planungssicherheit zu erhöhen und die aus wirtschaftlicher Perspektive kostenintensive Zeit von der Produktentwicklung bis zur Marktplatzierung wo möglich und sinnvoll zu verkürzen.

Wird Innovationen und Qualität derzeit ein ausreichend hoher Stellenwert beigemessen?

Qualität und Innovation dürfen kein Wettbewerbsnachteil sein. Strenge Gütekriterien gepaart mit Erfindungsreichtum ermöglichen es zahlreichen österreichischen Unternehmen, sich weit über die Landesgrenzen und Europa hinaus erfolgreich am Markt zu positionieren. Selbstverständlich sollen diese Unternehmen auch in ihrer Heimat attraktive Bedingungen vorfinden. Dabei ist klar, dass Qualität ihren Preis hat, ebenso, dass es bei neuen Produkten oft schwierig ist, das Potenzial langfristiger Kosteneinsparungen bereits im Zuge des Vergabeverfahrens verlässlich zu beziffern. Wichtig ist in jedem Fall eine umfassende Betrachtung, die nicht ausschließlich auf Stückkosten abstellt.

Wie könnten bzw. sollten in Vergabeverfahren soziale und Nachhaltigkeitskriterien ­gefördert werden?

Der Entwicklung zu Qualität und Nachhaltigkeit sollte auch in Vergabeverfahren entsprechend abgebildet werden, indem der Anteil regionaler Wertschöpfung stärker gewichtet wird und auch volkswirtschaftliche, soziale und ökologische Faktoren miteinbezogen werden. Zudem sollten die im Rahmen der Eignungskriterien formulierten Mindestanforderungen kleine sowie mittelständische Unternehmen, die eine bestimmte Betriebsgröße, Umsatzgrenzen oder Mitarbeiterzahlen schwer erreichen, nicht von vornhinein von der Angebotslegung ausschließen. Auch Transparenz und die Nachvollziehbarkeit der Zuschlagsentscheidung sind wichtige Aspekte.

Die Telemedizin ist bisher wenig in der Regelversorgung angekommen. Wird sich hier angesichts der positiven Erfahrungen der letzten Monate nun etwas ändern?

Wir haben als Österreichische Gesundheitskasse in den letzten Monaten zahlreiche Schritte gesetzt, um im Bereich Telemedizin zu wachsen und uns als Digitalisierungsvorreiter im Gesundheitsbereich zu etablieren. Mit dem videobasierten Konsultationsprogramm „visit-e“ ermöglichen wir eine einfache und sichere Kommunikation zwischen Arzt und Patient mit zahlreichen Funktionen wie dem Upload und Austausch von Unterlagen, einer Chat-Funktion oder Feedback-Funktion – alles per Tablet oder Smartphone nutzbar. Wir befinden uns derzeit im Testbetrieb mit ausgewählten Ärzten in fünf Bundesländern, die Ausweitung über die Pilotphase hinaus ist in Vorbereitung. Mit drei Landes-Ärztekammern wurde die Honorierung bereits vereinbart und mit 1. Juli startet der Regelbetrieb. Mit dem „ÖGK-Kompass“ soll mittelfristig eine schnelle und unkomplizierte Information der Versicherten inklusive Terminbuchung, Öffnungszeiten und Urlaubsmeldungen erfolgen und die elektronische Übermittlung von Medikamentenverordnungen per „E-Rezept“ ist mittlerweile gut bewährt. Hier geht also viel voran, auch wenn es sicher eine Herausforderung bleiben wird, das enge Vertrauensverhältnis in der Arzt-Patienten-Beziehung zu 100 % in den digitalen Bereich zu übertragen.