Pandemie: Vergrößerungsglas für Problembereiche

Die Corona-Pandemie bedeutet eine hohe psychosoziale Belastung für weite Teile der Bevölkerung, aber nicht für alle im gleichen Ausmaß, für manche Gruppen mehr und für kleine Subgruppen auch gar nicht.

Ein Interview mit Dr. Georg Psota, Chefarzt des PSD-Wien; Leiter des Psychosozialen Krisenstabes Wien

(Das Interview führte: Peter Lex)


Schon zu Beginn des ersten Lockdowns, als die möglichen negativen psychosozialen Folgen in der öffentlichen Diskussion noch ein Randaspekt waren, hat die Stadt Wien den Psychosozialen Krisenstab etabliert: Was waren die Beweggründe und Zielsetzungen?

Dr. Georg Psota: Schon im März 2020 war vielen klar, dass mit der Pandemie auch eine gravierende kollektive psychosoziale bzw. psychische Belastungssituation – ich hatte damals schon den Begriff der „psychosozialen Pandemie“ dafür geprägt – verbunden sein würde. Das war auch das Motiv zur Errichtung des Psychosozialen Krisenstabes durch die Stadt Wien auf Initiative von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker. Die Zielsetzung war, dass ein Team aus entsprechend versierten ExpertInnen (Tab. 1) als Think-Tank Ideen liefert, um einerseits in gesundheitspolitischen Akutmaßnahmen auch das psychosoziale Momentum zu reflektieren, und andererseits, um der absehbaren längerfristigen psychosozialen Belastung rechtzeitig etwas entgegenzusetzen.

Mittlerweile wurde eine Vielzahl an Untersuchungen bzw. Daten zum Ausmaß der psychosozialen Belastung durch COVID-19 publiziert: Ihr Resümee dazu, speziell für den lokalen Kontext hier in Österreich?

Es wurde zwar eine Menge an Daten publiziert – international und auch in Österreich –, allerdings sind das zum größten Teil Telefon-Surveys, also keine Prävalenzuntersuchungen zu psychischen Erkrankungen mit umfangreichen Kohorten wie etwa die schon vor einiger Zeit durchgeführte Studie von Prof. Johannes Wancata in Österreich. Deshalb können wir auch keine wirklich validen Aussagen zu Prävalenzänderungen bzw. -steigerungen im vergangenen kurzen Zeitraum machen.
Trotzdem lassen qualitativ gute Umfragestudien wie etwa die SORA-Studie oder die Studie der Donau-Universität Krems eine aufschlussreiche Momentaufnahme zu einer Reihe von psychischen Befunden zu: Dabei kommt – wenig überraschend – heraus, dass Corona den Menschen natürlich einen Riesenstress bereitet und bestimmte Symptome im Sinne einer Akutbelastungsreaktion verstärkt vorhanden sind: etwa Schlafstörungen, Ängste generell, Zukunftsängste im Besonderen oder innere Unruhe. Die Corona-Pandemie erzeugt also psychosozialen Stress für weite Teile der Bevölkerung, aber nicht für alle in gleichem Ausmaß und für kleine Subgruppen auch gar nicht: Um ein Beispiel aus der Psychiatrie zu nennen, erlebt etwa ein Teil der Patienten mit sozialer Phobie die Einschränkung der Sozialkontakte naturgemäß nicht als Änderung ihrer bisherigen Situation. Menschen, die den Rückzug prinzipiell brauchen, sind weniger betroffen.

Welche Personengruppen leiden in dieser Krise besonders unter der psychosozialen Belastung?

Wie schon erwähnt sind die Jüngeren – entgegen mancher medialer Darstellung nimmt der Großteil der jungen Menschen große Rücksicht – besonders von den Einschränkungen betroffen. Eine zweite Gruppe sind Menschen, die vorher bereits gesundheitlich, egal ob körperlich oder psychisch, angeschlagen waren. Auch für jene mit sozial schlechterer Ausgangsposition, beengten Wohnverhältnissen, fehlender beruflicher bzw. finanzieller Absicherung, im Extremfall Alleinerzieherinnen in Home-Office-Situation – also letztlich alle unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen – wird eine ohnehin problematische existenzielle Situation durch die Krise aggraviert.

Aus psychiatrischer Sicht haben auch PatientInnen mit schweren psychischen Erkrankungen, die eine im Lockdown-Kontext kaum aufrechtzuerhaltende tagesstrukturierende Begleitung benötigen, unter den Einschränkungen zu leiden. Es heißt zudem, dass verschiedene sozialpsychiatrische Betreuungsangebote überhaupt geschlossen wurden, also nicht nur während Lockdownbedingungen, und das ist dann schon eine deutliche Verschlechterung der Versorgungsbedingungen für eine spezifische Gruppe, die ohnehin wenig Zuwendung hat. Ganz aktuell gibt es dazu eine Studie von Prof. Katschnig, die hier sicher ein klares Untersuchungsergebnis liefern wird.

Eine Gruppe, die in Untersuchungen kaum präsent war, sind alte Menschen in Pflegeeinrichtungen. Diese leiden besonders unter Einsamkeit allein durch den eingeschränkten sozialen Austausch in der Institution aufgrund der Corona-Vorgaben, durch den notgedrungen reduzierten Kontakt mit der Familie wird dies noch potenziert. Hier wären natürlich Ersatzangebote zum Face-to-Face-Austausch in Form von verstärkter telekommunikativer Kontaktaufnahme über Telefon oder Videochats, so sie individuell realisierbar sind, hilfreich und sollten von Seiten der Betreuungseinrichtung gefördert und unterstützt werden. Demenzkranke hingegen leiden unter der Corona-Situation in Relation offenbar weit weniger, aber stellen vor allem in der Kombination COVID-positiv und gleichzeitig demenzbedingtes „wandering“ eine extrem schwierig zu betreuende Klientel dar. In diesem Kontext ist es wichtig, zu betonen, dass auch die Profis im Gesundheitsbereich und besonders die Betreuenden in Pflegeheimen in dieser Situation massivem Druck ausgesetzt sind.

Empfehlungen zu Gegenmaßnahmen bzw. präventiv wirksame psychosoziale Maßnahmen müssen also entsprechend differenziert auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Gruppen abgestimmt werden. Allerdings kommt erschwerend hinzu, dass es kaum möglich ist, zu entscheiden, welche speziellen Gruppen bei entsprechenden Empfehlungen oder Maßnahmen zu priorisieren wären.

In Ihrer Arbeit für die Psychosozialen Dienste Wien verfügen Sie über einschlägige Expertise. Was empfehlen Sie generell zum guten Umgang mit solchen kollektiven Bedrohungsszenarien?

Es hat durchaus auch den Stellenwert einer wichtigen Empfehlung, dass wir zuallererst nicht leugnen sollten und bekennen müssen, dass wir alle so etwas noch nicht erlebt haben (Tab. 2) – auch für mich als Experten ist es die erste Pandemie. Dazu gehört auch der öffentlich zu kommunizierende Konsens, dass diese Situation für die Gesellschaft insgesamt bedrohlich und deshalb auch nur gemeinsam bewältigbar ist. Der Schlüsselbegriff ist hier solidarisches Handeln – die rasche Verfügbarkeit einer Impfung etwa wäre undenkbar ohne weltweit vernetztes wissenschaftliches und technisches Know-how, und die Umsetzung einer effizienten Strategie bedarf einer über alle Bereiche akkordierten Abstimmung des gewaltigen personellen und logistischen Aufwandes bis hin zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der Impfbereitschaft in der Bevölkerung – dazu braucht es uns alle gemeinsam.

Eine weitere Empfehlung zielt auf eine gute Kommunikation, die als solche auch präventives Potenzial freisetzen kann. Um dem Bedarf an niederschwelliger Entlastung entgegenzukommen, haben wir als Psychosozialer Krisenstab etwa das Angebot einer so genannten Corona-Sorgenhotline vorgeschlagen, welche die Stadt Wien dann auch realisiert hat – bewusst in diesem Wording gewählt, um niemand außen vor zu lassen, weil nicht jeder bei einer „psychisch“ oder psychiatrisch definierten Hotline anrufen will. Derzeit registrieren wir an die 40 Anrufe pro Tag.

Wie hat sich die Krise im Rückblick der vergangenen Monate auf die Inanspruchnahme der Betreuungsangebote der Psychosozialen Dienste Wien ausgewirkt?

Als PSD-Wien sind wir insofern in einer Sondersituation, als wir in erster Linie für Menschen da sind, die eine komplexe Behandlung brauchen. Der Bedarf zur Versorgung von Menschen mit schwereren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenien oder schweren bipolaren Störungen ist zwar nicht gestiegen, wir sind aber trotzdem einem stärkeren Druck ausgesetzt, wir mussten die Teams coronabedingt auch splitten bzw. die Therapiegruppen verkleinern, und die Einhaltung verschiedenster hygienischer Regeln macht die Handlungsabläufe um einiges mühevoller – für die PatientInnen ebenso wie für uns. In bestimmten Bereichen wie etwa dem Krisentelefon sehen wir eine deutlich höhere Inanspruchnahme, aber auch dort nicht stetig, sondern in Phasen.

Welche persönlichen Coping-Strategien für eine solche Krisensituation empfehlen Sie?

Generell wirkt diese Krise wie ein Vergrößerungsglas für Problembereiche. Räumliche und situative Verdichtung etwa durch beengte Wohnverhältnisse verschlimmern unter anderem Beziehungskrisen – internationale Daten verweisen auf erhöhte Scheidungsraten.
Zum Zweiten hängt die psychische Gesundheit sehr stark mit der physischen zusammen. Wenn wie uns schlechter um unsere körperliche Gesundheit kümmern können, belastet uns das auch psychisch.
Ungünstig ist in so einer Zeit, den Alkohol-, Suchtmittel- oder Kalorienkonsum zu steigern, zu wenig Bewegung zu machen oder ständig online auf der Jagd nach schlechten Nachrichten zu sein. Als Anti-Burn-out-Strategie empfiehlt es sich entsprechend, auf ausreichend Schlaf zu achten, genug Bewegung zu machen, stressreduzierende Routinen und Strukturen auch im Home-Office aufrechtzuerhalten bzw. zu schaffen, auch Nachrichten sollten in strukturierter Form konsumiert werden.
„Burn-in-Gefährdete“, die unter dem Wegfall von Arbeit oder bisher möglichen Freizeitbeschäftigungen leiden, könnten etwa im Rahmen der Pandemie-Einschränkungen auf mögliche Hobbys umsatteln. Auch zur Krisenbewältigung kann man auf das Potenzial individueller Gesundheitsressourcen zurückgreifen. Ich erinnere an das von Prof. Michael Musalek propagierte „Schöne“ als wichtigste individuelle Gesundheitsressource zur Erhöhung der psychischen und in der Folge körperlichen Resilienz – auch um kulturellen Interessen nachzugehen, gibt es eine Fülle an neuen telekommunikativen Möglichkeiten.

Welcher Aspekt der „Corona-Krise“ wird die psychische Gesundheit der Bevölkerung nach Ihrer Einschätzung am nachhaltigsten belasten?

Am folgenreichsten schätze ich das so genannte Social Distancing ein, das widerspricht zutiefst unserer Natur. Und gerade in Zeiten der Bedrohung brauchen wir als Menschen soziale und natürlich auch körperliche Nähe, und deshalb trifft uns diese Einschränkung wirklich besonders schwer.
Der eingebürgerte Begriff des Social Distancing zur Infektionsvorbeugung ist insofern unglücklich gewählt, da es eigentlich nur um körperliche Distanz geht. Die mit Lockdown-Maßnahmen einhergehende physische Distanzierung können wir aber bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Wann, wenn nicht in unserer aktuellen Situation sollten wir uns glücklich schätzen, dazu jede Menge an neuen Kommunikationstechnologien erfunden zu haben, die wir jetzt produktiv nützen können, um trotz körperlicher Distanz soziale Nähe zu schaffen, auch wenn sie in dieser Form keinen vollwertigen Ersatz für eine Face-to-Face-Begegnung darstellt.

Aus sozialpsychiatrischer Sicht: Welche Maßnahmen sind nötig, um die Akzeptanz und damit Mitarbeit der Bevölkerung bei längerfristig notwendigen und den persönlichen Freiraum einschränkenden Vorbeugungsmaßnahmen zu fördern?

Zu dieser Frage haben wir als Krisenstab eine Empfehlung* geschrieben. Das Wichtigste ist eine gute und klare Kommunikation: Welche Schutzmaßnahmen machen wir, aus welchem Grund und mit welcher Dringlichkeit? Als Botschaften, die für Lockdowns wichtig sind, etwa: „Bleibt zu Hause – das schützt unsere Gesundheitsversorgung und rettet Leben!“ Hier könnte man auch konstruktiv als tagesaktuelle Kritik anmerken, dass man sich die Kommunikation der Anti-Corona-Beschränkungen im zweiten Lockdown im Spätherbst medial durchaus klarer, nicht so divers und logisch konsistenter gewünscht hätte.

Was bringt die Zukunft?

Sicher werden wir in den nächsten Jahren nicht weniger an psychischer Erkrankung in der Bevölkerung vorfinden, sondern nach meiner Einschätzung tendenziell eher mehr – obwohl ich für diese Prognose derzeit noch nicht auf klare Daten zurückgreifen kann. Wir müssen aber nach unserer Expertise einfach davon ausgehen, dass eine Situation wie die derzeitige die psychische Gesundheit nicht nur kurz-, sondern auch längerfristig beeinträchtigen kann. Umso wichtiger wären deshalb auch das Aufrechterhalten bzw. der Ausbau von durch die öffentliche Hand finanzierten Maßnahmen, um präventiv und behandelnd dagegenzuhalten.


*Psychosozialer Krisenstab Wien (PSKS): Empfehlung 6: „Das Virus in Schach halten“: Psychosoziale Empfehlungen zur Verbesserung der Akzeptanz von längerfristigen Covid-19-Vorbeugungsmaßnahmen, 4. 6. 2020
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