Glukosevariabilität, Hypoglykämie­risiko und kardiovaskuläre Ereignisse

Rasante Entwicklungen im Bereich der Blutzuckermesstechnik haben innerhalb weniger Jahre die Wahrnehmung und Interpretation der Blutzuckerwerte zur Ableitung therapeutischer Empfehlungen revolutioniert. Durch die Möglichkeit von grafischen Darstellungen des Blutzuckerverlaufs mittels Flash- (Abbott Freestyle Libre) und kontinuierlichen Blutzuckermesssystemen sowie verfügbaren Parametern wie der Zeit im Zielbereich (70–180 mg/dl), Steilheit und Dauer des Blutzuckeranstieges nach einer Mahlzeit (Tab.), rücken Hyperglykämie, Hypoglykämie und Glukosevariabilität weiter in den Fokus.

 

 

Die Glukosevariabilität ist als Schwankungen der Blutglukose in Abhängigkeit eines festgelegten Zeitraumes definiert. Akute Schwankungen des Blutzuckerspiegels (kurzfristige Hypo- und Hyperglykämien) sowie langfristige Schwankungen, welche sich in der Messung des HbA1c widerspiegeln, können durch die Glukosevariabilität erfasst werden. Die Berechnung der Glukosevariabilität erfolgt durch unterschiedliche Formeln auf Basis von kapillar oder mittels kontinuierlicher Methoden gemessener Werte, wobei kontinuierliche Glukosemesssysteme aufgrund der höheren Zahl an Messungen die Glukosevariabilität deutlich besser abbilden

Die Variabilität der Blutzuckerwerte innerhalb von 24 Stunden wird mit Hilfe der Standardabweichung (SD) und des Variationskoeffizienten (% CV) erfasst. Mit Hilfe der Berechnung der täglichen Glukosevariabilität kann zwischen stabiler und labiler Blutzuckersituation unterschieden werden, in der Literatur wird hierfür ein Cut-off-Wert von 36 % empfohlen.
Beinahe analog zu der Varianz innerhalb von 24 Stunden kann auch eine Tag-zu-Tag-Variabilität errechnet werden, wobei bereits 1970 ein Parameter namens MODD (mean of daily differences) etabliert wurde. Sowohl Flash- als auch kontinuierliche Blutzuckermesssysteme erfassen die Tag-zu-Tag-Variabilität mit Hilfe des Ambulatory-Glucose-Profile (AGP) über 14 Tage.

Time in Range: Darüber hinaus wurde in einem internationalen Konsensus unter Federführung der American Diabetes Association der Parameter „Time in Range“ (TIR; Zeit der vorliegenden Blutzuckermessungen zwischen 70 und 180 mg/dl) als weiterer Zielwert definiert. Unter der Voraussetzung, dass das kontinuierliche Blutzuckermesssystem mindestens 70 % von 14 Tagen dokumentiert hat, sollen mehr als 70 % der dokumentierten Werte in einem Bereich zwischen 70 und 180 mg/dl liegen. Erstaunlicherweise korreliert das HbA1c nur moderat mit dem Parameter „Time in Range“, was den Unterschied zwischen der kurzfristigen (Tag-zu-Tag-)Glukosevariabilität und der langfristigen Glukosevariabilität, welche mit dem HbA1c teilweise erfasst wird, eindrücklich dokumentiert. Erste Studien, die eine starke Assoziation des Parameters „Time in Range“ mit mikrovaskulären Komplikationen bei Diabetes mellitus Typ 1 dokumentieren, liegen bereits vor.

Bedeutung der Glukosevariabilität

Den klinischen Beobachtungen entsprechend steigt sowohl bei Diabetes mellitus Typ 1 als auch bei Diabetes mellitus Typ 2 die Glukosevariabilität mit zunehmender Erkrankungsdauer und in Relation zu den verordneten Medikamenten an. Demnach haben rein mit lebensstilmodifizierenden Maßnahmen behandelte Patienten die geringste Glukosevariabilität, während unter einer Behandlung mit Sulfonylharnstoffen oder Insulin die Glukosevariabilität am größten ist. Aus pathophysiologischer Sicht bewirkt eine hohe Glukosevariabilität zahlreiche Veränderungen wie beispielsweise eine Steigerung des oxidativen Stresses, eine vermehrte Freisetzung proinflammatorischer Zytokine, die mit der Entstehung makrovaskulärer Komplikationen in Verbindung gebracht werden. Leider gibt es derzeit kaum Evidenz aus Interventionsstudien, die kurzfristige Glukosevariabilität als unabhängigen Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse etablieren kann.
Im Rahmen der FLAT-SUGAR-Studie wurde bei Diabetes mellitus Typ 2 der GLP-1-Rezeptoragonist Exenatid mit einer prandialen Insulingabe jeweils zusätzlich zu Basalinsulin im Hinblick auf die glykämische Variabilität und kardiovaskuläre Komplikationen untersucht. Die Gabe von Exenatid führte verglichen mit einem prandialen Insulin zwar zu einer reduzierten glykämischen Variabilität, hatte allerdings keinen Einfluss auf inflammatorische und kardiovaskuläre Risikofaktoren und oxidativen Stress.
Daten aus der ACCORD- und der ADVANCE-Studie belegen eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen Hypoglykämien und einem gesteigerten kardiovaskulären Risiko, wobei Post-hoc-Analysen aus den ADVANCE-Studiendaten zeigen, dass Hypoglykämien eher als Marker eines vulnerablen kardiovaskulären Systems zu sehen sind. Dennoch gibt es zunehmend mehr Daten, die direkte Effekte von Hypoglykämien auf die Thrombozyten und direkte proarrhythmogene Effekte dokumentieren.

Hypoglykämie und Glukosevariabilität

Unabhängig vom mittleren Blutzuckerwert ist eine steigende Glukosevariabilität mit einem exponentiellen Anstieg an Hypoglykämien assoziiert. Aktuellen Hypothesen zufolge könnte die Verbindung von steigender Glukosevariabilität mit Hypoglykämien eine weitere mögliche Erklärung für den Zusammenhang zwischen Hypoglykämien und kardiovaskulären Komplikationen darstellen.
Gerade bei niedrigen mittleren Blutglukosewerten ist die kurzfristige Glukosevariabilität ein sehr starker Risikofaktor für Hypoglykämien. Sowohl bei an Diabetes mellitus Typ 1 als auch bei an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankten Patienten hängt die Frequenz der Hypoglykämien mit der Zunahme der Glukosevariabilität zusammen. Kann durch therapeutische Interventionen die Glukosevariabilität wieder gesenkt werden, so können direkt auch die Häufigkeit und Ausprägung von Hypoglykämien wieder reduziert werden. Sowohl in der CONCEPTT- als auch in der DIAMOND-Studie konnte dies belegt werden. Die Applikation von kontinuierlichen Glukosemonitoringsystemen reduziert die Glukosevariabilität und bewirkt eine direkte Reduktion der Hypoglykämiefrequenz. Dennoch ist derzeit nicht eindeutig geklärt, ob die gesteigerte Glukosevariabilität eine Folge von häufigen Hypoglykämien oder ob die Zunahme der Glukosevariabilität in weiterer Folge ursächlich für die Hypoglykämiefrequenz ist.
Im Gegensatz zur kurzfristigen Tag-zu-Tag-Glukosevariabilität spiegelt die längerfristige Glukosevariabilität einen unterschiedlichen Aspekt von Störungen des Glukosemetabolismus wider und konnte in retrospektiven Analysen der VADT-Studie mit kardiovaskulären Ereignissen in Verbindung gebracht werden.

Resümee

Zusammenfassend ist die Glukosevariabilität aufgrund moderner Messmethoden zusehends in den Fokus gerückt und stellt gemeinsam mit weiteren Parametern mittlerweile eine weitere Säule der Therapiemodifikation dar. Hohe Glukosevariabilität ist maßgeblich an das Hypoglykämierisiko gebunden und stellt sicherlich auch einen kardiovaskulären Risikofaktor dar, wobei diesbezüglich noch kaum randomisiert kontrollierte Studien vorliegen.